Donau Zeitung

Auf nach Norden!

Auf der Suche nach dem Herz der Region: In vier Etappen wandern wir in diesem Sommer durch das Journal-Land. Folge 3: Von Süd nach Nord – abseits der Allgäu-Tourismus-Verdichtun­gen

- Unterwegs sind Michael Schreiner und Matthias Zimmermann

Das golden und schräg einfallend­e Morgenlich­t lässt die Eierbecher und die Semmeln leuchten wie Kostbarkei­ten. Aufbruchst­immung in Pfronten-Steinach, es ist 7.25 Uhr und auf 850 Metern Höhe sind längst noch nicht alle Gäste in den Schuhen. Wir schon. Die Rucksäcke sind gepackt, nach dem Frühstück im Gasthof Löwen geht es hinaus und immer nach Norden. In der „Bergmetzge­rei“Hipp nebenan kauft eine Rheinlände­rin mit schönem Singsang ein, vor der Türe stehen die Urlauberau­tos. IGB, PF, KA, B, DO, ERZ. Wir sind im Touristena­llgäu, die Häuser, ob sie nun „Hotel Garni Bergidyll“oder „Aggenstein“heißen, sind gut gebucht. Vorm Gasthof Adler, den es seit 1495 gibt, steht ein Lastwagen – Augustiner­bräu München bringt Nachschub. Die Vils glitzert silbern und der Pfrontener Hausberg, der Breitenber­g, könnte auch als Tafelberg in Südamerika durchgehen. Ein Tattoo-Laden heißt „Relax + Pain“– Erholung und Schmerz. Das könnte eine gute Zusammenfa­ssung unseres ersten Wandertage­s werden. Aber noch liegt viel Norden vor uns und noch mehr Grün. Bevor es aus Pfronten raus durchs Berger Moos geht, fällt ein schöner Schriftzug ins Auge: „Spielwaren Reiseanden­ken“. Das sind Botschafte­n aus der guten alten Zeit – in der es noch keine Urlauber auf E-Bikes und auch keine Ferien auf dem Bauernhof mit WLAN-Code gab. Dafür gab es damals noch Wasen, Ohrengspat­en und Rässen. Kennt heute keiner mehr, oder?

jedenfalls nicht, aber zum Glück klärt ein Schild am Moorpfad uns auf: Zu jedem Hof gehörte einst ein Moos. Und damit im Winter die Stube warm war, musste man im Frühjahr Wasen stechen – Torffladen, die den Restzedll es Jahres trockneten. Naturidyll­e, über die riesige braune Falter taumeln oder Brennstoff­depot für den nächsten Winter – nichts bleibt, wie es ist.

Bevor es nach Rehbichl hinauf geht, begegnen wir einer Holzstatue. Der „Ehrwürdige Bruder Georg aus Pfronten“. Geboren in Kreuzegg am 25. November 1626. Beruf: Bäcker. Georg ging nach Süden, zu Fuß nach Rom, wo er als Bäcker und Ordensmann segensreic­h wirkte bis zum letzten Atemzug. Nach Rom – zu Fuß! Die nächsten Stunden wird uns sein Beispiel immer wieder moralisch stützen, wenn es bei 30 Grad mal biestig wird. Denk an den Ehrwürdige­n Georg!

In Schweinegg haben wir das Gefühl, die Welt besteht ab nun für immer aus grünen sanften Hügeln, auf denen hier und da Kühe stehen, die träge Radfahrern auf E-Bikes nachsehen. Ansonsten: 1 Kapelle, 1 Traktor, 1 Lieferwage­n, der Pakete ausfährt. Tourismus im Allgäu jedenfalls sieht viel luftiger aus als

der in der Altstadt von Dubrovnik. Wir treffen niemanden, seit in Rehbichl vorm Kolping-Ferienheim „Haus Zauberberg“ein paar Familien die Autos vollpackte­n zur Heimreise. Auf unserer Karte „UK 50-48“sind die Wege, die wir nun gehen, so leer eingezeich­net, wie wir sie auch vorfinden. Das meditative Kuhgebimme­l am Schweinegg­er Weiher, piepsende Enten und ein Motorflieg­er, der über die Burgruinen von Hohenfreyb­erg und Eisenstein fliegt: Der Sound des späten Vormittags dehnt die Zeit – und ist das nicht schon ein Hallen der Autobahn, das da mitschwing­t in den Ohren? Oder war es der Traktor, von dem Erwin springt, einen großen Rechen in der Hand?

Den treffen wir nämlich hinter der nächsten Kurve: Arbeitshos­e, kurzes Hemd und wenig Zeit. Brigitte, seine Frau, recht schon an der steilen Böschung das geschnitte­ne Gras zusammen. Handarbeit? Wo doch schon die kleineren Traktoren, die uns begegnen, die Größe von Doppelgara­gen haben? „Das ist Landschaft­spflege“sagen die beiden. Man schneidet es halt ab, damit es nicht braun wird und unschön aussieht. Und hier kommst du nicht ran mit der Maschine. Fünfmal im Jahr wird gemäht. 60 Kühe brauchen Futter, sagt Erwin und recht. Der Tourismus? Wird jedes Jahr noch mehr. Es gibt Orte, an die geht man gar nicht mehr hin, weil es einfach nicht mehr so ist wie früher. Erst recht, seit sie die Straße gerichtet haben. Aber was soll’s, die Region lebt ja davon. Sie bleiben lieber bei den KüWir hen. Idealismus klar, aber der Sohn macht weiter. Und jetzt haben sie sogar einen Melkrobote­r wegen ihm. Andere Zeiten. Überhaupt, die Jungen: gehen alle in die Industrie. Mehr Geld, weniger Arbeit. Und im Allgäu gibt es gute Industrie! Aber zufrieden sind die dann auch nicht. Brigitte und Erwin schon, das merkt man. Auch wenn es jetzt weitergehe­n muss. Für uns auch. Dahinten ist die Autobahn, da müssen wir drüber.

Vor der Kapelle Schwarzenb­ach, deren schönes Holztürmch­en etwas Bommelmütz­enhaftes hat, kreuzen sich ein paar Sträßchen. Auf einer kommt uns ein Ehepaar aus Stuttgart entgegen – auf E-Bikes. Man müsste einmal eine Untersuchu­ng in Auftrag geben, wie es heute ohne diesen Schwung um den Allgäu-Tourismus stünde… Jedenfalls, die beiden kommen seit vielen Jahren – und haben inzwischen eine Wohnung hier. „Wir lieben das Allgäu, es ist einfach schön hier, man kann schwimmen, radfahren, wandern und im Winter Ski fahren“, schwärmen sie. Ein Blick noch auf die Karte, alles klar, und weg sind sie. Wir folgen den kleinen weißen Schildern, die scheinbar jeden Weiler kennen, in die andere Richtung. Aggenstein und Breitenber­g im Rücken geht es fort mit Muskelkraf­t.

Weil wir auf der Karte UK 50-48 mit dem Kugelschre­iber einen Strich von PfrontenSt­einach steil nach Norden gezogen haben, führt unser Weg durch Anwanden. Wird aufgenomme­n in die EBSKO, die ewige Bestenlist­e schön klingender Ortsnamen (wo auch Untermager­bein sich findet, aus Journaltou­r 1 im Ries). Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Schwaltenw­eiher, wo eine ehrwürdige Pause eingeplant ist. Dort: Freibad-Feeling. Bunte Sonnenschi­rme, ein aufblasbar­er Flamingo, Paddler, Luftmatraz­en, Eiskäufer in Badehose und Bikini und über allem der Geruch nach Sonnenmilc­h und Mückenspra­y. Auf den Abfalleime­rn steht „Nur!! für Kiosk Abfälle“, Essen bestellen kann nur, wer sich seine Tischnumme­r gemerkt hat. Solcherart geraten wir an Tisch Nummer 21 in eine schöne Ferienstim­mung, fühlen aber nach 45 Minuten den strengen Blick des Ehrwürdige­n Georg auf uns ruhen: Auch eure Wege führen irgendwie nach Rom, jedenfalls: weiter!

Über Luimoos (genau: ohne Diskussion sofortige Aufnahme in die EBSKO) kommen wir zum Luimooser Weiher. Wir sind noch immer überrascht, auf welchen verwaist schönen Seitenwege­n des Fremdenver­kehrs wir wandeln. Bräunlich, aber idyllisch, der Luimooser Weiher. Liegt ganz allein da, ein Moorsee, der meilenweit entfernt ist vom Schwaltenw­eihergefüh­l. Das Wasser wirkt entzündung­shemmend, lesen wir, entsagen aber mangels Entzündung­en einem Bad und marschiere­n weiter. Eine Zeltstadt mitten im Grün – es gibt schlechter­e Plätze für ein Ferienlage­r. Niemand zu sehen, aber Stimmen aus dem Wald sind zu hören. Der Tourismus wirkt unauffälli­g in diesem Winkel. Aber er flutscht wohl auch hier, schließen wir aus der Begegnung mit einem großen Mietwäsche­laster, der im winzigen Treffisrie­d rangiert. Von der Holzkapell­e aus, die dem heiligen Franz Xaver gewidmet ist, fällt der Blick auf ein Anwesen, vor dem ein Dutzend Autos stehen. Sicher eine Pension oder ein Ferienhof! Was soll dann aber dieses weiße Wagenrad auf einem Pfahl? Und warum haben die Autos keine Kennzeiche­n?

Wieder einmal alles anders als gedacht: Hier ist – weit entfernt von der nächsten Hauptstraß­e – der Betrieb von Auto Huber. Eine Werkstatt, so fern von der Kundschaft? Karl Huber hat sich deswegen keinen Kopf gemacht, er hat einfach angefangen. 36 Jahre ist das her. Werbung? Braucht er nicht. Die Kunden kommen von allein, aus Marktoberd­orf und Füssen. Oder vielleicht auch so wie wir: Weil sie den blauen Oldtimer gesehen haben, der auf dem Hof in der Sonne blitzt. Ein Renault, Baujahr 1952. 800 Stunden Arbeit hat Huber in den Wagen investiert. Irgendwann fährt er mit seiner Frau damit vielleicht einmal zur Lavendelbl­üte in die Provence. Heute aber erst einmal zum Wertstoffh­of, die Ladefläche ist schon vollgelade­n mit alten Kartons …

Dieses Allgäu ist eine Entdeckung. Winzige Weiler sind in die großzügig weite Landschaft gestreut – alles hier ruht in sich wie Karl Huber, wenn er eine Motorhaube öffnet. So viel Einsamkeit um uns herum: Das hatten wir nicht erwartet. Ein Milchlaste­r brettert an uns vorbei, verschwind­et hinter einer Kurve. Zwischen Eiterberg mit seiner 1925 wieder aufgebaute­n Kapelle und dem Altar aus dem 17. Jahrhunder­t (auf dem jede Menge knallbunte Plastikblu­men drapiert sind) und Luttenried kreisen Bussarde im Sommerhimm­el, in der Ferne röcheln Traktoren, knuffige Schumpen schauen uns erwartungs­voll entgegen. Sonst: Niemand da, nicht einmal ein E-Bike-Tourist. Nur Landschaft, nur Grün. Es gibt tatsächlic­h so etwas wie schöne Eintönigke­it. Für wen hätte der Ehrwürdige Georg hier backen sollen?

Aber was ist das da vorne? Lastwagen, mehrere gelbe Bagger und Raupen, gewaltige Kiesberge und eine riesige Sandgrube, die das grüne Idyll durchschne­idet wie eine gewaltige offene Wunde. Sieht nach Straßenbau aus. Sogar im Berger Moos stand ein Dixi-Klo – aber

offenbar nicht auf dieser Baustelle. Jedenfalls machen gleich zwei Baggerfahr­er eine Pause und pinkeln in ihre Schaufeln. Wanderer, kommst du nach Albisried, kannst du was erleben! Tatsächlic­h zieht sich die Straßenbau­stelle bis durch den Ort, durch dessen Mitte ein einziger breiter Graben verläuft. Viele herunter gelassene Rollläden–wer jetzt nicht in Urlaub gefahren ist, hat gute Nerven oder schlechte Karten. An der OAL 24 entlang nehmen wir Kurs auf Wald. Noch fünf Kilometer. Wenn es Georg bis Rom geschafft hat …

In Holzmanns (einem von 14 Weilern, die zu Wald gehören) am Haflingerh­of fällt ein Wandgemäld­e ins Auge. Es zeigt drei Pferde – und darunter den Spruch: „Die Jugend soll uns nicht vergessen – man hat nicht immer Motoren besessen.“Während wir das notieren, ahnen wir noch nichts von der Begegnung mit Sandra Mayr ein paar Schritte weiter in Wetzlers. Sie hat acht Pferde im Stall! Außerdem Hühner, Kühe natürlich (wir sind im Allgäu!), einen Hund, Meerschwei­nchen – und Hänge bauchs ch weinLeni, das frei durchs Gelände schaukelt. Zum Glück hatte uns dieses rote Schild neugierig gemacht.

„’s idipfla, Café“, stand da drauf. Café? Hier? Gibt’s nicht. Aber dann ist da tatsächlic­h ein Café. Den ehemaligen Hühnerstal­l haben Sandra Mayr und ihr Mann Bernhard zu einem hübschen Flecken ausgebaut. Drinnen: Kunsthandw­erk aus eigener Produktion – und Getränke, eine Kaffeemasc­hine, Kuchen… Der Besucher kann sich selbst bedienen und in die Vertrauens­kasse werfen, was er für angemessen hält. Wer lesen will: es gibt auch Bücher. Draußen: ein paar schöne Gartentisc­he mit Stühlen unter schattigen Bäumen. „Ein netter Fleck zum Entspannen, Durchatmen und Genießen“soll das ’s idipfla sein. Und das ist es. San dr aMayr,di es eit 13 Jahren Reitunterr­icht gibt und abends Gitarren unterricht und außerdem Filzkunstw­erke bastelt, freut sich über unseren Besuch. Läuft das Café? „Noch sind es nicht sehr viele“, meint sie, „aber so jeden zweiten Tag kommt schon mal jemand. Es ist halt noch ein Geheimtipp…“Aber es gehe ihr vor allem darum, diesen schönen Ort mit anderen Menschen zu teilen. Wir trinken eine LimettenLi­mo, bevor wir uns auf den Weg machen. An Weihern vorbei, durch ein offenes Naturfreib­ad nach Wald. Kommt auf die EBSKO. Wald. Stenogramm des Abends: Finden ein Zimmer im Gasthof Post. Rucksäcke abwerfen, Dusche – und dann? Nein, nicht in den Biergarten. Uns reizt die nahe Wertach, die tief sich einschneid­et hier ins Land. Also: Weiterwand­ern, raus aus Wald, einen Waldweg steil abwärts nehmend, dem Gluckerger­äusch nach. Allein an der Wertach, in der die Abendsonne tanzt. Plopp, plopp – nie hat ein kühles Bier besser geschmeckt. Es wird bald Zeit, eineWi eder kommens liste Allgäu anzulegen–mit unseren Entdeckung­en auf dieser Süd-Nord-Wanderung, wo wir viel auf der Rückseite des typischen Allgäu marketing hochglanze­s unterwegs waren.

Tag zwei beginnt mit grauem, dann schwarzem Wolkenhimm­el und einem Frühspazie­rgang durch Wald. Auf der Anschlagta­fel: Kursangebo­te. „Blockflöte für Anfänger“und „Klang-Yoga“. So mischen sich Tradition und Moderne. Plötzlich laufen Kühe auf die Straße, lautlos schwanken sie an der Kirche vorbei. Mit lautem Kettenratt­ern hinterher: zwei Männer auf alten Mountainbi­kes, leuchtend gelbe Warnwesten über der Jacke, einen Stock in der Hand schwingend. Wir stoßen auf ein Museum, ein alter Stadel, der geschlosse­n ist, aber auch außen nahezu überquillt vor Exponaten. Wagenräder, Werkzeuge, ein Grabstein, ein Mühlstein, eine furchterre­gende Güllepumpe von 1940. Auf die Außenbrett­er genagelt findet sich auch die alte Kirchturms­pitze von Wald, die, so klärt ein Schild auf, „am 5. Januar 2012 um 16.30 Uhr durch Blitzschla­g zerstört wurde. Das Kreuz zerbrach in neun Teile.“Blitzschla­g gibt es keinen an diesem Tag – aber Regen.

Wie können zwei Wandertage so unterschie­dlich sein? Starkregen, Stärkstreg­en, Platzregen. Im Block steht sogar: Sintflut. Sie hält uns 90 Minuten gefangen im verglasten Wartehäusc­hen vor der Schule. Zuvor hatten wir versucht, auf dem nagelneuen „Mitfahrer

bänkle“einen Lift bis Marktoberd­orf zu ergattern. Fünf Kilometer Beschleuni­gung zum Auftakt: Stellten wir uns gut vor. Bisschen plaudern mit unserem Zufallscha­uffeur… Dazu haben wir wie geheißen das Ortsschild Marktoberd­orf hochgeklap­pt. Schöne Idee, das Mitfahrerb­änkle – aber der Praxistest geht schief. Droben in der Bäckerei sagen sie: Ganz neu, gibt’s erst seit vier Wochen. Aber gehalten hat wohl noch niemand. Wir sitzen weiter in der Bushaltest­elle vor der Schule und schauen zu, wie der Regen Blasen wirft auf der Straße. Irgendwann, eine Tüte Gummibären später, lässt es nach, wir laufen los, endlich wieder unterwegs. Ziel: Norden.

War es der Regen, der sie rauslockte? Jedenfalls begegnen wir hinter Wald drei Rehen und einem Fuchs, die durch nasses Sattgrün trollen. Der Himmel hält, Ronried überrascht mit einem Maibaum von 2014, den sie zu einer Sitzgarnit­ur vor der Pfarrkirch­e zersägt haben. Gleich daneben ragt der Maibaum von 2018 in die Höhe – auf dem werden sie vielleicht auch bald sitzen. Andere Menschen gibt es nur im Auto vorbeifahr­end. Wohin soll man auch laufen im Dorf? Geschäfte gibt’s keine. Und einfach so was anschauen, bringt ja auch nichts. Kennt man ja alles. Im Vorbeigehe­n sehen wir eine Frau Fensterput­zen – im Kuhstall.

Am Ortsende von Leuterscha­ch biegen wir scharf nach links ab. Ein kleiner Garten, schmal und lang wie eine abgerollte Tapete, liegt vor der Feldkirche St. Mang. Der Himmel trübt sich wieder ein, aber bislang hält es. Heiliger Georg, steh uns bei. Die Landschaft sieht gar nicht mehr nach Allgäu aus. Wo sind die Berge? Verschluck­t von Wald und Wolken. Grün ist zwar immer noch die Hauptfarbe auf der Palette, aber mit der Sonne ist auch das Leuchten verschwund­en. Immerhin gibt es noch Kühe. Und die Wertach, die braun und schäumend nach Norden gurgelt. Ständige Begleiter außerdem: Elektrozäu­ne und Begrenzung­spfähle mit einem Loch oben drin. Für den Winter, da kann man sie verlängern, mit Stangen. Ist noch weit weg.

Der Weg nach Geisenried ist wie mit dem Lineal gezogen, vorbei an einem großen Sportgelän­de, Neubaugebi­eten und einer prächtigen Sporthalle. Ein durchschni­ttliches Gebäude im Ostallgäu hat eine Wohnfläche von 175 m2 stand auf der Tafel im Pfrontener Moos. Nach zwei Tagen hier scheint uns diese Zahl eher konservati­v geschätzt. Überdurchs­chnittlich ist aber auch der alte Pfarrhof von Geisenried: mit Lüftlmaler­ei und fabrikneue­n Isoliergla­s-Sprossenfe­nstern. Kurz verlieren wir uns auf der sich schlangenf­örmig durch den Ort windenden Hauptstraß­e aus den Augen. Kann passieren, wenn man die Augen einfach nicht von der Speisekart­e der Dorfwirtsc­haft lösen kann. Zahl der vegetarisc­hen Gerichte: 0. Nachspeise­n: 1. Fleischger­ichte: 13. Aber jetzt Pause machen ist gefährlich. Am Ende gibt es auch keine alkoholfre­ien Getränke. Und jetzt ein Weizen …

Schon sind wir wieder auf freiem Feld. Über uns braut sich was zusammen und dann sind wir auch noch falsch abgebogen. Kurskorrek­tur, mitten durch eine regenfeuch­te Wiese. Untenrum sind wir jetzt nass. Und oben? Gerade noch schaffen wir es in die Unterführu­ngsröhre der B 12, da platscht es wieder los. Zeit, die letzten Vorräte zu teilen. Eine Landjäger für zwei. Eine Breze. Eine Käsesemmel. Im Stehen. Jetzt beim Wirt … Vorbei. Kein Blick zurück. Außerdem zieht die schwarze Wolke auch schon ab. Mal wieder wendet sich das Blatt. Vor uns auf der Karte liegt ein langes Stück Einsamkeit. Zwischenzi­el: Elbsee. Dahin führt erst mal ein Trampelpfa­d, mitten durch das Dümpfelmoo­s.

Wie können zwei Wandertage so unterschie­dlich sein? Starkregen, Stärkstreg­en, Platzregen. Im Block steht sogar: Sintflut

Der Weg durch ein paar hundert Meter Wildnis beginnt an einer Schautafel. Kaum zu glauben, was da steht: Vor nicht einmal zehn Jahren war hier nur dröger Fichtenwal­d. Dann kamen Naturschüt­zer und haben das Grundstück, auf dem seit dem 19. Jahrhunder­t Torf gestochen wurde, gekauft. Von Hand wurden Bäume gefällt und Gräben gestaut. Seitdem wächst hier wieder ein Moor. Wir federn über duftenden Waldboden, entlang von brackigen Tümpeln, die grasgrün schimmern vor Wasserlins­en. Ab und an muss man sich bücken, um nicht gegen einen Ast zu laufen. Wie Kreidestri­che auf dunklem Grund leuchten Birkenstäm­me heraus. Ganz still ist es um uns herum. In Hochstimmu­ng treffen wir nach einigen Minuten auf den nächsten Forstweg. Der ist ziegelrot vor Tonscherbe­n, die zur Befestigun­g auf 20 Metern Länge ausgestreu­t sind. So kann es weitergehe­n, wir laufen bestimmt noch bis Kaufbeuren!

Unser Weg führt am Waldrand entlang. Vor uns quert ein alter grüner Traktor eine Wiese, hält neben einer Weide mit Jungrinder­n an. Als wir zu ihm aufschließ­en, füllt ein Mann gerade Wasser aus einem verbeulten Fass auf dem Traktor in eine alte Badewanne. Blickkonta­kt. Kopfnicken. „Wo geht’s hin?“, will er wissen. Er trägt eine dunkelgrau­e Wollweste mit Zopfmuster und passt vom Alter gut zu seinem Fahrzeug. Ein gutes halbes Jahr sind die Tiere alt. Ja, ja. Pause. Schließlic­h sagt er: „Ich will euch nicht länger aufhalten“. Wir haben verstanden. Auf uns wartet der Elbsee.

Von jetzt an geht’s bergab, das wissen wir nur noch nicht. Stattdesse­n staunen wir über Riesenpilz­e, die hier wachsen: groß wie kleine Regenschir­me. Auf einem Fichtensta­mm steht, schon ganz verwittert, das blaue X, dem wir jetzt folgen. Fichten gibt es jetzt viele. Genau genommen gar nicht mehr viel anderes.

Langsam werden doch die Beine schwer. Wir müssen ja nicht mehr bis Kaufbeuren. Am Elbsee machen wir erst mal Pause, danach geht es bestimmt gleich besser. Wo bleibt er nur, der See? Fichten, Kies und jetzt auch Regen. Wir irren auf einem Riesenumwe­g um den See. Ein Paar in Sportkleid­ung legt die Regenponch­os an – sich und ihren CollieHund­en. Wir gehen weiter. Ohne Schirm und Jacke. Alles darf nass werden – bloß unsere Blöcke mit den Notizen nicht! Umziehen können wir uns erst beim Café am See, sonst bleibt uns gar nichts Trockenes mehr.

Wir sind nass bis auf die Haut, als wir endlich an das Gasthaus am Ufer gefunden haben. Gasthaus ist aber grob untertrieb­en, eher handelt es sich um ein mittelstän­disches Freizeitun­ternehmen mit Campingpla­tz, Hotel, Restaurant, Café – und gleich neben der Terrasse ist auch noch ein Bootsverle­ih. All diese Angebote interessie­ren uns im Moment aber nur am Rande. Wir wären schon zufrieden mit einem ruhigen Plätzchen im Trockenen und etwas zu trinken. Krisenstim­mung. Ein Kellner im schwarzen Anzug und weißem Hemd bedient auch auf der überdachte­n Terrasse, wo die Spatzen schon auf Kuchenkrüm­el spechten. Zwei Frauen beschweren sich – nur halb im Scherz – beim Kellner über die Spiegel: „Da bist du ja breit drin wie eine Tonne, also wirklich, das könnt ihr doch nicht machen!“Der Elbsee immerhin spiegelt korrekt: Grau, Tristesse, Regen – dahinter der Tafelberg von Pfronten. Die Raucher von den feinen Tischdecke­ntischen drin drängen nach draußen.

Wir fassen einen Entschluss: durch den Regen jetzt noch bis Aitrang, dann in den Zug – und Schluss. Der Regen trieft und perlt an Jacken und Plastikübe­rzügen, das Wanderglüc­k säuft ab. Aitrang in Sicht. Den Ort durchquere­n wir dreimal, finden den Bahnhof – bloß hält da seit 20 Jahren kein Zug mehr. Und Busse? Nichts. Eine riesige Linde steht mitten auf der Fahrbahn. Aber kein Bus. Aus Aitrang kommen wir nicht weg – es sei denn eben zu Fuß. Noch 12,5 Kilometer bis Kaufbeuren. Idee: Wir rufen hier und jetzt den Notfall aus und ein Taxi! Vorher aber noch in dem Bäckerei-Café ein bisschen süßes Trostzeug einkaufen. Davor steht ein Mann und raucht. Kariertes Hemd, Erscheinun­g: von hier. Zwischen seinen Zügen grüßt der Mann Autofahrer, Passanten – und wird selbst gegrüßt. „Seid Ihr in den Regen gekommen?“, fragt der Raucher. Er ja auch, weshalb das Rasenmähen ausgefalle­n ist. Wir plaudern ein wenig. Ja, es sei ein Jammer, dass der Zug nicht mehr halte in Aitrang. Ein Taxi wollten wir? Uuiiih, das wird teuer, das kommt ja aus Kaufbeuren, habe er auch mal gemacht. Und dann bläst der Mann Rauch aus, wirft die Kippe weg und sagt: „Wisst’s ihr was? I fahr euch schnell.“

Der Retter von Aitrang, er heißt KarlHeinz, Karl-Heinz Hartmann. Wer ihn uns geschickt hat? Vielleicht war’s der ehrwürdige Georg. Im Auto, auf der Fahrt zum Bahnhof Kaufbeuren, erzählt der Heinz, dass er seit 40 Jahren bei der Feuerwehr ist, außerdem ewig schon bei der Blaskapell­e, er spielt Zug-Posaune. Einer wie er verkörpert das, was man Gemeinwese­n nennt. Im Ort schaue man noch, wenn man den Nachbarn verdächtig lange nicht gesehen habe. Wir reden ein wenig übers Land, über den Wahnsinn der Großviehbe­triebe von Bad Grönenbach, über den ausufernde­n Maisanbau für die Biogasanla­gen („das finde ich nicht in Ordnung, Lebensmitt­el dafür hernehmen, damit hab ich ein Problem“). Es sind im Auto ja nur zwei, drei Zigaretten­längen bis Kaufbeuren. Landschaft zieht draußen vorbei – gehend wäre es ein halbes Spätnachmi­ttagsprogr­amm.

Jetzt scheint tatsächlic­h wieder die Sonne draußen. Es ist der letzte Satz im Block.

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 ??  ?? Start in Pfronten: Hier ist das Allgäu, wie man es kennt – touristisc­h bestens erschlosse­n.
Start in Pfronten: Hier ist das Allgäu, wie man es kennt – touristisc­h bestens erschlosse­n.
 ??  ?? Hohe Berge, blonde Mädchen: In der Allgäumetz­gerei wird noch mit Liebe gewurstet.
Hohe Berge, blonde Mädchen: In der Allgäumetz­gerei wird noch mit Liebe gewurstet.
 ??  ?? Postkarten­allgäu: der Blick auf den Pfrontener Kichturm hinter dem Moos.
Postkarten­allgäu: der Blick auf den Pfrontener Kichturm hinter dem Moos.
 ??  ?? Im Allgäu gibt es viele Wälder aber nur ein Wald – Wegweiser zu unserem Etappenzie­l.
Im Allgäu gibt es viele Wälder aber nur ein Wald – Wegweiser zu unserem Etappenzie­l.
 ??  ?? Auf dem Kapellenwe­g liegt in Eiterberg die Kapelle St. Simon. Altar aus dem 17. Jahrhunder­t, ergänzt um Plastikblu­men und glasierte Engel (spätes 20. Jahrhunder­t).
Auf dem Kapellenwe­g liegt in Eiterberg die Kapelle St. Simon. Altar aus dem 17. Jahrhunder­t, ergänzt um Plastikblu­men und glasierte Engel (spätes 20. Jahrhunder­t).
 ??  ?? Karl Huber und sein blauer Renault-Oldtimer, der vor seiner Werkstatt in Treffisrie­d steht.
Karl Huber und sein blauer Renault-Oldtimer, der vor seiner Werkstatt in Treffisrie­d steht.
 ??  ?? Leni, das Hängebauch­schwein von Familie Mayr in Wetzlers: Was für ein Leben beim Café ’s idipfla.
Leni, das Hängebauch­schwein von Familie Mayr in Wetzlers: Was für ein Leben beim Café ’s idipfla.
 ??  ?? Misthaufen gibt es noch viele im Allgäu. Aber nicht alle sehen aus wie ein eben gelandetes Ufo.
Misthaufen gibt es noch viele im Allgäu. Aber nicht alle sehen aus wie ein eben gelandetes Ufo.
 ??  ?? Dichtes Geäst beschattet das Dümpfelmoo­s – ein versteckte­s Naturereig­nis.
Dichtes Geäst beschattet das Dümpfelmoo­s – ein versteckte­s Naturereig­nis.
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 ??  ?? Freibadgef­ühl am Schwaltenw­eiher, einem der beliebtest­en Badeplätze im Ostallgäu. Als wäre man plötzlich selbst in der Kult-Fernsehser­ie „Irgendwie und Sowieso“: Ford Mustang in Holzmanns. Mit Kühen ist immer zu rechnen: Weiden hinter Brennholz in Ronried (kleine Bilder von oben). Wüsste man es nicht besser, hielte man die Straße zwischen Albisried und Wald schon für das Ende der Welt.
Freibadgef­ühl am Schwaltenw­eiher, einem der beliebtest­en Badeplätze im Ostallgäu. Als wäre man plötzlich selbst in der Kult-Fernsehser­ie „Irgendwie und Sowieso“: Ford Mustang in Holzmanns. Mit Kühen ist immer zu rechnen: Weiden hinter Brennholz in Ronried (kleine Bilder von oben). Wüsste man es nicht besser, hielte man die Straße zwischen Albisried und Wald schon für das Ende der Welt.
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 ??  ?? Traktor in der Scheune: Gehört im Allgäu zu den seltenen Bildern. Die meisten fahren, ständig.
Traktor in der Scheune: Gehört im Allgäu zu den seltenen Bildern. Die meisten fahren, ständig.
 ??  ?? Allgäuer Medaillens­piegel: An der Stallwand wird Geschichte erzählt.
Allgäuer Medaillens­piegel: An der Stallwand wird Geschichte erzählt.
 ??  ?? Gefangen im Regen: Zwangspaus­e in Wald. Warten auf ein Wolkenloch.
Gefangen im Regen: Zwangspaus­e in Wald. Warten auf ein Wolkenloch.

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