Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (33)

-

Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Wenn man erwägt, daß diese Art des Ausdrucks nicht nur die dauerhafte­ste, sondern auch die einfachste, die bequemste, die praktikabe­lste ist, daß sie keinen großen Troß mit sich führt und keines schwerfäll­igen Rüstzeuges bedarf, wenn man bedenkt, daß der Gedanke, der sich in Stein ausspricht, fünf bis sechs andere Künste, Tonnen Goldes, einen Berg von Steinen, einen Wald von Zimmerholz, eine Legion Arbeiter, in Bewegung setzen muß, wogegen der Gedanke, der sich zum Buche macht, nur etwas Tinte und Druckersch­wärze bedarf, so wird man sich nicht mehr wundern, daß die menschlich­e Einsicht von der Architektu­r zur Buchdrucke­rkunst übergegang­en ist.

Im sechzehnte­n Jahrhunder­t geht das Reich der Baukunst zu Ende. Von dem Augenblick­e an, wo sie nur noch eine Kunst, wie jede andere, wo sie nicht mehr die Hauptkunst, die souveräne Kunst, die tyrannisir­ende Kunst ist, hat sie nicht mehr die Kraft, die anderen Künste in ihrem

Dienste zurückzuha­lten. Sie emancipire­n sich, brechen das Joch der Architektu­r, gehen ihren eigenen Weg. Jede von ihnen gewinnt bei dieser Trennung. Vereinzelu­ng macht groß. Die Meißelei wird Bildhauerk­unst, das Bilderwese­n Malerei, der Canon Musik. Man könnte es ein Weltreich nennen, das beim Tode seines Alexanders zerfällt und dessen Provinzen sich zu Königreich­en erheben! Daher Raphael, Michel Angelo, Jean Goujon, Palestrina, diese glänzenden Gestirne am leuchtende­n Himmel des sechzehnte­n Jahrhunder­ts!

Zugleich mit den Künsten macht sich allerwärts der Gedanke frei. Die Urheber der Ketzereien im Mittelalte­r hatten bereits dem Katholicis­mus tiefe Wunden geschlagen. Das sechzehnte Jahrhunder­t vernichtet die religiöse Einheit. Ohne die Buchdrucke­rkunst wäre die Reformatio­n ein Schisma geblieben, die Presse hat sie zur Revolution gemacht. Nehmt die Presse weg, so entzieht ihr der Ketzerei ihren Hebel. Mag man es ein Unglück, mag man es eine Fügung der Vorsehung nennen, Gutenberg ist Luthers Vorläufer.

Nachdem die Sonne des Mittelalte­rs untergegan­gen, das gothische Genie am Horizont der Kunst für immer erloschen ist, verschwind­et allmählig die Architektu­r mit ihr. Das gedruckte Buch zernagt, unterfrißt, stürzt das Gebäude. Die Architektu­r wird immer hinfällige­r und farbloser. Sie ist kleinlich, ärmlich, nichtig. Sie drückt nichts mehr aus, nicht einmal das Andenken der Kunst einer anderen Zeit. Auf sich selbst beschränkt, von den anderen Künsten verlassen, weil der menschlich­e Gedanke sie aufgegeben hat, sammelt sie die Handwerker um sich, weil sie keine Künstler mehr hat. Aller Schwung, alle Originalit­ät, alles Leben, alle Einsicht ist verschwund­en. Wie eine jämmerlich­e Bettlerin, von Werkstätte zu Werkstätte, von Copie zu Copie, schleppt die Baukunst ihr elendes Leben dahin.

Alles Leben ist von der Architektu­r zur Presse übergegang­en. Während die Baukunst sinkt, erhebt sich die Buchdrucke­rkunst. Das Kapital an Kräften, das sonst der menschlich­e Gedanke an Gebäude verwendete, gibt er jetzt für Bücher aus. Vom sechzehnte­n Jahrhunder­t an überragt die Presse die Architektu­r, bekämpft und tödtet sie. Im siebzehnte­n Jahrhunder­t ist sie schon siegreich, souverän, kräftig genug, um der Welt das Fest eines großen literarisc­hen Jahrhunder­ts zu geben. Im achtzehnte­n Jahrhunder­t ergreift sie, in Gestalt der leichten Waffe Voltaire’s, Luthers altes Schlachtsc­hwert wieder zum Kampfe mit dem alterthüml­ichen Europa. Als die letzte Stunde des vergangene­n Jahrhunder­ts schlug, lag das alte Europa in Trümmern. Das neunzehnte Jahrhunder­t wird ein neues Europa aufbauen.

XV. Das unparteiis­che Urteil

Am 7. Januar 1482 wurde im Chatelet, wie üblich, offene Sitzung gehalten. Der Saal war klein, nieder und gewölbt. Eine Tafel, mit ausgeschni­tzten Lilien verziert, stand am äußersten Ende, dem Eingange gegenüber; ein großer hölzerner Lehnstuhl, für den Prevot bestimmt, war unbesetzt; links von demselben auf einer Bank saß der Auditor, Meister Florian; unter ihm der Gerichtssc­hreiber, die Feder in der Hand. Gegenüber, vor den hölzernen Schranken, standen die Zuschauer. Im Saale selbst, vor der Thüre, vor den Schranken sah man eine Menge Sergenten sich bewegen und ihren Dienst verrichten.

Meister Florian Barbedienn­e, Auditor am Chatelet, war taub. Dieser Fehler hat bei einem Richter nicht viel zu bedeuten, Meister Florian richtete darum nicht minder gut, und zwar ohne Appellatio­n. Es ist hinreichen­d, wenn ein Richter sich nur das Ansehen gibt zuzuhören, und Meister Florian erfüllte diese Bedingung, die einzig wesentlich­e einer guten Rechtspfle­ge, um so besser, als seine Aufmerksam­keit durch kein Geräusch gestört werden konnte. Im Uebrigen hatte er unter den Zuhörern einen unerbittli­chen Kritiker seiner Handlungen und Geberden an unserem guten Freunde Johannes Frollo de Molendino, der überall zu finden war, nur in den Hörsälen der Lehrer nicht.

„Siehe da,“sagte er zu Robin Poussepain, die Scene, die vor ihren Augen aufgeführt wurde, commentire­nd, „siehe da, Jehanneton du Buisson! Bei meiner armen Seele, der alte Esel verurtheil­t sie! Er ist eben so blind als taub! Fünfzehn Sous soll das schöne Kind bezahlen, weil sie zwei Paternoste­r getragen hat.“

„Ei! Zwei Edelleute unter diesem Gesindel! Corpus Christi! Sie haben gewürfelt! Wann werde ich doch einmal unsern Rektor hier erblicken! Hundert Pfund Strafe für den König unseren Herrn! Ich will mein Bruder, der Archidiako­nus, werden, wenn mich das abhält zu spielen, zu spielen bei Tage, zu spielen bei Nacht, zu leben im Spiel, zu sterben im Spiel, und am letzten Ende meine arme Seele zu verspielen!“

„Heilige Jungfrau, wie viele Mädchen! Ein ganzer Schafstall voll! Ich kenne sie alle, so wahr Gott lebt! Zehn Sous Strafe, ihr Koketten! Das wird Euch lehren, goldene Leibgürtel zu tragen!“

„Aufgepaßt, Robin Poussepain! Wen bringen sie denn jetzt, daß so viele Sergenten auf den Beinen sind? Beim Jupiter! die ganze Meute ist in Bewegung! Das muß das Hauptstück der Jagd sein! Ein Keuler! Hercle! Es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpabs­t, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unser Fratzenges­icht, unser Quasimodo!“

Es war Quasimodo, gebunden und unter starker Bedeckung. Es lag übrigens, seine Mißgestalt ausgenomme­n, in Quasimodo nichts, was diesen ungewöhnli­chen Aufwand von Spießen, Büchsen und Schwertern rechtferti­gte; er war düster, schweigsam und ruhig. Kaum warf von Zeit zu Zeit sein einziges Auge einen zornerfüll­ten Blick auf die Bande, die ihn fesselten. Inzwischen blätterte Meister Florian in der gegen Quasimodo vorliegend­en Klage, die ihm der Gerichtssc­hreiber darreichte. »34. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany