Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (41)
Quasimodo’s ganzer Körper schütterte zusammen, als ob er plötzlich aus dem Schlafe erwacht wäre. Jetzt fing er an zu begreifen, was mit ihm vorging. Er rang und wand sich in seinen Banden; ein heftiges Zucken der Ueberraschung und des Schmerzes verzerrte die Muskeln seines Gesichts, aber seinen Lippen entfuhr kein Seufzer.
Er drehte bloß seinen Kopf bald rückwärts, bald links, bald rechts, wie ein Stier, den eine Bremse in die Seite sticht. Dem ersten Hieb folgte ein zweiter, dann ein dritter und so fort. Das Rad hörte nicht auf sich zu drehen, in gleichem Maße fielen die Hiebe hageldicht. Bald rieselte das Blut aus hundert Oeffnungen über die schwarzen Schultern des Buckligen herab. Quasimodo hatte, wenigstens dem Anschein nach, seine vorige Fühllosigkeit wieder angenommen. Zuerst hatte er, insgeheim und ohne große äußere Anstrengung, seine Bande zu zerreißen gesucht. Sein Auge glühte, seine Muskeln spannten sich an, er raffte die
ganze Kraft seines Körpers zusammen, und man sah, wie sich die Riemen dehnten, die ihn gefesselt hielten. Die Anstrengung war kraftvoll und verzweifelt, aber die Bande waren allzustark und widerstanden ihr. Sie krachten, aber hielten fest. Quasimodo fiel erschöpft zurück. An der Stelle des Stumpfsinns erblickte man in seinen Zügen das Gefühl einer tiefen und bitteren Muthlosigkeit. Er schloß sein einziges Auge, ließ das Haupt auf die Brust sinken und blieb so unbeweglich, als ob sein Leben entflohen wäre. Nichts vermochte ihm eine Bewegung zu entreißen: weder sein Blut, das in Strömen floß, noch die verdoppelten Hiebe des Henkers, die mit stets wachsender Heftigkeit fielen, noch das Zischen der Geißel, die um seine Ohren sauste. Endlich streckte ein Gerichtsbote des Chatelet, der, schwarz gekleidet, auf einem schwarzen Rosse neben dem Driller hielt, um über die Vollziehung des Urtheils zu wachen, seinen Stab von Ebenholz aus. Der Henker hielt inne. Das Rad stand still. Quasimodo’s Auge öffnete sich langsam wieder. Die Geißelung war vorüber. Zwei Knechte des geschworenen Stockmeisters wuschen die blutigen Schultern des Patienten, rieben sie mit Balsam ein und warfen eine Decke über seine nackten Schultern.
Noch war nicht Alles für den armen Zwerg beendet; er hatte noch eine Stunde auf dem Pranger auszuhalten. Quasimodo war, wie wir bereits wissen, ziemlich allgemein verhaßt. Es gab kaum Einen Zuschauer unter der ihn umgebenden Menge, der sich nicht aus diesem oder jenem Grunde über den bösartigen Großbuckel der Liebfrauenkirche beklagen zu müssen glaubte. Die Freude war daher allgemein, als man ihn auf dem Pranger erblickte; und die blutige Stäupung, die er so eben erlitten, hatte, statt das Mitleid zu wecken, die öffentliche Munterkeit und Schadenfreude nur noch vermehrt. Die Weiber zeichneten sich bei dieser Gelegenheit, wie bei anderen solcher Art, besonders aus. Da war keine, die ihm nicht entweder wegen seiner Bosheit oder wegen seiner Häßlichkeit gram gewesen wäre. Die letzteren waren die wüthendsten.
„Oh, Maske des Antichrist!“rief die eine.
„Ritter vom höllischen Besenstiel!“schrie die andere.
„Die schöne tragische Grimasse,“heulte eine dritte, „und wer würde den Narrenpabst machen, wenn heute gestern wäre?“
„Gut,“fügte ein altes Weib hinzu, „das ist die Grimasse des Schandpfahls; wann wird die des Galgens kommen?“
„Wann wirst Du hundert Schuh unter der Erde liegen mit Deiner großen Glocke als Nachtmütze auf dem Kopf, verdammter Glockenläuter!“
„Und dieser Satan soll das Angelus einläuten?“
„Oh, der Taube! der Einäugige! der Bucklige! Das Scheusal!“
Tausend Verwünschungen regneten zumal auf den Unglücklichen; das Zischen und Lachen nahm kein Ende und von da und dort flogen Steine auf ihn.
Quasimodo war taub, aber er sah mit seinem einzigen Auge hell genug, und die öffentliche Wuth war nicht minder deutlich auf den Gesichtern zu lesen, als sie sich durch Worte aussprach. Die Steine, die auf den Unglücklichen geworfen wurden, gaben vollends den Text dazu.
Quasimodo hielt im Anfang fest, nach und nach aber erlag seine Geduld, die sich unter der Geißel des Henkers nicht verläugnet hatte, unter den wiederholten Stichen der ihn umschwärmenden Insekten. Der asturische Stier, der ruhig bleibt bei den Angriffen des Picadors, wird wüthend beim Anblick der Hunde und der Fahnenschwinger, die ihn hetzen.
Quasimodo warf erst einen drohenden Blick auf die Menge; aber geknebelt wie er war, vermochte sein Blick nicht die Fliegen zu verscheuchen, die in seine offenen Wunden stachen. Jetzt knirschte er in seinen Banden und suchte sie zu zerreißen. Das Gerüste krachte unter seiner Anstrengung. Vergebens, und das Zischen und Lachen um ihn her wurde immer heftiger.
Jetzt wurde der Unglückliche, da er seine Bande nicht zu zerreißen vermochte, plötzlich wieder ruhig; nur stieß er von Zeit zu Zeit einen Seufzer der Wuth aus, der ihm die Brusthöhle zersprengen zu wollen schien. In seinen stumpfsinnigen Zügen war keine Empfindlichkeit für Ehre und Schande zu lesen; er war zu sehr roher Naturmensch, um zu wissen, was bürgerliche Schande sei. Nur Zorn, Haß, Verzweiflung zogen allmählig aus diesem häßlichen Gesichte ein immer düstereres Gewölke, je mehr und mehr von einer Elektricität geschwängert, welche in tausend Blitzen aus dem brennenden Auge des Cyklopen ausströmte.
Dieses Gewölke hellte sich einen Augenblick auf, als Quasimodo mitten unter der Menge einen Maulesel erblickte, auf dem ein Priester saß. Bei diesem Anblick, so entfernt er noch war, wurden die Züge des armen Patienten milder, Zorn und Haß verschwanden und machten einem seltsamen Lächeln von unaussprechlicher Milde, Zahmheit und Zärtlichkeit Platz. Je näher der Priester kam, um so deutlicher, bestimmter, strahlender wurde dieses Lächeln. Der Unglückliche schien die Ankunft eines Heilandes und Retters zu begrüßen. Als aber das Maulthier nahe genug am Pranger war, daß sein Reiter den Patienten erkennen konnte, schlug der Priester die Augen nieder, wendete plötzlich sein Thier um, gab ihm beide Sporen, als ob er sich eilends dem demüthigenden Hülferufen des Delinquenten entziehen wollte und wenig geneigt wäre, an solchem Ort und in solcher Lage von dem armen Teufel erkannt und begrüßt zu werden.
Dieser Priester war der Archidiakonus Claude Frollo.
Jetzt umzog sich Quasimodo’s Gesicht noch finsterer als zuvor. Noch eine Zeitlang mischte sich dem düsteren Gewölke ein Lächeln bei, aber bitter, entmuthigt, tiefbetrübt. Die Zeit verfloß. Jetzt stand der Unglückliche wenigstens anderthalb Stunden da, blutig gegeißelt, mißhandelt, verhöhnt, fast gesteinigt.