Stromstöße gegen „Kriegszitterer“
Die Psychiatrie setzte im Ersten Weltkrieg rabiate Methoden ein, um traumatisierte Soldaten wieder auf die Beine zu bringen. Ein Irseer Tagungsband bringt Licht ins Dunkel
„Den Krieg gewinnt, wer die stärkeren Nerven hat.“So hieß es in der Wilhelminischen Ära. Als aber der große Krieg 1914 begonnen hatte, sahen sich die Militärärzte vor völlig neuartige Herausforderungen gestellt: Massenhaft kamen aus dem Stahlgewitter der Front „Kriegszitterer“zurück und erschreckten die Bevölkerung durch ihre jämmerliche Erscheinung. Auf die Psychiatrie im Ersten Weltkrieg blickt nun ein Tagungsband der Schwabenakademie Irsee. Beiträge aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Großbritannien und Italien ziehen den Fokus weit auf. Zugleich leuchten sie die Verhältnisse in der näheren Region aus – in Kaufbeuren-Irsee, Günzburg, RavensburgWeissenau und Reichenau.
Wie sollte man mit Männern umgehen, die so gar nicht mehr dem Bild eines kühnen Recken entsprachen? Unter Psychiatern entbrannte ein heftiger Streit, der im Münchner Kriegskongress im September 1916 kulminierte. Hermann Oppenheim, der Nestor der Zunft, hatte die Störungen auf körperliche Beeinträchtigungen etwa durch Detonationen und Verschüttungen zurückgeführt und sie traumatische Neurosen genannt. Andere Psychiater sprachen indes von einer hysterischen Reaktion und unterstellten den Patienten einen unzureichenden Willen, den Frontalltag auszuhalten. Daraus leiteten sie einige „brüske Methoden“ ab, etwa Zwangsexerzieren oder die „Kaufmann-Kur“, worin der Nervenarzt kräftige Stromstöße verabreichte und Heilung in scharfem militärischem Befehlston verlangte.
Damit nährte sich auch das Vorurteil, der Kranke sei eigentlich ein Simulant, der sich durch sein Verhalten eine Rente erschleichen will. Karl Wilmanns, der spätere Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, trieb die geheilten Kriegsneurotiker zu Arbeitseinsätzen, um „zu verhindern, dass sie sich von Neuem in die Wunschneurose flüchteten“. In der Heil- und Pflegeanstalt Reichenau im Bodensee, die Wilmanns leitete, war es immerhin landwirtschaftliche Arbeit.
Wenigstens für die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee lässt sich nicht erhärten, dass die traumatisierten Soldaten einem „Hungersterben“ausgeliefert worden wären. Obwohl die Versorgungslage mit Lebensmitteln im Lauf des Krieges immer prekärer wurde, kann Corinna Malek keine Schlechterstellung der Soldaten gegenüber zivilen Patienten feststellen. Selbst im Hungerwinter 1917 sei die tägliche Mindestversorgung mit 2000 Kalorien nicht unterschritten worden.
Eine gewisse Zweiteilung der militärischen Dienstgrade gab es. Tendenziell diagnostizierten die Psychiater bei Offizieren eher eine nervöse Erschöpfung oder Neurasthenie als Hysterie. Offiziere genossen in den Lazaretten „sehr viel mehr Freiheiten“, urteilt Gudula Gahlen. Als Beleg, dass die Ärzte ihren Offizierspatienten einen deutlichen Vertrauensvorschuss gewährten, liest die Forscherin, „dass sie kaum einen Verdacht auf Simulation äußerten“.
Vor allem nach dem Krieg sollte diese Unterstellung eine große Rolle bei der Verrentung spielen. Ständig gerieten psychisch Kriegsversehrte in den Verdacht, sich vor einer Wiederaufnahme von Arbeit zu drücken. Ihre Glaubwürdigkeit wurde bezweifelt. Medizinische Begutachtungen wurden als beschämend und erniedrigend erfahren. „Die Auseinandersetzungen mit den Versorgungsbehörden dauerten für etliche Kriegsbeschädigte und ihre Familie jahrelang“, so Stephanie Neuner.
Der „Rentenkampf“stellte eine schwere Belastung für sie dar. Es kam zu Suiziden. Noch 1938 schrieb Arnold H. an Adolf Hitler, es gehe ihm darum, „dass meine Krankheit nur auf die Folgen meiner nachweisbar im Felde erlittenen Verschüttung und eines Nervenschocks zurückgeführt wird. Eine andere Entscheidung werde ich nie anerkennen“. Tief saß die Enttäuschung, im Dritten Reich vom Frontkämpfer zum Volksschädling degradiert worden zu sein. Nach einer Auswertung der Rentenakten kehrten lediglich 40 Prozent der psychisch Kriegsversehrten wieder in den Beruf zurück, den sie vor 1914 ausgeübt hatten. Vielfach übten sie weit schlechter bezahlte und unqualifizierte Tätigkeiten aus – etwa als Hilfsarbeiter oder Laufburschen.
In der Psychiatrie hieß es später, der Weltkrieg sollte für den wissenschaftlichen und therapeutischen Fortschritt nicht umsonst gewesen sein. Insbesondere die Hypnose zur Behandlung von Hysterie habe „im Kriege die größten Erfolge erzielt“. Auf die robusteren Therapien mit Stromschlägen und Militärdrill wollte man in der Republik indes nicht mehr zurückgreifen.
Psychiatrie im Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer. UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, 458 S., 49 ¤