Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (45)
Das Zigeunermädchen betrachtete ihn noch immer; jetzt erröthete sie, als ob ihr eine Flamme ins Gesicht gestiegen wäre, nahm ihren Tambourin unter den Arm und ging, zum großen Verdrusse der Zuschauer, der Pforte des Hauses zu, von dessen Balkon Phöbus sie gerufen hatte: sie ging langsam, schwankend und mit dem angsterfüllten Blicke eines Vogels, der dem Zauberblick einer Schlange gehorcht.
Bald darauf hob sich die Tapete der Eingangsthüre, und das Zigeunermädchen erschien auf der Schwelle des Zimmers; hoch erröthend, verlegen, athemlos, mit niedergeschlagenen Augen, wagte sie nicht einzutreten.
Die kleine Berangere klatschte vor Vergnügen mit den Händen.
Die Tänzerin blieb unbeweglich auf der Thürschwelle stehen. Ihr Erscheinen hatte auf die Gruppe der jungen Mädchen einen sonderbaren Eindruck gemacht. Ein vages und unbestimmtes Verlangen, dem
schönen Offizier zu gefallen, belebte sie Alle zumal; seine glänzende Uniform war der Spiegel, in dem alle ihre Koketterien widerstrahlten, und seit seiner Anwesenheit bestand zwischen ihnen eine gewisse geheime Eifersucht, welche sie sich kaum selbst bekannten, die aber gleichwohl jeden Augenblick in ihren Geberden und Reden zum Vorschein kam. Da sie jedoch Alle ungefähr gleich schön waren, so kämpften sie mit gleichen Waffen, und jede von ihnen konnte auf den Sieg hoffen. Das Erscheinen der Zigeunerin störte plötzlich dieses Gleichgewicht. Sie war von einer so seltenen Schönheit, daß sie, als sie die Schwelle betrat, in dem ganzen Zimmer einen ihr eigenthümlichen Schein zu verbreiten schien. In diesem engen Raume, von vier Mauern eingeschlossen, war sie unendlich schöner und strahlender, als auf dem öffentlichen Platze. Sie glich einer Fackel, die man vom hellen Tageslicht in den Schatten bringt. Die adeligen Damen wurden wider Willen von ihr geblendet. Jede fühlte sich in ihrer Schönheit gleichsam verwundet. Auch änderte sich alsogleich ihre Schlachtordnung, ohne daß sie sich mit einem einzigen Worte darüber verständigten. Der weibliche Instinkt versteht sich schneller, als der männliche Verstand. Eine allgemeine Feindin war erschienen: Alle fühlten es, Alle verbündeten sich gegen sie. Ein einziger Tropfen rothen Weins färbt ein ganzes Glas Wasser; um eine ganze Versammlung schöner Weiber mit einer gewissen Laune zu färben, bedarf es nur der Ankunft einer noch schöneren Frau, besonders wenn nur ein einziger Mann in der Gesellschaft ist.
Die so angelegentlich herbeigerufene Zigeunerin wurde eiskalt empfangen. Die Edeldamen betrachteten sie vom Kopf bis zu den Füßen, sahen sich dann untereinander selbst an, und hiermit war Alles gesagt: sie hatten sich wechselseitig verstanden. Inzwischen wartete das arme Mädchen auf eine Anrede und war so bewegt, daß sie kaum die Augen wieder aufzuschlagen wagte. Der Kapitän brach zuerst das Stillschweigen. „Auf meine Ehre,“sagte er mit seinem Tone unerschrockener Albernheit, „das ist ein herrliches Geschöpf! Was meint Ihr, schöne Base?“Diese Bemerkung, die ein gebildeterer Bewunderer wenigstens leise gesagt hätte, war nicht geeignet, die weiblichen Eifersuchten niederzuschlagen, die das Zigeunermädchen umlagert hielten. Fleur-de-Lys antwortete dem Kapitän in affektirt wegwerfendem Tone: „Nicht so übel!“Die Andern kicherten. Die alte Dame, vielleicht die eifersüchtigste von Allen, weil sie es für ihre Tochter war, sagte zu der Tänzerin: „Tritt näher, Kleine!“„Tritt näher, Kleine!“wiederholte Berangère mit komischer Würde. Die Aegypterin trat auf die Edeldame zu. „Schönes Kind,“sagte Phöbus mit Begeisterung und trat ihr einige Schritte entgegen, „ich weiß nicht, ob ich das unaussprechliche Glück habe, von Dir wieder erkannt zu werden?“Sie unterbrach ihn, indem sie ihn mit einem graziösen Lächeln anblickte und schnell erwiederte: „O ja! O ja!“„Sie hat ein gutes Gedächtnis,“sagte Fleur-de Lys mit bitterem Lachen. „Ei,“fuhr Phöbus ungestört fort, „Du bist mir da neulich unter der Hand entwischt. Fürchtest Du mich denn?“„O nein! O nein!“sagte schnell das Zigeunermädchen. In diesem O ja und in diesem O nein lag Etwas, was sich nicht beschreiben läßt, und wodurch sich Fleur-de-Lys gekränkt fühlte.
„Du hast mir da an Deiner Stelle, mein schönes Kind,“fuhr der Kapitän fort, dessen Zunge geläufiger wurde, seit er mit einem Straßenmädchen sprach, „einen saubern Vogel zurückgelassen, einäugig und bucklig, den Glöckner des Bischofs, glaube ich. Man hat mir gesagt, daß er der Bastard eines Archidiakonus und von Geburt ein Teufel sei. Er hat einen wunderlichen Namen, Ostertag, Pfingsttag, oder wie Teufels er heißt! Ein Festtag ist es! Der Bursche hat sich also unterstanden, Dich zu entführen, als ob Du für solche Lümmel gemacht wärest! Das ist etwas stark. Was Teufels wollte sie denn von Dir, diese Nachteule? He! was sagst Du?“
„Ich weiß nicht,“antwortete die Zigeunerin.
„Unbegreifliche Unverschämtheit! Ein Glöckner ein Mädchen entführen, wie ein Graf! Ein so gemeines Vieh in das Gehege des Adels einbrechen! Aber er hat es büßen müssen, der Hund! Meister Pierrat Torterue läßt seine Peitsche schwer auffallen, und es wird Dir Freude machen, zu erfahren, daß er Striemen von dem Rücken des unverschämten Glöckners gehauen hat.“
„Armer Mensch!“sagte die Zigeunerin, der diese Worte die Scene am Schandpfahl wieder in Erinnerung brachten.
Der Kapitän wollte sich vor Lachen ausschütten. „Bei den Hörnern aller Ochsen!“rief er aus, „da ist das Mitleid so übel angebracht, als eine Feder am Hintern einer Sau, und mein Bauch soll so dick werden, als der des Pabstes, wenn ...“
Er hielt plötzlich inne. „Verzeihung, meine Damen! Ich glaube, ich habe einige Dummheiten gesagt.“
„Pfui, mein Herr!“sagte Gaillefontaine.
„Er redet mit diesem Geschöpf ihre Sprache!“fügte Fleur-de-Lys, deren Verdruß von Minute zu Minute stieg, halblaut hinzu.
Dieser Verdruß verminderte sich nicht, als der Kapitän, bezaubert von der Zigeunerin und seiner eigenen Person, sich auf dem Absatz herumdrehte und mit plumper soldatischer Galanterie wiederholte: „Ein schönes Mädchen, auf Ehre und Seligkeit!“
„Wie eine Halbwilde gekleidet,“sagte Diane de Christeuil und bleckte ihre schönen Zähne.
Diese Bemerkung war ein Lichtstrahl für sämtliche Damen. Sie zeigte ihnen die wunde Seite der Ägypterin. Da sie ihrer Schönheit nichts anhaben konnten, so warfen sie sich auf ihren Anzug.
„Das muß wahr sein, Kleine,“sagte die Montmichel, „wie magst Du so ohne Brusttuch und Busenschleier durch die Straßen laufen?“
„Ihr Rock ist so kurz, daß einem Angst und bange wird,“fügte Gaillefontaine hinzu.