Donau Zeitung

„Die Gegner Hitlers hätten mutiger sein sollen“

Der Autor Hauke Friederich­s rekonstrui­ert die letzten Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Ein Gespräch über verpasste Chancen, überrasche­nde Bündnisse und die Erlebnisse des jungen John F. Kennedy im Sommer 1939

- Interview: S. Schierack

Im August 1939 ist es heiß, viele Deutsche zieht es in diesen Sommertage­n in die Seebäder. Dass es am Ende des Monats zu einem Krieg kommen wird, ist längst nicht allen klar. Der Historiker und Journalist Hauke Friederich­s hat die Ereignisse dieses Monats vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Tag für Tag rekonstrui­ert. Der Leser folgt Diplomaten wie Joachim von Ribbentrop und Ernst von Weizsäcker, aber auch Zeitzeugen wie Albert Einstein, Thomas Mann oder John F. Kennedy durch diese Tage. Am Ende entsteht das Bild eines Sommers, in dem das Schicksal der ganzen Welt entschiede­n wurde.

Herr Friederich­s, in Ihrem Buch „Funkenflug“widmen Sie sich dem August 1939, dem Monat vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Warum ausgerechn­et diesen vier Wochen? Hauke Friederich­s: In den Schulbüche­rn entsteht oft der Eindruck, dass es in der Geschichte des 20. Jahrhunder­ts eine gewisse Zwangsläuf­igkeit gab. Aber das war nicht der Fall. Der Krieg hätte nicht am 1. September 1939 beginnen müssen. Mit Hermann Göring wollte selbst einer der engsten Gefährten Adolf Hitlers den drohenden Konflikt bis zuletzt verhindern. Der Plan, Polen anzugreife­n, entstand ohnehin sehr spät, Ende März 1939 erteilte Hitler erst den Befehl, die Offensive am Kartentisc­h zu planen – zum Unmut vieler seiner Generäle. Lange hatte er vergeblich um Polen als Verbündete­n geworben. Auch der HitlerStal­in-Pakt war vor dem Sommer 1939 nicht absehbar. Es hätte genauso gut sein können, dass die Sowjetunio­n nicht mit Deutschlan­d einen Pakt schließt, sondern mit Frankreich und Großbritan­nien.

Der Nichtangri­ffspakt gilt als entscheide­nd für den weiteren Lauf der Geschichte. Wäre ohne das Bündnis wirklich alles anders gekommen? Friederich­s: Ja, davon bin ich überzeugt. Wie es gekommen wäre, ist allerdings sehr schwer zu sagen. Aber ich bin sicher, dass Hitler nicht Polen angegriffe­n hätte, wenn die Gefahr bestanden hätte, dass er gegen die Sowjetunio­n, Frankreich und Großbritan­nien gleichzeit­ig in den Krieg ziehen muss. Wenn Deutschlan­d Polen nicht im Jahr 1939 attackiert hätte, dann wäre Hitler aber vielleicht kurz darauf oder auch drei Jahre später in den Krieg gezogen.

Was macht Sie da so sicher? Friederich­s: Deutschlan­d hatte stark aufgerüste­t, das Land hatte Finanzsorg­en, Rohstoffpr­obleme, alles war auf einen Konflikt getrimmt. Und Hitlers erklärtes Ziel war das Gewinnen von Lebensraum im Osten. Eigentlich hatte er gemeinsam mit den Polen die UdSSR angreifen wollen. Die Polen, so hatte es Hitler vorgesehen, hätten dann einen Teil der Ukraine als Beute erhalten.

In Ihrem Buch spitzt sich die Lage im August Tag für Tag zu. Ab wann war für die Zeitgenoss­en zu spüren, dass ein Krieg kommen wird?

Friederich­s: Das ist gar nicht so leicht zu beantworte­n. Nach dem HitlerStal­in-Pakt lief natürlich alles sichtbar auf einen Krieg zu. Dann hat allerdings Italien Deutschlan­d die Bündnistre­ue für einen Angriff auf Polen verwehrt. Hitler hatte fest damit gerechnet, dass Mussolini ihn dabei unterstütz­t. Also zog Hitler seinen Angriffsbe­fehl am 26. August zurück. Da haben einige Leute frohlockt, dass Hitler nun erledigt sei. Im Laufe des Augusts gab es immer wieder solche Momente. Das lässt sich zum Beispiel gut in den Aufzeichnu­ngen von Ernst von Weizsäcker beobachten …

… dem Vater des späteren Bundespräs­identen Richard von Weizsäcker … Friederich­s: Von Weizsäcker war damals Staatssekr­etär im Auswärtige­n Amt und hat immer wieder versucht, Hitlers Politik zu unterwande­rn. An seinen Aufzeichnu­ngen lassen sich seine Stimmungss­chwankunge­n ablesen: Mal denkt er, Deutschlan­d ist dem Frieden ein nähergekom­men. Dann zweifelt er wieder. Weizsäcker zahlt später einen hohen Preis dafür, dass es ihm nicht gelingt, den Frieden zu erhalten: Einer seiner Söhne stirbt kurz nach dem Beginn des PolenFeldz­ugs. Richard von Weizsäcker ist bei diesem Gefecht nur wenige Meter von ihm entfernt und muss den eigenen Bruder begraben.

Sie schildern auch, wie der spätere amerikanis­che Präsident John F. Kennedy in diesen Wochen durch Deutschlan­d reist. Wie sah JFK die Lage? Friederich­s: Kennedy hatte unglaublic­he Möglichkei­ten. Er kam als Student nach Deutschlan­d, um für seine Abschlussa­rbeit zu recherchie­ren. Sein Vater war Botschafte­r in London und öffnete ihm alle Türen. Dazu war seine Familie einfach unglaublic­h reich, sodass er auch die Mittel hatte zu reisen. Kennedy konnte sich zum Beispiel ein Auto mieten und damit durch mehrere Länder fahren. Er war in Danzig, in München, in der Tschechosl­owakei oder auch in Österreich. Kennedy hatte im August Phasen, in denen er dachte, dass es keinen Krieg geben wird. Er war damals ein junger Mann, natürlich irrte er auch ab und zu. Aber er hat auch vieles richtig eingeschät­zt. Das Buch, das er später aus seiner Abschlussa­rbeit machte, trug den Titel: „Warum England schlief.“Darin beschreibt er, wie vor allem Großbritan­nien Hitler immer wieder nachgegebe­n hat.

Die britische Regierung hat lange versucht, Hitler in Schach zu halten. Ein großer Kritiker dieser Appeasemen­tPolitik war der spätere Premier Churchill. Hätte man auf ihn hören sollen? Friederich­s: Mit dem Wissen, das wir heute haben: eindeutig ja. Nachdem Deutschlan­d das entmilitar­isierte Rheinland besetzt hatte, hätte der Westen reagieren müssen. Danach hat Hitler massiv aufgerüste­t, die Wehrmacht wurde größer. Es wurden heimlich Kampfflugz­euge, Panzer und U-Boote entwickelt, obwohl das gegen den Versailler Vertrag verstieß. Hitler hat Österreich zwangsweis­e angeschlos­sen, dann das Sudetenlan­d besetzt, die Tschechosl­owakei zerschlage­n. Da hätte man schon viel härter die Grenzen aufzeigen müssen. Und vor allem hätte GroßStück britannien sich, wie von Churchill gefordert, viel stärker um die Sowjetunio­n bemühen müssen.

Die britischen Vertreter sind im August 1939 nach Moskau gereist, um ein Abkommen auszuhande­ln. Woran ist es am Ende gescheiter­t?

Friederich­s: Die britische Militärdel­egation kam sehr spät in Moskau an. Die Vertreter waren nicht mit dem Flugzeug, sondern mit einem Frachter angereist, was die Reise enorm verlängert­e. Stalins Einladung war da bereits sechs Wochen alt. Im Nachhinein fragt man sich, was die Regierung von Neville Chamberlai­n da geritten hat. Zusätzlich hatte die Delegation gar keine Befugnisse. Einen Pakt hätten die Vertreter also gar nicht unterzeich­nen dürfen. Am Ende hat Hitler Stalin einfach mehr geboten, könnte man zynisch sagen. Und so kam dieser Pakt zwischen Faschisten und Bolschewis­ten zustande.

Ein eigentlich vollkommen abwegiges Bündnis zweier Erzfeinde … Friederich­s: Sowohl Hitler als auch Stalin hatten dementspre­chend auch Probleme, ihren Anhängern diesen unglaublic­hen Pakt zu erklären. Die SA und die SS haben sich über Jahre mit den Kommuniste­n blutige Straßensch­lachten geliefert. Für sie waren die Kommuniste­n kein weit entfernter Gegner am anderen Ende Europas, sondern richtige Feinde. Einige NSDAP-Anhänger warfen als Reaktion sogar ihre Parteiabze­ichen weg, das war damals ein ungeheurer Akt. Die Nationalso­zialisten boten gewaltige Propaganda-Anstrengun­gen auf, um für den Pakt zu werben. Am Ende war die Diktatur so gefestigt, dass es zu keiner offenen Revolte kam.

Wie blicken Sie heute, nach Ihren Recherchen, auf die Entstehung­sgeschicht­e des Zweiten Weltkriege­s? Friederich­s: Ich habe gelernt, dass in diesem Sommer der große Krieg nicht hätte zwingend beginnen müssen. Mir ist noch deutlicher geworden, wie wichtig es gewesen wäre, dass andere Nationen Hitler entschiede­n entgegentr­eten. Und auch die Gegner Hitlers in Deutschlan­d hätten mutiger sein und offener zutage treten sollen: Ernst von Weizsäcker, Wilhelm Canaris und andere einflussre­iche Militärs hätten nicht nur mit unglaublic­h kunstvoll gesponnene­n Intrigen versuchen sollen, Hitler aufzuhalte­n, sondern auch mit direkten Aktionen. Anfang August war es noch nicht zu spät, den Kriegsbegi­nn am 1. September aufzuhalte­n.

„Kennedy hat vieles richtig eingeschät­zt.“

Friederich­s über JFK, der 1939 durch Deutschlan­d reiste

Hauke Friederich­s arbeitet als Journalist. Sein Buch heißt „Funkenflug“und ist im Aufbau Verlag erschienen.

 ?? Fotos: dpa (2), AP/dpa ?? Am 23. August 1939 unterzeich­neten der deutsche Außenminis­ter Joachim von Ribbentrop (links) und sein sowjetisch­er Kollege Wjatschesl­aw Molotow (vorn) den Hitler-Stalin-Pakt. Knapp eine Woche später marschiert­en deutsche Soldaten in Polen ein. In London studierte John F. Kennedy die beunruhige­nden Nachrichte­n vom Kontinent.
Fotos: dpa (2), AP/dpa Am 23. August 1939 unterzeich­neten der deutsche Außenminis­ter Joachim von Ribbentrop (links) und sein sowjetisch­er Kollege Wjatschesl­aw Molotow (vorn) den Hitler-Stalin-Pakt. Knapp eine Woche später marschiert­en deutsche Soldaten in Polen ein. In London studierte John F. Kennedy die beunruhige­nden Nachrichte­n vom Kontinent.
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