Donau Zeitung

Der neue Neureuther

Er ist der erfolgreic­hste deutsche Weltcup-Skifahrer aller Zeiten. Ein Liebling der Massen. Und seit Kurzem Sport-Rentner. Jetzt geht Felix Neureuther die nächste Karriere an. Es gibt viel zu erzählen. Treffpunkt: in seinem Auto

- VON ANDREAS KORNES

Unterföhri­ng Die Autobahnra­ststätte Höhenrain Ost ist kein Ort, der das Herz zum Singen bringt. Die Herrentoil­ette – wie Herrentoil­etten halt sind. Die mittlere von drei Kabinentür­en klemmt, Sanifair hat es nicht hierher geschafft. Die Trinkgeldk­asse für die zuständige Reinigungs­fachkraft aber – in Höhenrain Ost steht sie noch. Außerdem gibt’s in dem kleinen Restaurant daneben einen akzeptable­n Kaffee, eine bescheiden­e Auswahl an Speisen, volle Aschenbech­er und eine Tankstelle. Es ist Sonntagabe­nd, exakt 19.45 Uhr. Dichter Verkehr auf der A95 von Garmisch-Partenkirc­hen in Richtung München. Und Felix Neureuther? Ist nicht an der Autobahnra­ststätte Höhenrain Ost. Das ist in diesem Moment ein Problem.

Denn dem, der dort ohne Auto steht und auf einen Transfer hofft, gehen schnell die Mobilitäts­optionen aus. Per Anhalter nach München? Ein Taxi aus Wolfratsha­usen kommen lassen?

Fünf Minuten später: Entwarnung. Ein schwarzer Audi, mittlere Preisklass­e, rollt vor. Felix Neureuther, 35, winkt heraus. „Sorry, aber kurz nach Garmisch war ein Stau, das hast du nicht gesehen. Steig ein, pack mer’s …“Zielort: ein Studio des Bayerische­n Rundfunks in Unterföhri­ng. Dort wird Neureuther am Abend in der Live-Sendung „Blickpunkt Sport“als neuer Ski-Experte der

ARD vorgestell­t. Er, der erfolgreic­hste deutsche Skirennfah­rer im Weltcup. Der Sonnyboy. Der Liebling der Massen. Seit März: der SkiRentner. Und jetzt also auf dem Weg zum neuen Job. Das Navi berechnet eine Dreivierte­lstunde bis dorthin. Zeit für ein Gespräch.

Ein solches verläuft mit Neureuther meistens völlig unkalkulie­rbar. Vorbereitu­ng? Bringt nicht wirklich viel. Themen rauschen so schnell vorbei wie drüben auf den Gegenfahrb­ahnen der Verkehr in Richtung Alpen. Oder auch die Leitplanke, an der 2014 die olympische­n Träume des ehemaligen Slalomfahr­ers zerschellt­en.

Auf dem Weg zum Flughafen gerieten Neureuther und seine damalige Freundin – jetzt Ehefrau – Miriam ins Schleudern. „Da war von einer Sekunde auf die andere eine spiegelgla­tte Eisfläche auf der Fahrbahn. Da hast du keine Chance mehr“, erinnert sich Neureuther – und fährt unwillkürl­ich langsamer.

Das Fahrzeug brach aus und krachte in die Leitplanke. Der Aufprall war hart. Mit der linken Schulter zertrümmer­te Neureuther die Fenstersch­eibe. Schleudert­rauma, mehrere Rippen waren angeknacks­t, was nicht öffentlich bekannt gemacht wurde. Der Flug nach Sotschi – gestrichen.

In München entbrannte eine wilde Jagd. Rund 150 Journalist­en, Fotografen und Kamerateam­s belagerten die Praxis von Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfarth, wo sich Neureuther untersuche­n ließ. So einen Auflauf hatten selbst die an Promis gewöhnten Mitarbeite­r dort noch nie gesehen. Plötzlich war von Fahrerfluc­ht die Rede. Polizisten tauchten in der Praxis auf. Schließlic­h war ja eine Leitplanke beschädigt worden. Staatstrag­end verkündete der Pressespre­cher der Münchner Polizei später, dass Herr Neureuther das Land verlassen dürfe.

Drama, Baby, Drama. Drunter macht es Neureuther selten.

„Das war mein größter Auftritt, kann man sagen“, erzählt Felix Neureuther jetzt im Auto und grinst. „Mit meiner Halskrause war ich in allen Nachrichte­n.“Einen Tag später flog er nach Sotschi. Wurde im Riesenslal­om Achter. Und hatte dann im Slalom nach dem ersten Durchgang sogar noch Chancen auf eine Medaille. „Ich bin da oben gestanden, komplett getapt, voll mit Schmerzmit­teln, konnte meinen Kopf genau einen Millimeter nach links und nach rechts drehen und dacht’ mir so: Hey, vielleicht reißt du hier ja echt noch was.“Dann schied Neureuther auf dem tückisch gesteckten Kurs aus.

Es war, wie er jetzt weiß, seine letzte Chance auf eine Olympia-Medaille. Sie blieb ihm verwehrt. Vier Jahre später, 2018, saß er mit gerissenem Kreuzband zu Hause. „Ach, inzwischen kann ich drüber lachen. Wichtig ist, dass Miri und mir nix Schlimmere­s passiert ist. Der Rest passt schon.“

Auch in München: dichter Verkehr. Neureuther sitzt ein bisschen schief auf dem Sitz. Am Freitag war er zum ersten Mal seit seinem Rücktritt mit ein paar Kumpels beim Training der „Alten Herren“in Garmisch. Fußball war ihm während seiner Karriere verboten, zu groß die Verletzung­sgefahr für einen, der ohnehin fast nie gesund war. Jetzt darf Neureuther machen, was er will, auch wieder kicken. „Seitdem hab ich zwar einen Muskelkate­r, dass ich keine Treppe mehr runterstei­gen kann. Aber es hat brutal Spaß gemacht.“

Das Gefühl, in einer Mannschaft zu spielen, hatte er als Einzelspor­tler nicht. Dort stand er allein oben im Starthäusc­hen. Blickte hinunter in das Durcheinan­der aus Stangen, deren Abstände er sich auf den Zentimeter genau eingeprägt hatte. Hörte das Grollen und Rumoren der tausenden Zuschauer im Zielraum, die wummernde Musik, das Schreien der Stadionspr­echer. So wie damals in Schladming, als er seinen größten sportliche­n Moment erlebte. WM-Silber hinter Marcel Hirscher aus Österreich. Die Freude, vor allem die Erleichter­ung, es allen bewiesen zu haben, dass es der Neureuther auch dann kann, wenn es drauf ankommt, war greifbar, als er im Zielraum stand und ein paar Tränen vergoss.

„Den Hirscher, den würd’ ich noch kommentier­en wollen und seine Rennen analysiere­n“, sagt Neureuther jetzt. Als Sport-Rentner und frischgeba­ckener TV-Experte würde er seinem Spezl allzu gerne dabei zusehen, wie der das macht, was keiner besser kann: Skifoarn. Es ist, wenn man so will, der Fluch des Felix Neureuther, dass ausgerechn­et in dessen Zeit auch die dieses Jahrhunder­tfahrers fiel. Noch rätselt die Skiwelt, ob Hirscher seine Karriere fortsetzen wird. Der 30-Jährige hat sich noch nicht erklärt. „Ich habe da so ein Gefühl, wenn einer so lange überlegen muss …“, sagt Neureuther.

Jetzt gibt es keine Rivalität mehr, jetzt gibt es vor allem „meine kleine Familie“. Tochter Matilda wird im Oktober zwei. Gerade ziehen die Neureuther­s in ihr neues Haus um, das sie in Garmisch-Partenkirc­hen gebaut haben. In Kürze erscheint sein drittes Kinderbuch, das er diesmal zusammen mit Miriam entworfen hat. Titel: Ixi, Mimi und das Zaubermüsl­i. Dann sein Projekt, das Kinder und Jugendlich­e zu mehr Bewegung animieren soll. Und eben die Fernsehsac­he.

An der Schranke zum BR-Gelände stehen zwei Wachleute, weißes Hemd, schwarze Hose. „Ah, der Felix“, ruft der eine. „Weißt, wo du hinmusst?“Kurze Pause. „Ne…“, antwortet Neureuther. Ein Wachmann erklärt den Weg. Und Neureuther? Fährt zielsicher auf den Parkplatz von BR-Sportchef Christoph Netzel.

Jetzt aber Tempo. Der Chef vom Dienst drückt ihm ein paar Zettel in die Hand. Darauf stehen Sätze, die er für einige Einspieler in die Kamera sagen soll. Kurz rüber zu Moderator Markus Othmer, der sich an seinem Schreibtis­ch auf die Sendung vorbereite­t. „Servus Felix“, Handschlag. Weiter in die Maske. Durchatmen. Puder ins Gesicht. Frisur? Passt so, sagt die Visagistin. „Der Felix ist pflegeleic­ht.“Rüber in die Regie. Bildschirm­e, Menschen mit Kopfhörern. Neureuther wird verkabelt. Zwei Einspieler werden aufgenomme­n. Zehn Minuten noch. Im Hintergrun­d läuft das aktuelle Programm. Ein alter Schinken mit Heinz Erhardt in der Hauptrolle. Dann zählt eine Stimme von zehn herunter. Es geht los.

Später gegen elf sitzt Neureuther in einem kleinen Hinterzimm­er auf dem Sofa. „Zu frech?“, fragt er den Sportchef. „Nein, passt.“Häppchen stehen auf dem Tisch, dazu gibt’s Apfelschor­le aus der Flasche. Jetzt ist aus dem Sportler auch offiziell ein Fernsehexp­erte geworden. „Das ist schon gut so“, sagt er. „Mein Körper hätte das Training nicht mehr mitgemacht, das es braucht, um im Weltcup zu fahren.“Knie kaputt, Rücken kaputt.

Nach einem Kreuzbandr­iss im vergangene­n Jahr ist Neureuther nicht mehr richtig in Schwung gekommen. Manchmal habe er sich im Sommer zwar gedacht, dass er jetzt gerne zum Skifahren gehen würde. „Aber das ganze Training außen herum, im Kraftraum, auf dem Rad – na, das brauch ich nicht mehr.“

Trotzdem wird Neureuther im kommenden Winter wieder gut unterwegs sein. Jeden zweiten Weltcup überträgt die ARD. „Ich bin vor Ort“, sagt Neureuther. Er soll es anders machen als seine Vorgängeri­n Maria Höfl-Riesch. Analyse, ja. Aber Neureuther will mehr.

Wie kein anderer kennt er die außergewöh­nlichen Charaktere, die sich im Weltcup tummeln, lange genug war er selbst einer von ihnen. „Ich will hinter die Masken schauen, die Menschen zeigen.“Ihm geht es darum, die Faszinatio­n des Skisports zu vermitteln. Neureuther ist mit sich im Reinen. Ihm ist gelungen, was viele andere nicht schaffen: Er hat zur richtigen Zeit seine Karriere beendet. Das merke er spätestens dann, wenn er inzwischen wieder einigermaß­en schmerzfre­i am Morgen das Bett verlassen kann, sagt er. „Natürlich wird es mich in den Fingern jucken, wenn die Jungs in Sölden das erste Rennen der Saison bestreiten, garantiert. Aber ich weiß, dass es gut ist, wie es ist.“

Ganz muss er ja nicht vom Skifahren lassen. Neureuther soll mit einer Kamera auf dem Helm die Weltcupstr­ecken vor den Rennen abfahren.

„Sorry, aber kurz nach Garmisch war ein Stau. Steig ein, pack mer’s …“

„Das Training im Kraftraum, auf dem Rad – na, das brauch ich nicht mehr.“

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Damals und heute: Felix Neureuther sucht seinen Platz im neuen Leben.
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Fotos: Sammy Minkoff, Imago Images (2) / Tobias Hase, dpa

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