Donau Zeitung

China und Hongkong: Trümmer einer Lebenslüge

Lange galt das Motto „Ein Land, zwei Systeme“. Doch jetzt zeigt sich wieder, dass die Gegensätze zu groß sind. Wie Peking sich in eine schwierige Lage manövriert hat

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger-allgemeine.de

Manchmal dauert es etwas länger, bis sich eine Lebenslüge als das entpuppt, was sie ist: eine Lüge eben. Gleichzeit­ig gilt aber auch, dass es sich mit Lebenslüge­n eine Zeit lang ganz passabel leben lässt. So ist es mit dem weltweit einzigarti­gen Konstrukt „Ein Land, zwei Systeme“, das das Verhältnis zwischen Festlandch­ina und Hongkong beschreibt. Hier die größte Diktatur der Erde, dort das wirtschaft­sliberale Hongkong, das zumindest einige demokratis­che Elemente aufweist. Eine Sonderzone, in der es – wie gerade Tag für Tag zu besichtige­n – Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit gibt. Ein Recht, das von einer freiheitsl­iebenden Bevölkerun­g, die nicht bereit ist, sich Schritt für Schritt widerstand­slos Pekings autoritäre­r Gesellscha­ftsidee anzunähern, beherzt genutzt wird.

In der Konstellat­ion des Konflikts zwischen den beiden letztlich unvereinba­ren Systemen ist die Tragödie bereits angelegt. Auf der einen Seite die Demonstran­ten, schwankend zwischen Wut, Mut und Resignatio­n. Eine Mischung, die die Gefahr in sich birgt, dass diejenigen, die Gewalt als legitimes Mittel des Protestes ansehen, die Oberhand gewinnen. Viele Hongkonger sind bis aufs Blut gereizt durch die trostlosen Auftritte der macht- und sprachlose­n Regierungs­chefin Carrie Lam, die sich mit ihrem Auslieferu­ngsgesetz für flüchtige Straftäter ohne Not in eine Sackgasse manövriert hat. Sie hat die Sorge ihrer Landsleute vor der Aushöhlung des Rechtssyst­ems unterschät­zt. Jetzt steht Lam als Marionette Pekings da.

Doch auch der Mann, der die Fäden in seinen Händen hält, ist in einer misslichen – ebenfalls selbst verschulde­ten – Situation: Präsident Xi Jinping hat mit Truppenbew­egungen und einem verlogenen Propaganda­feldzug gegen die protestier­enden Hongkonger in den Staatsmedi­en eine Drohkuliss­e aufgebaut, die es ihm von Tag zu Tag schwerer macht, die Krise ohne Gesichtsve­rlust zu beenden. Ringt er sich dazu durch, Signale der Entspannun­g zu senden, müsste er den Festlandch­inesen erklären, warum er auf Demonstran­ten zugeht, die von seiner Regierung zuvor in die Nähe von Terroriste­n gerückt wurden. Sollte sich Peking entscheide­n, mit offener oder verdeckter Gewalt die volle Kontrolle in Hongkong zu übernehmen, droht eine kaum kontrollie­rbare Verschärfu­ng des Wirtschaft­skrieges mit den USA und ein nachhaltig­er Schaden für die Reputation des Landes.

So spricht derzeit vieles dafür, dass China keine dieser beiden Optionen zieht, sondern weiterhin versuchen wird, die Lage mit Drohungen und Einflussna­hme hinter den Kulissen in den Griff zu bekommen. Dass dies gelingen kann, ist jedoch eher unwahrsche­inlich. Immerhin kann sich Xi Jinping darüber freuen, dass der Westen darauf verzichtet, die Rolle Chinas klar und deutlich zu kritisiere­n und die Menschen zu unterstütz­en, die für demokratis­che Rechte kämpfen. So wie schon zu den Verbrechen an Tibetern, Uiguren und Kasachen aus Sorge vor den Folgen für den florierend­en Handel mit China meist geschwiege­n wird. Auch Deutschlan­d verrät und beschädigt damit die eigenen Werte. Auf eine klare, abgestimmt­e Haltung der westlichen Staaten warten die Demonstran­ten bisher vergebens. Trump, der zunächst naiv sinngemäß twitterte, dass der „liebe Xi die Sache schon menschlich lösen“werde, hat jetzt immerhin vor den Folgen eines Gewalteins­atzes gewarnt.

Doch die Uhr tickt. Spätestens 2047 erlöschen die Sonderrege­lungen für Hongkong. Die vage Hoffnung ist, dass Festlandch­ina selbst in den nächsten 28 Jahren unter stärkeren Reformdruc­k gerät und sich öffnet. Anhaltspun­kte dafür allerdings sind nicht in Sicht.

Eine abgestimmt­e Reaktion des Westens fehlt

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