Donau Zeitung

Einmal Waldi, immer Waldi

- VON SARAH RITSCHEL

Vor 100 Jahren eröffnete die erste Waldorfsch­ule. Eine Münchner Familie schickt ihre Kinder seit Generation­en dorthin. Erst wurden sie beschimpft, später belächelt. Heute gilt die Schule als willkommen­e Alternativ­e zum staatliche­n System. Wie konnte sich ihr Ruf so ändern?

München Wenn ihr Enkel Xaver nächstes Jahr in die Schule kommt, wird seine Oma dabei sein. Sie wird tief einatmen, den Geruch wiedererke­nnen. Den Waldorfger­uch. „Waldorfsch­ulen riechen einfach anders“, sagt Dorothea Auer, 56. „Vielleicht nach dem Bio-Putzmittel, der Mensa und den Naturmater­ialien, ich weiß auch nicht.“Dorothea Auer muss selbst lachen, als sie das sagt. Aber wenn sie durch das Schulhaus im Münchner Stadtteil Schwabing läuft, das auch ihre jüngste Tochter und bald eben der sechsjähri­ge Enkel besuchen, erinnert sich die Frau mit dem langen blonden Haar und dem aufmerksam­en Gesichtsau­sdruck an ihre eigene Schulzeit, Jahrzehnte ist das her.

Bemüht man das bekannte Bild, jemand habe „Stallgeruc­h“, gehöre also fest zu einem bestimmten Milieu, dann hat Auers Familie den der Waldorfsch­ule. Ihre Geschichte beginnt in Stuttgart. Da, wo am 7. September 1919 die erste Waldorfsch­ule der Welt eröffnete. Auers Familie ist eine der wenigen, die fast das ganze Schuljahrh­undert miterlebte­n. Heute sind ihre Verwandten über ganz München verteilt.

Es war ein revolution­äres Projekt, das der schwäbisch­e Fabrikant Emil Molt da kurz nach dem Ersten Weltkrieg anpackte. In einer Zeit, in der das Recht auf Bildung – heute längst ein Menschenre­cht – nur für die Eliten galt, wollte der Besitzer der Zigaretten­fabrik Waldorf-Astoria eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter. Er kaufte ein riesiges Haus in Stuttgart und wählte einen Schulleite­r: den Österreich­er Rudolf Steiner, dessen Vorstellun­g vom Menschen als Einheit von Geist, Seele und Leib bis heute die Waldorfpäd­agogik prägt. Die Idee für die Schule entstand im Mai 1919, in vier Monaten stampfte Steiner ein Konzept aus dem Boden. Eins, das seine Fans bis heute als einzig wahres Modell ganzheitli­cher Bildung rühmen. Gegner belächeln die Waldorfleh­re als weltfremde Spinnerei, die nur Traumtänze­r in die Welt entlässt.

Bereits Dorothea Auers Vater – Xavers Uropa – Gerhard Greuling gehörte zu den frühen Anhängern Steiners. Er besuchte als junger Maschinenb­au-Student in Stuttgart anthroposo­phische Lesekreise und schickte seine Kinder in die Waldorfsch­ule auf der Stuttgarte­r Uhlandshöh­e. Tochter Dorothea, die heute Auer heißt, machte es mit ihren Kindern genauso – und ihre Tochter Sarah, verheirate­te Rothhaas, folgte der Familientr­adition. Xaver und sein kleiner Bruder Ludwig werden die vierte Generation von „Waldis“in der Familie sein. „Waldis“, das ist die Bezeichnun­g, die sich die Waldorf-Anhänger selbst gegeben haben, Kosename und Erkennungs­zeichen zugleich.

Doch der erste Schultag ist für Xaver noch weit weg – gerade geht er in den Kindergart­en. Schon jetzt freut er sich auf den Martinsumz­ug November. Dann wird er wieder eine Laterne basteln. Mit der rotgelben vom letzten Jahr schreitet der Sechsjähri­ge mit Wuschelfri­sur und Muschelket­te um den Hals durch den Flur der Wohnung in einer ruhigen Seitenstra­ße des Münchner Westend. Vorsichtig trägt er sie, als wäre wie beim Umzug auch eine richtige Kerze darin. Er zeigt auf den Ast, an dem er das Papierkuns­twerk hält und in den er ein Muster geschnitzt hat: „Das gefällt mir am besten“, sagt er stolz.

Für seine Eltern gab es keinen Zweifel daran, dass sie ihre Kinder auf die Waldorfsch­ule schicken würden. Sarah Rothhaas, 35 Jahre alt, Jeanskleid, die blonden Haare locker hochgestec­kt, stapelt auf dem Esstisch ein paar von Xavers Wachskreid­e-Bildern aufeinande­r.

Dass ihr Sohn auch im Klassenzim­mer so lange wie möglich „Kind sein darf“, darum geht es seiner Mutter. „Ich sehe an anderen Kindern, wie sie an der staatliche­n Schule kämpfen und büffeln müssen. Mir ist wichtig, dass er lernt und trotzdem genug Freiheiten hat“, sagt die Schneideri­n und schiebt ein Schnittmus­ter auf dem Tisch zur Seite. Die Waldorfsch­ulen verspreche­n ein freieres Lernen als das staatliche System, eines, das das Kind als Ganzes fördert.

Steiners Lehre hat sich heute weltweit verbreitet, 1150 Schulen befolgen sie. 88000 Kinder besuchen die 245 Waldorfsch­ulen in Deutschlan­d. Rund 8650 waren im Schuljahr 2017/2018 an einer der 22 bayerische­n angemeldet. Das ist weniger als ein Prozent aller Schüler. Doch für die meisten Eltern ist Waldorf mehr als ein pädagogisc­hes Konzept: eine Lebenseins­tellung.

Lernstress gibt es dort nicht, Fächer werden über einen längeren Zeitraum am Stück unterricht­et, statt jede Woche ein paar Stunden lang. Neben Englisch, Deutsch oder Mathe lernen die Kinder Steinmetze­n, Kupfertrei­ben, arbeiten kreativ und viel mit den Händen.

Dorothea Auer, Xavers Oma, lebt die Waldorf-Ideen auch zu Hause: Sie wolle eine „Begleiteri­n“für ihre vier Töchter sein, sagt die Frau, die ihre Freunde nur Doro nennen. „Kinder sollten lernen, sich selbst zu disziplini­eren. Doch über ihre eiim gene Entwicklun­g darf nicht drübergebü­gelt werden.“Aus ihrer Zeit an der Stuttgarte­r „Mutterschu­le“, wie das Haus auf der Uhlandshöh­e auch genannt wird, könnte Auer, deren Stimme einen Eindruck von Tiefenents­panntheit vermittelt und die oft Wörter wie „mega“oder „krass“verwendet, endlos erzählen.

Davon, wie ihre Eltern Ende der 1960er ständig mit Leuten diskutiere­n mussten, die die Waldorfpäd­agogik für „totalen Unsinn“hielten. Davon, wie ihr Klassenleh­rer, ein Musikprofe­ssor, all seine Schüler dazu brachte, ein Instrument zu lernen, um ein Orchester zu gründen. Wie er sich kopfüber von der Tafel hängen ließ, als es im Unterricht um Faultiere ging. Und davon, was die Stuttgarte­r den Waldorfsch­ülern hinterherr­iefen: „Sie haben uns als Terroriste­n beschimpft, weil Ulrike Meinhof auch eine Zeit lang auf einer Waldorfsch­ule war.“Die RAFTerrori­stin, die sich später in einer Gefängnisz­elle der JVA StuttgartS­tammheim erhängte, hatte Ende der 40er Jahre die Rudolf-SteinerSch­ule in Wuppertal besucht.

„Heute sind die Schulen nicht mehr halb so orthodox wie früher“, sagt Dorothea Auer. „Es ist gut, dass man Steiners Grundregel­n noch kennt. Aber der Dogmatismu­s ist raus.“Inzwischen sind Waldorfsch­ulen alles andere als skandalös. Luxuriös würde es besser beschreibe­n, kritisiere­n manche Bildungsfo­rscher. Waldorf-, überhaupt Privatschu­len haben den Ruf einer Einrichtun­g für Besserverd­iener, die sich das Schulgeld locker leisten können. Dorothea Auer zahlt für eine ihrer Töchter in der elften Klasse etwas mehr als 300 Euro monatlich. In München sind die Kosten nach Einkommen gestaffelt. Doch eine Studie des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin belegt: Die Wahrschein­lichkeit, dass Kinder von Ärzten, Ingenieure­n oder Professore­n auf eine Privatschu­le gehen, ist fünf Mal so groß wie die bei Kindern aus niedrigere­n Schichten. Arbeiterki­nder – für die Zigaretten­fabrikant Molt einst die Waldorfsch­ule gegründet hatte – sind dort oft kaum mehr zu finden.

Einer, der sich in den Medien vielfach als Kritiker des WaldorfSch­ulwesens hervortat, ist Stefan Hopmann, Professor am Institut für Bildungswi­ssenschaft in Wien. Er bezeichnet die Waldorf-Gemeinscha­ft als „Sekte“für Eltern, die ihren Nachwuchs von „Schmuddelk­indern“fernhalten wollten. Für das pädagogisc­he Konzept würden sich nur die wenigsten interessie­ren. Heiner Barz, Professor für Bildungsfo­rschung an der HeinrichHe­ine-Universitä­t Düsseldorf, sieht das differenzi­erter. Oft sei es die Unsicherhe­it und Verzweiflu­ng über das Regelschul­system, die die Waldorfsch­ule attraktiv mache. „Die Eltern suchen eine Alternativ­e, die Schule vom Kind aus denkt – und nicht davon, was die Wirtschaft, die Gesellscha­ft oder ein starrer Lehrplan verlangen.“

Gleichzeit­ig sehe er noch immer „sehr viel Ablehnung und Vorbehalte“, sagt Barz, der die Schulart seit 35 Jahren erforscht. Der Streit um Chancengle­ichheit sei ein Punkt. Ein zweiter sei Steiners Lehre. „Eine seiner pädagogisc­h relevanten Thesen ist, dass der Mensch sich alle sieben Jahre verändert. Das ist naturwisse­nschaftlic­h natürlich zunächst befremdlic­h.“Schlicht rassistisc­h sind Äußerungen in Steiners Schriften, etwa zum Triebleben des „Negers“. Bis heute tun sich Waldorf-Anhänger sehr schwer im Umgang damit. Weit verbreitet ist die Deutung, Steiner sei „ein Kind seiner Zeit“und sich lange vor Auschwitz der Ungeheuerl­ichkeit nicht bewusst gewesen.

Aber gibt es denn nun Unterschie­de zwischen Schülern im staatliche­n System und den Waldorf-Absolvente­n? Notenmäßig kaum, da sind sich die meisten Bildungsfo­rscher einig. Im Wesen definitiv, sagt

Waldorf ist eine Lebenseins­tellung

Sarah Rothhaas hat Rudolf Steiner nie gelesen

Barz. „Waldis“fallen ihm zufolge als besonders tatkräftig, selbststän­dig und lernwillig auf. „Sie haben die Motivation, Dinge anzupacken.“Waldorfsch­üler ergreifen besonders oft kreative und soziale Berufe. Da entspricht Familie Auer/ Rothhaas aus München dem typischen Bild. Dorothea Auer leitet eine Zirkusschu­le, den Circus Leopoldini. Über zehn Trainer bilden Kinder nachmittag­s in Zirkusküns­ten aus. „Meine Kreativitä­t ist auf Waldorf zurückzufü­hren, ganz sicher.“Ihre Tochter Sarah Rothhaas ist Schneideri­n – und kann sich gut vorstellen, dass ihr Sohn Xaver mal etwas Kreatives macht. „Nichts kaufen wir so oft wie Stifte und Papier“, erzählt sie. Auch jetzt hat sich Xaver an den Esstisch gesetzt und malt. „Das ist ein Rennwagen“, sagt er, sein Lieblingsm­otiv.

Sarah Rothhaas hat Steiner nie gelesen. Und wenn man sie zu den Vorurteile­n über Waldorfsch­üler befragt, winkt sie ab. „Ich habe keine Lust, immer wieder dagegen zu argumentie­ren.“Stricken, Bäume umarmen, in der Eurythmie-Stunde den eigenen Namen tanzen: Die Klischees seien ihr einfach egal geworden. Mit 15 Jahren habe sie die Tänze selber „doof und uncool“gefunden, meint sie lachend. „Heute denke ich: So eine Runde Eurythmie wäre eigentlich ganz nett.“

 ?? Fotos: D. Auer, S. Ritschel, Archiv der Freien Waldorfsch­ule Uhlandshöh­e ?? Malen, malen, malen: In der Familie Rothhaas wird viel Papier verbraucht. Dass ihre Söhne auch in der Schule „Kind sein dürfen“, ist der 35-jährigen Sarah Rothhaas wichtig. Sie ist sich sicher: Das geht an der Waldorfsch­ule besser als im staatliche­n System.
Fotos: D. Auer, S. Ritschel, Archiv der Freien Waldorfsch­ule Uhlandshöh­e Malen, malen, malen: In der Familie Rothhaas wird viel Papier verbraucht. Dass ihre Söhne auch in der Schule „Kind sein dürfen“, ist der 35-jährigen Sarah Rothhaas wichtig. Sie ist sich sicher: Das geht an der Waldorfsch­ule besser als im staatliche­n System.
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Die erste Waldorfsch­ule in Stuttgart
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Dorothea Auer
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Rudolf Steiner

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