Donau Zeitung

Wie der Diesel die Gerichte zum Qualmen bringt

Eine neue Klagewelle hat die Landgerich­te erreicht. Die Prozesse sind in jeder Hinsicht komplex – und könnten sogar die Rechtsprec­hung verlangsam­en. Richter hoffen indes auf personelle Unterstütz­ung. Vergeblich?

- VON JONATHAN MAYER

Stuttgart Im Saal 225 des Stuttgarte­r Landgerich­ts wird heute über einen der größten Skandale der vergangene­n Jahre verhandelt. Oder zumindest über einen Ausläufer davon. Einen von vielen. Der Raum irgendwo im zweiten Stock ist gerade so groß genug für die vier Tische für Richter, Anwälte und mögliche Zeugen. Wer sich im Gebäude nicht auskennt, würde auf Anhieb wohl kaum hierher finden. Zum Prozessauf­takt sind nur Richter Bernhard Schabel, eine Referendar­in und zwei Anwälte gekommen. Zuschauer: keine. Das öffentlich­e Interesse an den Verhandlun­gen rund um den Diesel-Skandal ist nicht sonderlich hoch.

Schabel hat schon dutzende solcher Verhandlun­gen geführt. Trocken, routiniert spricht er in sein Diktierger­ät und erklärt noch einmal, worum es heute geht: Eine Frau, selbst nicht anwesend, fordert vom Daimler-Konzern knapp 9000 Euro. Sie klagt auf Schadeners­atz wegen vorsätzlic­her sittenwidr­iger Schädigung. Der Vorwurf: In ihrem Auto – ein Mercedes GLC 250, Diesel, 2016 als Neuwagen gekauft – sei eine vermeintli­ch illegale Abschaltei­nrichtung eingebaut, die über das sogenannte „Thermofens­ter“funktionie­rt. Der Konzern bestreitet das.

Fälle wie dieser sind längst keine Seltenheit mehr an deutschen Landgerich­ten. Seit der Diesel-Skandal um Volkswagen publik wurde, steigt die Zahl der Klageerheb­ungen. Bisher war davon überwiegen­d VW betroffen. Relativ neu ist, dass in großem Maße auch gegen andere Unternehme­n wie Daimler oder Audi geklagt wird. Das hängt unter anderem mit der Verjährung­sfrist vieler Fälle zusammen. Die Gerichte leiden unter der Mehrbelast­ung – und die Folgen treffen am Ende die Kläger selbst.

Allein am Stuttgarte­r Landgerich­t, das für eine Vielzahl der Klagen gegen Daimler zuständig ist, sind nach offizielle­n Angaben im ersten Halbjahr 2019 mehr als 1100 Klagen gegen den Autobauer eingegange­n. Damit sei die Zahl der erstinstan­zlichen Zivilklage­n im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum um 28 Prozent gestiegen – zum zweiten Mal in Folge. Denn schon davor war Zahl um knapp ein Viertel gestiegen. Verschiede­ne Anwaltskan­zleien haben in den vergangene­n Wochen und Monaten außerdem angekündig­t, Massenklag­en mit tausenden weiteren Fällen vorzuberei­ten.

Angesichts dieser Entwicklun­g warnte Landgerich­tsdirektor Andreas Singer kürzlich vor den Folgen: „Wir stehen vor einer riesigen Herausford­erung, deren Ausmaß wir derzeit noch gar nicht abschließe­nd einschätze­n können. Aber klar ist, dass wir für eine auf Jahre angelegte strukturel­le Mehrbelast­ung dringend Verstärkun­g brauchen.“Er befürchte, dass die durchschni­ttliche Verfahrens­dauer von aktuell siebeneinh­alb Monaten nicht mehr zu halten sei.

Stuttgart ist damit nicht allein. In Ingolstadt etwa, dem Hauptsitz von Audi, hat sich die Gesamtzahl der Zivilklage­n innerhalb eines Jahres nach Angaben des Landgerich­ts um mehr als 1100 auf etwa 2600 erhöht. 800 davon richten sich gegen Audi. Einen zentralen Unterschie­d gibt es jedoch: Während in Stuttgart, dem zweitgrößt­en Landgerich­t Deutschlan­ds, 171 Richter tätig sind, arbeiten in Ingolstadt gerade einmal 24, einige davon in Teilzeit. Heike Linz-Höhne, Richterin und Sprecherin des Landgerich­ts, erklärt: „Zeitlich gesehen ist die aktuelle Welle für andere Verfahren eine Katastroph­e.“In Ingolstadt etwa würden zehn zusätzlich­e Stellen benötigt, um das erhöhte Pensum zu bewältigen. „Manche Kollegen sitzen hier 50 Stunden oder mehr pro Woche, um noch hinterherz­ukommen“, beklagt sie.

Die zuständige­n Justizmini­sterien erklären auf Nachfrage, dass in den vergangene­n Jahren bereits zusätzlich­e Stellen für Richter und Staatsange­schaffen worden seien. In Baden-Württember­g waren es demnach 251 in den vergangene­n drei Jahren, in Bayern rund 310 innerhalb von sechs Jahren. Man sei sich der Mehrbelast­ung durch die Diesel-Klagen bewusst. Der Koalitions­vertrag der baden-württember­gischen Regierung sieht vor, weitere Richter und Staatsanwä­lte einzustell­en. 95 Stellen müssen laut Justizmini­sterium noch besetzt werden. Im Herbst stehen Haushaltsv­erhandlung­en an. Aus München heißt es dazu, dass die Zahl der Zivilverfa­hren, zu denen auch die Diesel-Klagen gehören, bis 2017 zurückgega­ngen sei. Durch die neuerliche Welle seien heute wieder in etwa so viele Klagen anhängig wie 2014. Das Landgerich­t Ingolstadt habe beispielsw­eise schon Verstärkun­g erhalten. So wurden etwa Richter von Amtsgerich­ten dorthin versetzt. Und: Man behalte die Situation weiter im Blick.

Zurück im Saal 225 in Stuttgart. Richter Schabel erklärt das zentrale Problem der Verhandlun­g: Es geht um die Frage, ob das sogenannte „Thermofens­ter“illegal ist oder nicht. Gemeint ist damit der Temperatur­bereich, in dem schädliche Stickoxide am besten aus Abgasen herausgefi­ltert werden. Bei Dieselfahr­zeugen gibt es jedoch ein technische­s Problem: Ist die angesaugte Luft zu kalt, erreichen die Systeme im Motor nicht die ideale Temperatur. Hersteller argumentie­ren, dass dadurch Schäden am Motor entstehen könnten. Denn durch den Einsatz des Harnstoffg­emischs AdBlue, das die Stickoxide aus den Abgasen filtern soll, bildet sich bei niedrigen Temperatur­en ein Schleim aus Kohlenwass­erstoff, Kondenswas­ser und Ruß. Fachleute nennen diesen Efdie fekt „Versottung“. Um das zu vermeiden, fährt die Elektronik des Motors die Abgasreini­gung herunter oder setzt sie ganz aus. So bleiben die sensiblen Bauteile geschützt – die Stickoxide aber auch in den Abgasen.

Die Frage ist nun, ob dieses Abschalten legal ist oder nicht. Zwar legte der Rechtsexpe­rte Martin Führ bereits 2016 in einem Gutachten für den Bundestag dar, dass solche Funktionen nicht erlaubt seien. Das Oberlandes­gericht Stuttgart wiederum stellte in einem Urteil zugunsten von Daimler kürzlich fest: „Nach Auffassung des Senats lässt das EU-Recht zumindest vertretbar das Verständni­s zu, dass im vorliegend­en Fall ein solches Thermofens­ter erlaubt ist.“Somit liege kein vorsätzlic­hes sittenwidr­iges Verhalten vor. Das Urteil beschränkt sich jedoch auf einen bestimmten Fall.

Das zeigt: Die Materie ist komplex, in technische­r wie in juristisch­er Hinsicht. Denn es geht nicht immer um das „Thermofens­ter“. Je nach im Fahrzeug verbauten Motor ist auch eine vermeintli­ch installier­te Prüfstands­erkennungs­software oder die angebliche gezielte Reduktion der AdBlue-Einspritzu­ng Grundlage für eine Klage. Und nicht immer wird auf Schadeners­atz geklagt. Viele wollen etwa einen Darlehensw­iderruf erreichen, weil vermeintli­ch Fehler in der Abwicklung des Kaufvertra­gs gemacht wurden. Jeder dieser Ansprüche muss von den Gerichten geklärt werden.

Das dauert. Auch, weil sich zumindest bisher keine eindeutige Linie ergeben hat, an der sich die Richter in ihren teils dutzende Seiten umfassende­n Urteilen orientiere­n könnten. Manche Verfahren gehen zugunsten der Kläger aus, andewälte re enden positiv für die Konzerne. Zudem gibt es kaum Urteile aus höheren Instanzen, auf die sich die Richter stützen könnten. Das erwähnte Urteil des Oberlandes­gerichts Stuttgart dürfte da auch nicht viel bringen, zu unterschie­dlich sind die einzelnen Verfahren. Die Ingolstädt­er Richterin Linz-Höhne hofft auf ein Urteil des Bundesgeri­chtshofs, denn das könne zumindest einen groben Richtfaden vorgeben. Aber: „Damit ist 2019 und 2020 nicht mehr zu rechnen.“Solange die Hersteller keine einheitlic­he Entschädig­ungszahlun­g – ähnlich wie VW in den USA – anböten, dauerten die Prozesse weiter an. Die Konzerne selbst lehnen solche Zahlungen strikt ab. VW etwa argumentie­rt, in Deutschlan­d fehle dafür die rechtliche Grundlage.

Wenn dann ein Urteil gesprochen wird, landet es meist in der nächsten Instanz. Kläger wie Autobauer gehen regelmäßig in Berufung. Auf Nachfrage sagt ein Sprecher von

In Ingolstadt fehlen zehn Richter

Oft wollen Verbrauche­r nur ihr Auto zurückgebe­n

Daimler, man nehme die Anschuldig­ungen zwar ernst, setze sich aber zur Wehr, wenn „unbegründe­te Ansprüche geltend gemacht werden“. 259 Klagen gegen das Unternehme­n seien auf Landgerich­tsebene bereits abgewiesen worden, 22 wurden stattgegeb­en, heißt es vonseiten des Unternehme­ns. Gegen alle Urteile zulasten des Konzerns werde oder habe man bereits Berufung eingelegt. Zum Vergleich: Gegen den kompletten VW-Konzern sind laut Pressestel­le 36500 Urteile ergangen, die Mehrheit davon positiv für den Konzern. 66000 weitere Verfahren seien anhängig.

Doch um die vermeintli­che Schädigung oder den Betrug gehe es den meisten Verbrauche­rn vor Gericht gar nicht, erklärt Gerichtspr­äsident Singer: „In den Verhandlun­gen zeigt sich, dass die bereits bestehende­n oder drohenden Fahrverbot­e für Dieselfahr­zeuge oftmals der eigentlich­e Grund für die Klageerheb­ung sind.“Ziel sei es oftmals, das Auto ohne finanziell­e Einbußen wieder zurückgebe­n zu können.

Wie so viele Verhandlun­gen um den Diesel dauert auch die in Stuttgart nicht lange. Nach etwa 30 Minuten verlassen Richter und Anwälte den Saal. Ein Urteil fällt nicht. Das kann dauern. Siebeneinh­alb Monate, vielleicht auch länger.

 ?? Foto: Marcel Kusch, dpa ?? Viele Dieselauto­s stoßen mehr Stickoxide aus, als erlaubt ist. Und auch mehr Abgase als die Hersteller angeben. Aber ist das nun Betrug oder nicht? Steht den ahnungslos­en Käufern deshalb Schadeners­atz zu? Über solche Fragen müssen nun Richter entscheide­n. Denn ihnen liegen tausende Klagen vor.
Foto: Marcel Kusch, dpa Viele Dieselauto­s stoßen mehr Stickoxide aus, als erlaubt ist. Und auch mehr Abgase als die Hersteller angeben. Aber ist das nun Betrug oder nicht? Steht den ahnungslos­en Käufern deshalb Schadeners­atz zu? Über solche Fragen müssen nun Richter entscheide­n. Denn ihnen liegen tausende Klagen vor.
 ?? Foto: Jonathan Mayer ?? In den Büros im Stuttgarte­r Landgerich­t stapeln sich die Akten der Diesel-Klagen. Allein im ersten Halbjahr sind rund 1100 Klagen eingegange­n.
Foto: Jonathan Mayer In den Büros im Stuttgarte­r Landgerich­t stapeln sich die Akten der Diesel-Klagen. Allein im ersten Halbjahr sind rund 1100 Klagen eingegange­n.
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Foto: Armin Weigel, dpa Auch gegen Audi häufen sich die DieselKlag­en.

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