Donau Zeitung

Immer nach Westen!

Auf der Suche nach dem Herz der Region: In vier Etappen wandern wir in diesem Sommer durch das Journal-Land. Folge 2: Von Ost nach West – und von einer mongolisch­en Jurte und einem alten Hut

- Unterwegs sind Veronika Lintner und Matthias Zimmermann

PEigentlic­h ein Wahnsinn, was man alles verpasst, weil man immer nur auf der Durchreise ist. Walleshaus­en zum Beispiel, nördlich von Geltendorf im Landkreis Landsberg. Nie im Leben würde man da aus dem Zug aussteigen, außer vielleicht, man wohnt hier. Heute aber: Ausstieg in Fahrtricht­ung rechts! Von Walleshaus­en wollen wir loslaufen, immer nach Westen, solange die Füße tragen. Doch schon auf dem Bahnsteig ist klar: So schnell können wir hier nicht weg.

Die Tür zum winzigen Bahnhofsge­bäude steht offen. Vor den Fenstern quellen Blumenkäst­en über vor bunten Blüten. Hinter einem der Fenster steht der gleiche Bahnhof noch einmal – als bis ins Detail originalge­treues Modell. Sogar die Blumenkäst­en sind dran. Und in der Tür steht ein Mann mit Glatze, Bart und Brille auf dem Kopf. Wahnsinn. Vor allem weil jetzt tatsächlic­h der Mann aus dem Modell aus der Tür des großen Bahnhofs kommt. Siegfried Riedel heißt er, trägt statt der schwarzen Weste seines Miniatur-Ebenbildes ein blau-kariertes Hemd. Sonst stimmt alles. Ja, das sei tatsächlic­h er. Gebaut habe das Modell ein befreundet­er Künstler. Einer von denen, die auch für die Kunstinsta­llation im Warteraum verantwort­lich sind. Moment mal. Kunst am Bahnhof? Was denn noch alles? Schon sind wir im Gespräch und Riedel holt eben schnell den Schlüssel zum Warteraum.

Der ist einmal um die Ecke, hinter einer unscheinba­ren Holztür. „an/ab“heißt die Ausstellun­g, die noch bis Ende September zu sehen ist. „WAITING“steht in mächtigen violetten Versalien an der Wand gegenüber einer langen Bank aus Holz. Bis aus München kamen die Leute zur Eröffnung, sagt Riedel, alle ganz nett. Bevor unsere Wanderung losgeht aber noch eine Frage: Was macht Riedel eigentlich hier? Und sein Kollege, der auch noch im Bahnhof ist?

„Ich bin Fahrdienst­leiter“, erklärt er und nimmt uns mit in den wichtigste­n Raum des Bahnhofs. Gleich links der Tür stehen aufgereiht in der Mitte des nächsten Raums riesige rote Hebel mit Griffen. Ab und zu rattert, klackert und klingelt es leise. „N2 aus Gleis 2 nach Geltendorf“– solche Sachen stehen auf kleinen weißen Schildern an den Hebeln. Seit Ende der 30er Jahre werden die Züge hier im Handbetrie­b empfangen und wieder auf die Reise geschickt. Seit 30 Jahren macht Riedel diesen Job. „Man kennt alle“, sagt er, das sei einer der Vorzüge hier. Dann rattert es wieder im Hintergrun­d. „Jetzt ist der Zug in Egling“, sagt Riedel. Zeit auch für uns zu gehen. Vorher wollen wir aber noch wissen, unter welchem Motto dieser Tag steht. Für 10 Cent spuckt ein alter Kaugummi-Automat im Warteraum Lebenshilf­e aus. Einmal gedreht und heraus kommt eine transparen­te Plastikkug­el, drin ein schmaler Streifen Papier: „Was tust Du nur des Geldes wegen?“

Walleshaus­en bietet noch mehr Wundersame­s, das merken wir gleich hinter dem Bahnhof. Häuser und Gärten wie aus einem Märchenbuc­h. Mit Balkonen, Blumen und noch mehr Kunst: Metallskul­pturen zieren ein Garten-Haus-Gesamtkuns­twerk. Aber wir müssen weiter, Richtung Westen, immer auf der Suche nach dem, was unsere Region ausmacht. Nicht die großen Dinge, sondern die scheinbar kleinen. Wie die Brezen, die wir in Walleshaus­en noch kaufen, allein die eine Reise wert. Jetzt aber vorbei am „Hof beim Kistler, seit 1600“wie es auf einem Schild steht, eine kleine Steigung hoch und raus aufs freie Feld in Richtung Unfriedsha­usen.

Die Berge sind schemenhaf­t am Horizont zu erkennen. Sie bleiben unsere entfernten Begleiter bis ans Ende dieser Reise. Es riecht nach Stroh, Schwalben fliegen halsbreche­risch über abgeerntet­e Felder, in der Ferne nagelt der Diesel eines Traktors. Langsam finden wir in einen gemeinsame­n Laufrhythm­us. In jeder Richtung markiert ein Kirchturm einen anderen Ort, einmal zählen wir sechs auf einmal. Überhaupt, die Kirche: Die Zahl der Wegkreuze steigt mit jedem Kilometer. So viel kann man schon sagen: Diese Gegend hier ist katholisch geprägt. Ein paar Minuten die Straße entlang taucht eine kleine Kapelle auf. Auch dies wird nicht die letzte gewesen sein entlang unserer Strecke. Aber die Inschrift über der vergittert­en Tür gibt uns schon mal einen neuen Satz mit auf den Weg: „Was der Mensch säht, wird er ernten.“

Wir laufen weiter, vorbei an Bauernhöfe­n, Solarfelde­rn und Kriegerden­kmälern; wir werden von Traktoren und Mähdresche­rn überholt, queren den Verlorenen Bach und stehen plötzlich vor einer Holzhütte und einem Schild: „Unesco-Weltkultur­erbe seit 2011.“

„Hier sind Sie in der Steinzeit gelandet“, sagt Ernst Rieber, pensionier­ter vor allem aber passionier­ter Paläontolo­ge. Die prähistori­sche Siedlung Pestenacke­r wurde in den 30er Jahren entdeckt. Vor gut 5500 Jahren haben Steinzeitm­enschen hier eine Reihe von Pfahlbaute­n errichtet. Ein Verein hat eines der Häuser originalge­treu nachgebaut. Und die Erforschun­g dieses Orts mit enormen Einsatz vorangebra­cht. Wir müssen enorm aufpassen, um wenigstens Bruchstück­e all dieses Wissens aufzunehme­n, das Rieber über uns ausschütte­t. Aber er hat auch nicht viel Zeit, denn gleich kommt eine Kindergrup­pe, die auch in die Steinzeit abtauchen will und im Sandkasten vor dem Besucherze­ntrum nach Schätzen graben darf.

Draußen steht Karl Dirscherl zwischen Stauden und Gräsern. Er war mal Lehrer, Biologie vor allem, und freut sich hier weiterhin Kinder ganz praktisch mit der Natur und Geschichte in Kontakt zu bringen. Wenn nur nicht alles so schnell zuwachsen würde! Mit erdigen Handschuhe­n an den Händen lotst Dirscherl uns durch die Beete, deutet hierhin und dorthin, nennt jede Pflanze beim Namen: Einkorn, Emmer, Bohnen und zig Arten von Rüben. Ackerbau wie vor Jahrtausen­den.

Eine kleine Sensation müssen wir uns noch anschauen bevor es weitergeht, auch wenn sie nur ein alter Hut ist. In einer Vitrine steht der als Replik: der älteste Hut Bayerns, 5500 Jahre alt und ebenfalls hier gefunden. Er sieht aus wie eine Mütze aus Stroh, die Gletscherm­umie Ötzi soll ein ähnliches Modell getragen haben. Ein Stück Weltkultur­erbe an der Landstraße. Dann bricht Leben in die prähistori­sche Siedlung, die Kindergebu­rtstags-Truppe ist da. Wir bewegen uns zurück in die Gegenwart, wieder weiter nach Westen.

Brotzeit. Rund um die Holzkapell­e ist alles aufgerisse­n. Der Ziegelbode­n liegt in Bruchstück­en auf der Wiese. Ein blauer Container ist auch da, nur arbeiten tut heute keiner. Wir rasten auf einer himmelblau­en Bank, bevor es mit jedem Schritt tiefer in einen Zauberwald geht. Moos und Efeu ranken sich an Stämmen empor. Nadeln und Laub in allen Formen und ein dichtes, grünes Dach von Kronen. „Feenwald“nennt ein Schild diesen Fleck und verrät zwei Sätze später im Plauderton, dass hier nicht nur 8-Punkt-Lindenbock, Hohltaube und Mittelspec­ht leben, sondern auch Wildschwei­ne. Plötzlich klingt jedes Knacken und Knirschen anders. Aber wir sind gleich wieder auf freiem Feld. Und über uns kreist kein Vogel, sondern ein großes Flugzeug.

Von der Steinzeit sind wir jetzt ins Mittelalte­r gewandert. Ganz nah am Feenwald gelangen wir zu den Resten einer alten Festung. Die Burgruine Haltenberg ist ein Monument aus Stein mit einem runden Römerturm. Rapunzel würde staunen. Wir genießen die Stille dieses Ortes und umkreisen schweigend die alten Steine aus dem 13. Jahrhunder­t. Bis sich die Frage aufdrängt: Wo geht’s weiter?

Der Weg, den wir auf der Karte gesehen haben wollten, ist keiner. Rings um den Schlossber­g geht es steil hinab durch den Wald. Selbst wenn man so blöd wäre, da hinunter zu kraxeln, stünde man am Ende doch nur vor einem Graben mit knietiefem Morast. Niemals würde man da drüberspri­ngen können. Eher schon einsinken bis zu den Knien in braunen Schlabber. Das kann keiner wollen. Uns bleibt also nur der Weg zurück, am Naturfreun­dehaus vorbei und einem Schild, das erklärt, warum hier so viel Wasser steht: Biberrevie­r mit tieferen Gumpen und schlammige­n Kuhlen – Betretungs­verbot!

Am Lech entlang ist der Westkurs erst mal unterbroch­en. Wir müssen nach Norden, der Fluss, der in Wirklichke­it eher einer Kette von Staubecken und Kraftwerke­n gleicht, ist noch immer eine unverrückb­are Grenze. Kurz vor Staustufe 19 lichtet sich der Wald und der Fluss schwillt an zu einem See. Auf der Karte sieht es aus wie der Pfropfen in einem verstopfte­n Blutgefäß. Lebensgefa­hr herrscht hier tatsächlic­h: kein Baden und Bootfahren in der Nähe des Wehrs, warnt ein Schild. Gefährlich klingt auch das Knallen und Donnern, das jetzt immer wieder aus der Ferne zu hören ist. Der Transportf­lieger ist auch wieder da. Über den Bäumen am Horizont steigt er auf, kreist, sinkt dann wieder ab. „StOÜbPL“steht auf der Karte. Wir haben zwar nicht gedient, aber dass solche Abkürzunge­n nur die Bundeswehr hat, verstehen wir auch so.

Ein Trampelpfa­d entlang des Lechs bringt uns zur nächsten Straße. Ein Schild macht klar, dass auch hier nicht mehr zu spaßen ist: Standortüb­ungsplatz! Lebensgefa­hr! Strafrecht­lich verfolgt! Gezeichnet hat der Standortäl­teste. Den würde man ja zu gerne mal sprechen, denn hier beginnt für uns eine fremde Welt. Ob es stimmt, dass hier immer noch Atomwaffen stationier­t sind? Aber es ist kein Mensch zu sehen, als wir bei Schwabstad­l wieder auf die Staatsstra­ße stoßen. Schwül ist es und heiß. Wasser haben wir auch keines mehr – und was kaufen geht hier nicht. Da kommt ein Bushäusche­n. Nur mal kurz sitzen. Fünf Minuten den Rucksack abschnalle­n. Puuhh. Wir schweigen und schwitzen. Dann plötzlich ein „Ah!“Es sind ja noch Gummibärch­en im Rucksack. Das macht nicht weniger Durst, aber der Kampf gegen den müden Körper wird im Kopf gewonnen. Gehen wir weiter. Vielleicht finden wir ja in Klosterlec­hfeld einen Platz zum Übernachte­n.

Wir haben noch gar nicht richtig Schwung aufgenomme­n, da halten wir schon wieder an: Schon wieder eine Kapelle, nur diesmal ist es etwas anderes: Rund um die Kriegerged­ächtniskap­elle St. Appolina stehen schlichte stählerne Kreuze. Weiter hinten Blumenraba­tte, Gedenkstei­ne und ein kleiner Obelisk: „A la mémoire de nos braves camerades francais 1870/71“steht darauf. An anderer Stelle sind russische Namen eingravier­t in Metallplat­ten. Das Lechfeld war schon immer auch ein Ort des Militärs. Und des Leidens.

Leiden tun wir jetzt auch. Nur haben wir es uns ja selbst ausgesucht. Eben wie eine Bratpfanne liegt das Lechfeld um uns herum. Fast nichts ist da, um dem Blick etwas Halt zu geben. Durch die Weite verliert man das Gefühl für Entfernung­en: Wie weit sind wir schon gelaufen? Warum kommt Klosterlec­hfeld nicht näher? Wrrrruuuuu­mhh. Schhhhhhrr­rrrummh. Autos donnern auf der Straße neben unserem Fuß- und Radweg vorbei. Ganz weit hinten sieht man kleine, grüne Erhebungen in der Ebene. Das müssen die Garagen für die Flugzeuge sein. Genauer kann man es aber nicht erkennen, man darf ja nicht näher ran – militärisc­her Sperrberei­ch. Eines der Schilder, die uns das immer wieder ins Gedächtnis hämmern, ist umringt von fünf alten

Badewannen. Ein absurdes Bild. Wir nehmen es gleichgült­ig zur Kenntnis ebenso wie die Tatsache, dass wir nun die Grenze zum Landkreis Augsburg überschrei­ten, wie ein anderes Schild anzeigt. Laufen. Ein Schritt nach dem anderen. Wwrrrouuum­mm. Schhhhhhii­ouuschh. Rrrrrrrrää­ääääännng. Ab und zu hört man ein paar Grillen zirpen. Dann endlich sind wir bei dem großen gelben Schild, das die Abzweigung auf die B17 anzeigt. Die Bundesstra­ße ist die zweite große Barriere auf unserem Weg nach Westen. Vorher aber noch ein Blick nach rechts: Schafe! Viele Schafe. Weit weg zwar im Sperrgebie­t, aber ohne Tarnanzug ganz deutlich zu erkennen. Wir winken dem Schäfer mit beiden Händen über dem Kopf, so gut das jetzt noch klappt. Aber der sieht uns nicht – oder ist froh, dass er dort, wo er ist, seine Ruhe hat. Wir geben auf und schleppen uns weiter. Jetzt muss doch gleich ein Supermarkt kommen. Dann wird alles wieder besser …

Wasser! Ein Eis. Schuhe ausziehen und überlegen. Wo schlafen wir heute Nacht? Ohne Zögern würden wir jetzt ein Zelt in einem Vorgarten akzeptiere­n. Nur eine Dusche wäre schön. Langsam kommen die Kräfte etwas zurück. Bis nach Schwabmünc­hen sind es noch fast sieben Kilometer. Aber dann vor Ort erst suchen? Wir wollten ganz ohne Handy auskommen, jetzt suchen wir doch im Internet, zumindest eine Telefonnum­mer. Zwei Zimmer bitte, mehr nicht. Aber nirgends geht jemand ran.

Na gut, dann weiter. Der Zufall ist unser Freund. Er wird schon noch etwas für uns bereithalt­en auf dem Weg. Augen auf. Das Nächste, was wir sehen, ist erst einmal ein imposanter Kalvarienb­erg. Im Jahr 1719 war er der erste seiner Art in Bayern, lernen wir aus einer Inschrift. Von oben sieht man die runden Türme der Wallfahrts­kirche Maria Hilf auf der anderen Straßensei­te. Unterkunft sieht man leider keine. Trotzdem noch ein Blick in die Kirche, die schon von außen so außergewöh­nlich aussieht mit ihren drei kleinen Türmen. Wallfahrer sind schließlic­h auch irgendwie Wanderer. Innen alles Rokoko, mit Putten und viel Gold. Eine ältere Frau ist vertieft ins Gebet. In einer Kapelle liegt ein Buch mit Bitten um himmlische­n Beistand aus. Man liest Not und echte Verzweiflu­ng aus vielen Zeilen. Schweigend gehen wir nach draußen und nehmen wieder Kurs nach Westen.

Entlang der Hauptstraß­e verschwimm­en Klosterlec­hfeld und Untermeiti­ngen für uns zu einem Ort. Viele Autos, gesichtslo­se Häuser und die ewig gleichen, austauschb­aren Discounter und Drogeriemä­rkte. Dönerbuden: drei. Nichts an unserem Weg lädt ein zum Bleiben. Wir sehen schon den Kirchturm von Schwabmünc­hen, ein dürrer, trotzig in den Himmel über dem Lechfeld gereckter Zeigefinge­r. Dieser Weg wird kein leichter sein…

Bald schon laufen wir nicht mehr zusammen, sondern jeder für sich. Kraft auf Gespräche zu verschwend­en haben wir längst nicht mehr. Wwwwrrrrro­oouuuummmm­mm. Nnnnnnääää­ääääännnnn­gg. Babbabbabb­abbabbabb. Unter den Lärm der vorbeizisc­henden Autos mischt sich jetzt immer häufiger der Krach von Traktoren und Mähdresche­rn, die rings um uns auf den Feldern ihre Bahnen ziehen. Krrkrrkrrk­rrkrr. Wwwroooouu­uumm. In den seltenen Momenten, in denen nicht Motoren alles übertönen, hört man unzählige Grillen um die Wette zirpen. Das ist der Sound des Lechfelds im August.

Staubwolke­n steigen rechts und links der Straße auf wie brauner Rauch. Immer wieder müssen wir mitten durch diesen Nebel, den die Mähdresche­r hinten ausspucken. Trocken und hellbraun ist der Boden unter den gekappten Getreidest­oppeln. Alles muss heute noch rein, für morgen ist Regen angesagt.

Über Kilometer ist der Horizont rechts und links ein gerader Strich, nicht einmal ein Kirchturm ist mehr zu sehen. Dafür Windräder und eine Reihe riesiger Strommaste­n. Auch der Strom rauscht hier nur durch, an andere Orte. Fast haben wir es geschafft, da drängt sich die Straße fast direkt an der Wand einer Kapelle vorbei: Kapelle zur schmerzhaf­ten Muttergott­es. Der Weg übers Lechfeld war nie ein leichter.

Über Kilometer ist der Horizont ein gerader Strich, nicht einmal ein Kirchturm ist mehr zu sehen. Selbst der Strom rauscht hier nur durch

Tag zwei. Wir kaufen ein: Brotzeit, Obst und in der Apotheke Blasenpfla­ster. Sind die Füße verarztet, geht es los. Wir finden nicht den schnellste­n Weg aus Schwabmünc­hen, dafür laufen wir durch den Luitpoldpa­rk mit riesigen, aber noch leeren Spielplätz­en, vorbei an Anlagen für Tennis, Fußball und Bogenschüt­zen, bis wir wieder an die Hauptstraß­e kommen. Hier ist nicht unser Weg, entscheide­n wir und schwenken gleich nach der Wertach, die hier schwarz und träge in ihrem Kanal eingezwäng­t fließt, scharf nach rechts. Endlich wieder grün, am Horizont sind Schwabegg und die bewaldeten Bergrücken der Stauden zu sehen. Ruhe. Keine Autos, keine Häuser, nicht einmal Traktoren. Almählich nimmt man die Landschaft viel aufmerksam­er wahr. Das Windrasche­ln klingt ganz anders im Pappellaub als im Weizenfeld. Die Felder und Wege laufen alle kerzengera­de. Das Stroh liegt in langen Bahnen aufgeschüt­tet. Die Ballenmasc­hine muss nur einmal geradeaus durchfahre­n. Wie lange und mit wie vielen Helfern die Landwirte wohl früher an so einem Feld gearbeitet haben? Oder die Steinzeitm­enschen von Pestenacke­r?

Wenn das Laufen kein Kampf mehr ist, kann der Geist ein wenig fliegen. Merkwürdig, wie doch die Art der Fortbewegu­ng die Wahrnehmun­g der Landschaft verändert. Mit dem Auto braucht man von Schwabmünc­hen nach Schwabegg ein paar Minuten. Wie anders hier die Landschaft ist, hätte man kaum bemerkt. Auch nicht die merkwürdig­en Kondensstr­eifen am Himmel, Kreise und Linien, die sich vereinen und wieder trennen. Militärfli­eger, klar. Schluss mit der Schwärmere­i. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns.

Die Kirche von Schwabegg fällt sofort ins Auge. Aus Backstein, in neugotisch­em Stil ist sie ein hübscher Fremdkörpe­r in diesem Landstrich. Mittagszei­t. Die Straßen sind leer.

Aber neben der Kirche erzählt ein Schuppen vom Dorfleben: Am Holztor hängen ausgefrans­te Plakate und Fetzen von Zetteln, die Bürger einmal mit Klammern und Reißnägeln festgetack­ert haben. Schicht über Schicht, Jahr um Jahr, wie eine Chronik. Man liest auf weiß gebleichte­n Blättern: Feuerwehrf­est in Konradshof­en 2001, Termine für den Christbaum­verkauf aus einem längst vergangene­n Jahrzehnt. Der jüngste Anschlag: Ein Bauer sucht einen Hof für seine Ziegen.

Schließlic­h treffen wir doch noch jemanden. Eine Frau aus Südtirol. Zumindest gebürtig. „In den Stauden gibt es wenigstens ein paar Hügel“, sagt Judith Stankmann. Das genießt sie, seit sie in ihrer Kindheit aus den Bergen nach Schwaben gezogen ist. Vom Kalvarienb­erg auf dem Gipfel des Orts kann sie mit ihren Kindern bis zu den Alpen blicken. „Und die Natur ist hier ganz toll.“Letztens habe sie zwei Füchse am Gartenzaun gesehen.

Das Landleben? Der Tante-Emma-Laden hat dichtgemac­ht. Aber zwei Häuser weiter steht an einem Gebäude: „Dorfgemein­schaftshau­s“. Das haben die Schwabegge­r im Juli eingeweiht, gleich neben dem neuen Feuerwehrh­aus. Der Kindergart­en vergrößert sich bald auf drei Gruppen, Stankmanns Kinder spielen Saxofon und Trompete in der Dorfkapell­e. Bald feiern sie wieder das Schwabegge­r Fest, erzählt sie, mit den Böllerschü­tzen und dem Weckruf der Musik um 6 Uhr morgens. Und am 6. Januar ist der Termin für die Standverst­eigerung in der Kirche. Wie bitte? Wir erfahren: Bei dieser Auktion der etwas anderen Art können Männer Plätze auf der Empore der Kirche ersteigern …

Wir mühen uns den Kalvarienb­erg hoch. Auf einer Bank genießen wir den Blick zurück. Der Kirchturm von Schwabmünc­hen, irgendwo dahinten der Lech und der Punkt, an dem unsere Wanderung begonnen hat.

Nach dem Aufstieg in die Stauden, beginnt für uns wieder der Wald. In Gedanken zählen wir die Kilometer bis zum Ziel. Was stand auf dem letzten Wegweiser? Die Landkarte halten wir nun auch im Laufen vor der Nase und versäumen deshalb fast, wie ein Reh unseren Weg kreuzt. Es flüchtet ins Dickicht. Es weiß wohl wohin. Wir dagegen scheinen den Weg verloren zu haben: Wir finden einen Pfad, wo keiner sein sollte, und wiederum keinen Weg, wo wir ihn erwartet hätten. Auf dem Waldboden breiten wir jetzt die Karte aus. Rätselrate­n: Der eine ist sich sicher, dass wir vom Weg abgekommen sind, die andere besteht darauf, dass genau dieser Pfad auf jeden Fall zum Ziel führt. Zwischen Schwabegg und Scherstett­en, das ist an diesem Tag ein besonders tückisches Stück Wald. Die Sonne brutzelt ungehemmt auf den breiten Weg und uns herab, jeder Kieselstei­n bohrt sich in die Sohlen. Doch irgendwann endet der Wald und der Schotterwe­g mündet in Teer. Wenige schmerzhaf­te Meter noch bis auf eine Anhöhe, zu einer Kapelle.

Wir blicken auf ein schwäbisch­es Idyll: Glückliche Kühe auf einer Blumenwies­e, ein Ort im Tal, am Bach gelegen, mit gepflegten Häusern und noch gepflegter­en Hecken. Bauernhöfe, Kirchturms­pitzen, ein Tipi. Ein Tipi? Ja, auf der Anhöhe vor Scherstett­en stehen zwei Zelte inmitten der Landschaft. Wir nähern uns und erkennen neben dem Indianer-Tippi auch eine mongolisch­e Jurte. Am Waldrand stehen, und das rundet das Bild ab, ein Klohäusche­n mit Guckloch in Herzform und eine kanadische Holzhütte. Ein Marterpfah­l überragt die Szene: Kopfüber steckt ein Baumstumpf in der Wiese, die Wurzeln hoch oben bilden den Horst, auf dem ein aus Holz geschnitzt­er Adler Ausschau hält. Was soll das? Und wie weit sind wir hier eigentlich in den wilden Westen geraten?

Wir fragen nach im Ort, und dort fällt schnell ein Name: Wenn wir etwas über Scherstett­en, das Tipi und die Jurte erfahren wollten, müssten wir „zum Karre“. Der sei das wahre „Highlight“von Scherstett­en. Sein Zuhause ist auch nicht zu verfehlen. Tatsächlic­h finden wir das rote Schwedenha­us aus Holz, unschwer zu erkennen an der lebensgroß­en, weißen Pferdskulp­tur im Vorgarten. Um die Ecke schlendert mit einer Gießkanne in der Hand Karl Markgraf, kurz: Karre. Blaue Augen, runde Brillenglä­ser mit silbernem Rand, Ohrringe, Cowboyhut. Ein erstes Indiz, woher das Tipi stammt. „Wenn ich in Amerika bin, fragen mich viele, was ich bin: Cowboy? Indianer?“Eine richtige Antwort darauf habe er gar nicht. Schwabe? Stimmt auch nicht so ganz, sagt Markgraf. Aber Biker ist er. Definitiv.

Vierzig Jahre lang war er Fahrschull­ehrer in Schwabmünc­hen. Erst mit 45 Jahren begann er zu reisen. Fast alle Wüsten dieser Welt hat er mit dem Motorrad bereist. Nevada, Israel, die Wüste Gobi. Aus der Mongolei ließ er sich eine Jurte anschleppe­n. Die gehört jetzt zu Scherstett­en. Das Indianerze­lt, auf diese Idee kam er bei den Navajos in den USA. Was da oben auf der Anhöhe in Scherstett­en steht, ist allerdings ein Nachbau. Aus Tschechien.

In der Garage zeigt uns Markgraf seine fünf „Damen“, darunter eine Harley, eine schwarze BMW-Maschine mit Beiwagen und eine Enduro, der man die Kilometer durch Berge und Wüsten ansieht. „Die Welt muss man sich anschauen“, sagt Karre. „Wenn man immer am selben Ort bleibt, ist das, wie wenn man ein Buch aufschlägt und nur die erste Seite liest.“Vier bis acht Wochen könne er schon mal am Stück unterwegs sein, sagt Karre. Aber dann zieht es ihn zurück in die Stauden. „Das Kapital, das ich mir hier aufgebaut habe, das finde ich nirgendwo anders.“Und mit „Kapital“meint er sein Haus, den Ort und die Gemeinscha­ft. „Das ist Heimat. Im Dorf ist man einfach der Karre.“Und die Menschen, die hier leben, die mag er, genauso wie die Landschaft und die Sonnenunte­rgänge über den Stauden.

Sein „Kanadahaus“im Garten schmückt ein Büffelkopf aus Holz. Es ist ausgestatt­et mit Souvenirs, Satteln, Hufeisen und Bildern aus seinem Leben als Cowboy, als Biker, als Familienva­ter. Sein Haus hat er sich nach einer Reise nach Nordschwed­en selbst gebaut. Ehemalige Fahrschüle­r haben ihm Lehrer dabei geholfen. Die halbe Welt hat er in sein Schwedenha­us gepackt. Ein Raum im afrikanisc­hen Stil, ein Zimmer für Griechenla­nd, und sogar einen Saloon, mit Tresen, Ledercouch und Schwingtür. „Man muss ein bisschen kindisch sein“, sagt Markgraf. Neider habe er schon, auch im Ort. Aber es sei ja nie seine Absicht gewesen, anders als die anderen zu sein. „Ich lebe nur nach meinen Ideen und Träumen.“Sein nächstes Ziel: Australien.

Oben bei der Jurte liegt seine Wiese, er nennt es sein „Himmelreic­h“. Er übernachte­t hier gerne selbst, auf den Rentierfel­len in der runden Hütte. Aber oft hat er Gesellscha­ft: Kindergart­engruppen spielen und lernen hier und tragen sich ein in sein Gästebuch. Feste mit 500 Leuten fanden schon auf diesem Feld statt, die Dorfkapell­e spielte. Auch BikerFreun­de besuchen ihn hier. Bei Karres Tipi trifft sich die Welt – oder zumindest Scherstett­en. Für ihn hat bisher noch jeder Weg zurück nach Schwaben geführt. Unser Weg in den Westen, über das Lechfeld bis in die Stauden, endet nun am Indianerze­lt. Karl Markgraf bietet uns an, zum Bahnhof in Schwabmünc­hen zu fahren – nein, er besteht sogar darauf. Denn in der Mongolei darf man so ein Angebot nie abschlagen. Das wäre eine Beleidigun­g. Das wollen wir natürlich nicht.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Willkommen in der Steinzeit – ein Stück Weltkultur­erbe in der Region.
Willkommen in der Steinzeit – ein Stück Weltkultur­erbe in der Region.
 ??  ?? Hier fängt alles erst an: Der wundersame Bahnhof von Walleshaus­en.
Hier fängt alles erst an: Der wundersame Bahnhof von Walleshaus­en.
 ??  ?? Siegfried Riedel ist wohl der einzige Fahrdienst­leiter, den es auch als Modellfigu­r gibt.
Siegfried Riedel ist wohl der einzige Fahrdienst­leiter, den es auch als Modellfigu­r gibt.
 ??  ??
 ??  ?? Schwabegge­r Ortschroni­k: Gleich neben der prächtigen und frisch renovierte­n Kirche ist der Parkplatz für den Pfarrer – und das Schwarze Brett der Gemeinde.
Schwabegge­r Ortschroni­k: Gleich neben der prächtigen und frisch renovierte­n Kirche ist der Parkplatz für den Pfarrer – und das Schwarze Brett der Gemeinde.
 ??  ?? Achtung, Achtung: Hier hört der Spaß auf. Das Lechfeld ist ein Militärsta­ndort.
Achtung, Achtung: Hier hört der Spaß auf. Das Lechfeld ist ein Militärsta­ndort.
 ??  ?? Das Pfeifen die Schwalben: Ein Auszug aus der Melodie des Sommers.
Das Pfeifen die Schwalben: Ein Auszug aus der Melodie des Sommers.
 ??  ?? Alemannen, Bajuwaren, Römer und jetzt wir: Die Burgruine Haltenberg.
Alemannen, Bajuwaren, Römer und jetzt wir: Die Burgruine Haltenberg.
 ??  ?? Und hier unten laufen wir: Landstraße Richtung Unfriedsha­usen.
Und hier unten laufen wir: Landstraße Richtung Unfriedsha­usen.
 ??  ?? Jenseits des Lechs, bei Staustufe 19, endet die Wildnis – zumindest fürs Erste. Große Transportm­aschinen ziehen hier über den Himmel, sie sind die Vorboten des Militärsta­ndorts Lagerlechf­eld. Was folgt ist viel flaches Land, auf dem schwere Landmaschi­nen Staub aufwirbeln. Die Landschaft wandelt sich erst wieder auf den Hügeln der Stauden. Der Blick zurück zeigt, welche Strecke bereits hinter den Wanderern liegt, nun muss man sich vor lauter Wald und Bäumen wieder auf die Karte verlassen.
Jenseits des Lechs, bei Staustufe 19, endet die Wildnis – zumindest fürs Erste. Große Transportm­aschinen ziehen hier über den Himmel, sie sind die Vorboten des Militärsta­ndorts Lagerlechf­eld. Was folgt ist viel flaches Land, auf dem schwere Landmaschi­nen Staub aufwirbeln. Die Landschaft wandelt sich erst wieder auf den Hügeln der Stauden. Der Blick zurück zeigt, welche Strecke bereits hinter den Wanderern liegt, nun muss man sich vor lauter Wald und Bäumen wieder auf die Karte verlassen.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Karl Markgraf, genannt „Karre“, zeigt seine Kanadahütt­e. Auf dem Motorrad reist er um die Welt.
Karl Markgraf, genannt „Karre“, zeigt seine Kanadahütt­e. Auf dem Motorrad reist er um die Welt.
 ??  ?? Die Wanderer, ganz klein, im Spiegel: Bei Schwabegg ist noch Zeit für ein Erinnerung­sfoto.
Die Wanderer, ganz klein, im Spiegel: Bei Schwabegg ist noch Zeit für ein Erinnerung­sfoto.
 ??  ?? Mongolei? Wilder Westen? Auf der Anhöhe bei Scherstett­en stehen ein Tipi und eine Jurte.
Mongolei? Wilder Westen? Auf der Anhöhe bei Scherstett­en stehen ein Tipi und eine Jurte.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany