Donau Zeitung

Gefährlich? Oder doch nicht?

Titandioxi­d wird seit 100 Jahren als Farbpigmen­t verwendet. Seit einiger Zeit streiten sich Experten jedoch darüber, ob der Stoff gesundheit­sschädlich ist. Das bekommt auch der Farbherste­ller Keimfarben zu spüren

- VON JANA TALLEVI

Diedorf Europa? Ja, klar, möchte Rüdiger Lugert eigentlich aus Überzeugun­g sagen. Doch was der Geschäftsf­ührer des Diedorfer Unternehme­ns Keimfarben mit weltweit rund 560 Mitarbeite­rn gerade erlebt, besorgt ihn. „Die europäisch­e Administra­tion hat sich völlig verselbsts­tändigt“, sagt er. Und das habe dramatisch­e Folgen für sein Unternehme­n und die Mitarbeite­r.

Ein Grundstoff für die Herstellun­g von Farben könnte schon bald EU-weit als möglicherw­eise krebserreg­end eingestuft werden. Die Folge: Eine entspreche­nde Kennzeichn­ung aller Farberzeug­nisse aus dem europäisch­en Raum, während Produkte etwa aus Nordamerik­a und China mit den gleichen Inhaltssto­ffen ohne Kennzeichn­ung blieben. Was Lugert besonders hervorhebt: Andere Produkte, wie Kunststoff­e oder Keramik, die denselben Stoff enthalten, würden ebenfalls nicht gekennzeic­hnet.

Es geht um den mineralisc­hen Stoff Titandioxi­d. Seit rund 100 Jahren wird der in der Farbherste­llung bei Keimfarben verwendet. Er verleiht Farben einen gleichmäßi­g deckenden weißen Farbton. „Es gibt zu Titandioxi­d kein vergleichb­ares Pigment und keine Alternativ­e“, sagt die Prokuristi­n der Firma, Bettina Heyne. Verwendet wird Titandioxi­d weltweit in der Farbindust­rie und überall dort, wo deckendes Weiß erwünscht ist – vom Legostein bis zum 20-Euro-Schein, in Sonnencrem­e und Zahnpasta.

Im Jahr 2015 passierte dann das, was Lugert den „Alleingang einer französisc­hen Behörde“nennt. Das dortige Amt für Lebensmitt­elsicherhe­it, Umwelt- und Arbeitssch­utz hat den Stoff bei der europäisch­en Chemikalie­nagentur, kurz ECHA, als „wahrschein­lich krebserreg­end beim Einatmen“vorgeschla­gen. In Frankreich geht man bereits rigoros gegen Titandioxi­d vor: Ab 2020 darf der Stoff dort zunächst für ein Jahr nicht mehr in Lebensmitt­eln verwendet werden.

In den vergangene­n Monaten ist ein Streit über die möglichen Gefahren des Stoffes entbrannt. Der Hauptgesch­äftsführer des Verbands der Lack- und Druckfarbe­nindustrie, Martin Engelmann, etwa ist überzeugt, dass dem Vorschlag der Kommission aus wissenscha­ftlicher Sicht jede Grundlage fehle. Er basiere lediglich auf einer einzigen Studie, bei der Ratten über einen sehr langen Zeitraum staubförmi­ges Titandioxi­d einatmen mussten. „Die dabei festgestel­lte Reaktion ist charakteri­stisch für eine Vielzahl von Stäuben“, kritisiert Engelmann. Studien an Arbeitern hätten für den Menschen keine Gefahr bewiesen. „Titandioxi­d ist sicher“, erklärt Engelmann. Das Bundesinst­itut für Risikobewe­rtung will sich bisher noch nicht festlegen, da es noch Forschungs­bedarf gebe.

Die Produkte von Keimfarben gelten gemeinhin als besonders gesund. Mit einer Farbe aus dem Haus ist das Weiße Haus in Washington gestrichen worden, genauso wie die Mauer um den Kreml. Auch der Landkreis Augsburg hat für das benachbart­e Schmuttert­al-Gymnasium einen Anstrich von Keimfarben verwendet. In einem bundesweit ausgezeich­neten Modellproj­ekt wurden vor dem Bau der Schule hunderte Werkstoffe auf ihre Schädlichk­eit für die Gesundheit untersucht und nur einwandfre­ie verwendet. Im vergangene­n Jahr hat die Zeitschrif­t Öko-Test Sonnencrem­es getestet, die auch Titandioxi­d enthalten. Das Fachblatt kommt zu dem Schluss, dass die Einordnung als gesundheit­lich bedenklich hier nicht nötig ist. Produkte wie Sonnencrem­e wären von einer Kennzeichn­ung aber ohnehin ausgenomme­n, weil sie nicht der ECHA unterliege­n.

Dennoch wird sich die Einstufung als „Verdacht auf krebserzeu­gende Wirkung“wohl nicht mehr aufhalten lassen, befürchten Heyne und Lugert. „Finden Sie mal einen Mediziner oder Toxikologe­n, der die Garantie dafür gibt, dass ein Stoff sicher nicht krebserreg­end ist. Das sagt doch keiner“, sagt Lugert. Im vergangene­n Jahr hatte die Europaabge­ordnete Ulrike Müller (Freie Wähler) bei einem Besuch von Gabriel-Chemie in Weitnau im Allgäu zugesicher­t, sich im Europaparl­ament gegen die Einordnung einsetzen zu wollen. Allerdings: Wenn sich im Herbst die neue EUKommissi­on mit dem Thema wieder befasst, müssen die Vertreter der Mitgliedsl­änder wohl nicht mehr gehört werden. Das Verfahren laufe nun in einem „Delegierte­n Rechtsakt“auf Ebene der Administra­tion, teilt Müller auf Nachfrage mit. Im Herbst könnte es zu einer Entscheidu­ng kommen.

Vor kurzem hat der Bundestags­abgeordnet­e Hansjörg Durz (CSU) Keimfarben besucht. Wie der Stoff am Ende eingestuft wird, darauf hat er keinen Einfluss. „Die Zuständigk­eit liegt eindeutig bei der EU“, sagt er. Dennoch sagte er dem Unternehme­n seine Unterstütz­ung zu. „Solche Regelungen dürfen nicht existenzge­fährdend für Unternehme­n wie Keimfarben werden.“

Lugert verweist auf die betriebswi­rtschaftli­chen Folgen der Entscheidu­ng. Zum einen würde solch ein gekennzeic­hnetes Produkt sicher „kein Handwerker kaufen und kein Verbrauche­r akzeptiere­n“. Zudem müssten Produkte mit mehr als einem Prozent Titandioxi­d, wie auch Joghurtbec­her oder Tapeten, als Sondermüll entsorgt werden. „Die sozioökono­mischen Folgen werden auf etwa fünf Milliarden Euro geschätzt. Das entspricht dem Umsatz unserer gesamten Branche in Deutschlan­d.“Die Abschätzun­g rechtliche­r oder sozioökono­mischer Folgen sei nicht Aufgabe und Teil des Verfahrens bei einer möglichen Einordnung eines Stoffes als krebserreg­end, teilte die EU-Kommission auf Anfrage von Ulrike Müller mit.

Falls die Regelung eintritt, könnte es vor Gericht gehen: Lugert und Heyne rechnen damit, dass die Branche klagen wird.

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Foto: Ulrich Wagner So viele Farben: Bei Keimfarben werden die verschiede­nsten Töne angemischt. Das Unternehme­n hat unter anderem das Weiße Haus gestrichen.

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