Fukushima trainiert für Olympia
Im Jahr 2020 wird die Sportwelt nach Japan schauen. Auch in der Präfektur Fukushima finden Wettbewerbe statt – neun Jahre nach der Reaktorkatastrophe. Die Menschen sehen den Sport als Chance, das tödliche Image ihrer Stadt abzulegen. Aber ist normales Leb
Fukushima Die Stimme von Yuusuke Aita klingt freudig, wenn er von seiner Verantwortung für die Heimat spricht. Der junge Mitarbeiter im Rathaus von Koriyama, der mit 335000 Einwohnern zweitgrößten Stadt der Präfektur Fukushima, will in Kürze die Welt in seine Heimat holen – oder genauer gesagt: Sportler, die sich für die Olympischen Spiele in Japan qualifiziert haben. Aita ist zuständig für die „Host Town Initiative“im Vorfeld der Spiele. Die Idee dahinter: Japanische Orte beherbergen die Sportler eines Landes, lassen sie auf ihren Anlagen trainieren.
„Wir sind als Stadt so etwas wie die Olympia-Gastgeber für fremde Länder“, erklärt der eifrige Beamte an seinem Schreibtisch zwischen brummenden Kopiermaschinen und klingelnden Telefonen. „Wir machen hier Filmvorführungen und Kulturveranstaltungen, um unsere Gäste bekannter zu machen. Und während Olympia werden wir sie sportlich anfeuern.“Das Problem nur: In die Region Fukushima will kein Sportler kommen.
Die Stimme des jungen Beamten verliert ihren Schwung, wenn er berichten muss, dass die Niederlande ein Trainingslager in Fukushima abgesagt haben. „Sie trainieren schon in einer anderen Präfektur nahe Tokio“, erklärt Aita geknickt. „Wir würden uns natürlich freuen, wenn sie kommen würden.“
Schließlich will man auch hier, in der krisengebeutelten Präfektur Fukushima, Anteil daran haben, wenn in einem knappen Jahr der ganze Globus auf Japan blickt, weil am 24. Juli 2020 die größte Sportveranstaltung der Welt eröffnet wird. Zu diesem Zeitpunkt werden im 250 Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Fukushima City schon zwei Tage lang olympische Begegnungen im Soft- und Baseball laufen. Diese Wettbewerbe kann der Stadt keiner mehr nehmen. Die Welt soll dann sehen: In Fukushima kann man leben, der Alltag ist ungefährlich, von der größten Katastrophe der jüngeren Geschichte hat sich die Region weitgehend erholt.
Neuneinhalb Jahre werden dann vergangen sein, seit am 11. März 2011 zuerst ein Erdbeben der Stärke 9 im Nordosten Japans gemessen wurde und kurz darauf mehr als 20 Meter hohe Tsunamiwellen über die Küste hereinbrachen. Im am Wasser gelegenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi kam es in drei Reaktoren zu Kernschmelzen. Im Umfeld von 30 Kilometern mussten Menschen ihr Zuhause verlassen, 470000 waren es insgesamt. Zweieinhalb Jahre später, im September 2013, erhielt Tokio das Austragungsrecht für die Olympischen Spiele. Das lag auch daran, dass die Bewerber einen olympiabefeuerten, schnellen Wiederaufbau der beschädigten Gebiete versprachen.
Die Host-Town-Initiative soll nun die schönen Seiten Japans zeigen. Und landesweit ist das Ganze ein großer Erfolg, 304 Orte sind bis jetzt Gastgeberstädte von 107 Ländern geworden. So hat etwa die Stadt Kasami in Ostjapan als Host Town für Äthiopien daheim einen Laufwettbewerb für Jugendliche beider Länder veranstaltet. In Murayama, in Mitteljapan, sind aus dem Partnerland Bulgarien Turner gekommen und haben neben dem Sport über die traditionelle TeeZeremonie gelernt.
Nur dort, wo es nicht bloß um Kulturaustausch geht, sondern auch um Imageverbesserung, wartet man auf den Durchbruch. Nicht nur Koriyama, sondern auch eine Handvoll anderer potenzieller Gaststätten in Fukushima hat Probleme, die Olympioniken zu sich zu locken. Yuusuke Aita, der nach der Absage der Niederlande nun mit der Delegation Ungarns über ein Trainingslager verhandelt, schlägt die offizielle Broschüre für Koriyama auf. „Wir liegen 80 Kilometer von der Küste und dem havarierten Kraftwerk entfernt. Hier gibt es kein Strahlungsproblem. An den Katastrophentagen kamen Menschen zu uns, weil es hier sicher war.“Doch für die nur vage informierte Weltöffentlichkeit klingt das Wort Fukushima noch Jahre später nach Strahlengebiet.
In Fukushima City, der eine Zugstunde nördlich von Koriyama gelegenen Präfekturhauptstadt, konzentriert man sich auf die Fortschritte seit der Katastrophe. Es ist die Aufgabe von Takahiro Sato und seinen Beamtenkollegen, die Erfolge zu verbreiten. Auch an diesem Tag berichtet er in der stickigen Luft eines öffentlichen Tagungsraumes von all dem, was die Welt dringend über Fukushima wissen sollte. „Wir sind Japans Vorreiter in erneuerbaren Energien und haben ein Zentrum für die Entwicklung von Robotern entwickelt. Unsere landwirtschaftliche Produktion hat sich von der Krise fast schon erholt.“Als Sato, ein legerer Herr im T-Shirt, über diverse Fortschritte doziert, lächelt er nach seinem Vortrag ins Plenum und bringt alles zusammen: „Nun, der Sport soll uns dabei helfen, mit der Welt in Austausch zu treten. Damit sie auch die gute Seite von Fukushima sieht.“
Eine gute Seite gibt es in der Tat. Sie zeigt sich zum Beispiel in Minamisoma, einer Stadt 25 Kilometer nördlich von der Kraftwerksruine, wo im Juli der erste Strand für Badegäste eröffnete. Vor achteinhalb Jahren bedeckten den Sand noch Körper verstorbener Menschen, seit kurzem spielen wieder Kinder in der Brandung und es steigen Surfwettbewerbe. Die gute Seite zeigt sich auch an Preisverleihungen für den besten Reisschnaps Japans, wo seit einigen Jahren Brennereien aus Fukushima gewinnen. Generell liegt die regionale Wirtschaftsschöpfung heute über dem Vorkrisenniveau. Und das Gastgewerbe in Fukushima verzeichnete im vergangenen Jahr landesweit eine der höchsten Zuwachsraten.
Allerdings liegt die absolute Zahl von Besuchern noch immer niedriger als der japanische Durchschnitt. Ähnlich ist es mit der Erholung der Wirtschaft, deren Wachstumszahlen sich maßgeblich durch die Wiederaufbauaktivität erklären, die ohne eine Katastrophe ja nie nötig gewesen wäre. Und über die Gründe für das erhöhte Aufkommen von Schilddrüsenkrebs unter Kindern, die sich zur Zeit des Atom-GAUs im Umkreis des Kraftwerks aufhielten, wird gestritten.
Die Vorträge von Takahiro Sato und seinen Kollegen sind freundlich, offen – aber auch einseitig. Sie sprechen nicht über die Krebsfälle. Sie betonen auch nicht, dass die Reaktorruine weiterhin ein Risiko darstellt, weil der strahlende Schmelz noch lange nicht abtransportiert werden kann. Und bei der Zählung der verbleibenden Heimatlosen, die die Präfektur auf rund 42 000 beziffert, wird auch nicht erklärt, dass dabei nur diejenigen berücksichtigt sind, die auch zurückkehren wollen. Aber vor allem junge Menschen haben eine Rückkehr schon aufgegeben.
Und wenn Sato stolz erzählt, dass in Fukushima City nächstes Jahr olympische Begegnungen im Baseball und Softball stattfinden werden und dies den Wiederaufbau Fukushimas charakterisiere, fällt die fragwürdige Symbolik auf: Fukushima City war nie evakuiert, das Stadion für die Wettkämpfe auch nie beschädigt. Die viel größeren Probleme liegen anderswo in der Region, bis heute.
Es ist auch diese selektive Erzählung des Wiederaufbaus, die der Region bis heute Probleme bereitet. Im Ausland rechnet man immer noch mit Horrornachrichten, in Regierungskreisen will man Errungenschaften. Dazwischen hängen Städte wie Koriyama, die auch wegen dieses Widerspruchs um Gäste kämpfen müssen, die vermeintlich mutig genug für einen Besuch sind, obwohl dort in Wahrheit kaum Gefahren lauern. Dazwischen mehren sich mittlerweile aber auch die Kritiker der Olympia-Agenda Japans. Denn wenn Tokio 2020 von den Veranstaltern zu den „Spielen des Wiederaufbaus“erklärt wird, sollte der Fokus dann nicht auch wirklich auf dem Wiederaufbau liegen und nicht auf Imagepolitur?
Zu den lautesten Kritikerinnen gehört Misako Ichimura. An einem heißen Tokioter Abend erholt sie sich in einem runtergekühlten Café im Westen des Zentrums, nachdem sie kurz zuvor draußen einen Straßenprotest organisiert hatte. Von vielen Seiten werde hoher Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, um beim Projekt Olympia mitzuziehen, sagt sie. Ichimura, eine international vernetzte Kunsthändlerin, war mit ihrem Verein „Hangorin“, dessen Name sich mit „Gegen die fünf Ringe“übersetzt, schon vor der Vergabe des Austragungsrechts gegen die Spiele in Tokio.
„Viele Japaner wollen Olympia nicht“, glaubt Ichimura. „Aber sie sagen nichts. Sie werden allerdings auch nicht gefragt.“Von allgemeiner Begeisterung werde einfach ausgegangen, in Form von schwärmerischen TV-Programmen, großen Plakaten und sich mit dem Emblem schmückenden Politikern. Denn wer sei schon gegen ein globales Sportevent, das die Welt nach Japan bringt und zugleich den Wiederaufbau nach einer Katastrophe zu befeuern vermag?
Aber so einfach sei es eben nicht. „Es ist bei Olympischen Spielen jedes Mal und überall so“, holt Misako Ichimura aus. „Für ein paar Wochen Sportspaß werden Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben, die Überwachung der Leute wird vorangetrieben, vieles auf Steuerkosten finanziert. Und im Fall Japans steht der Wiederaufbau im Nordosten des Landes natürlich nicht wirklich im Fokus.“Aber mit solchen Standpunkten sei Hangorin über die letzten Jahre kaum in die
„Viele Japaner wollen Olympia nicht. Aber sie sagen nichts.“
Aktivistin Misako Ichimura
Zeitungen gekommen. Was wiederum nicht verwundert, wenn man sich die Sponsorenliste der Olympischen Spiele ansieht. Jede der größten Tageszeitungen zählt dazu sowie viele der größten Konzerne und die einflussreichste Werbeagentur des Landes.
Auf einer Pressekonferenz in Tokio im Juli, zu der vor allem ausländische Journalisten kamen, forderte Misako Ichimura auch, dass die Milliarden, die unter anderem in neue Stadien gesteckt werden, doch lieber an die evakuierten und zerstörten Gebiete in Fukushima und den Nachbarpräfekturen gingen. „Aber solche Vorschläge werden ignoriert. Stattdessen heißt es, ich sei gegen den Wiederaufbau von Fukushima, weil ich nämlich gegen die Olympischen Spiele bin.“Ichimura lacht, als könnte sie das selbst kaum fassen.
„Die Regierung, die Industrie und viele Journalisten wollen, dass wir brav nicken und einfach bei dem Olympiaplan mitmachen.“Aber den zerstörten Gebieten, da ist sie sich sicher, könnte man ohne Olympia viel besser helfen. Fukushima wäre dann zwar nicht Juniorgastgeber der größten Sportveranstaltung der Welt und würde im nächsten Jahr wohl auch weniger Besucher anlocken. Aber es bliebe mehr Geld für diejenigen, die dringendere Probleme haben als ein zweieinhalbwöchiges Spektakel.