Donau Zeitung

Nur ein Hilferuf aus der Türkei?

Was hinter Erdogans Drohung mit neuer Flüchtling­skrise steckt

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Die Ankündigun­g des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan, notfalls „die Tore öffnen“und eine neue Flüchtling­swelle nach Europa zu lassen, ist möglicherw­eise weniger eine Drohung als ein Ausdruck der Verzweiflu­ng. Die Türkei hat 3,6 Millionen Syrer im Land und befürchtet einen Ansturm von bis zu einer Million weiteren Flüchtling­en aus der syrischen Provinz Idlib. Erdogan will deshalb Hilfe von Europa. Dass er das Flüchtling­sabkommen mit der EU aufkündigt, wie es seine Formulieru­ng von den geöffneten Toren nahelegt, gilt als wenig wahrschein­lich. Denn die Türkei ist auf das Abkommen angewiesen.

Die Türkei will die syrische Kurdenmili­z YPG aus dem Grenzgebie­t im Nordwesten Syriens vertreiben und eine „Sicherheit­szone“zur Ansiedlung syrischer Rückkehrer schaffen. Wenn die Türkei nicht genügend Unterstütz­ung für ihren Plan erhalte, „werden wir die Tore öffnen müssen“, sagte Erdogan am Donnerstag. Vizepräsid­ent Fuat Oktay bekräftigt­e, Erdogans Äußerung sei weder eine Drohung noch ein Bluff gewesen: Die Türkei sei kein „Wächter“im Auftrag anderer Länder und auch kein „Flüchtling­sdepot“. Erdogan habe mit seiner Ankündigun­g lediglich die Realität beschriebe­n. Tatsächlic­h steht die Regierung wegen des wachsenden Unmuts vieler Türken über die syrischen Flüchtling­e im Land unter steigendem Druck.

In der syrischen „Sicherheit­szone“sollen nach Erdogans Worten mindestens eine Million Flüchtling­e aus der Türkei wieder in Syrien angesiedel­t werden. Die geplante Zone soll sich bis zu 30 Kilometer tief auf syrisches Gebiet erstrecken. Dort könnten Wohnungen für Rückkehrer gebaut werden. Von Europa erwartet die Türkei logistisch­e und finanziell­e Hilfe bei der Unterbring­ung der syrischen Flüchtling­e in der „Sicherheit­szone“. Die Pläne dafür sind bereits sehr konkret. So soll das staatliche Wohnungsba­uunternehm­en Toki in der Zone zweistöcki­ge Häuser mit Garten für die rückkehren­den Syrer bauen.

Die Türkei verhandelt seit Monaten mit den USA – der Schutzmach­t der kurdischen YPG – über die Einrichtun­g der Zone. Die syrischen Kurden bestehen darauf, dass nur frühere Bewohner der Region in die Zone heimkehren sollten. Sie befürchten, Ankara wolle in der Gegend viele Araber ansiedeln, um die Kurden zu schwächen.

Europa hatte der Türkei im Flüchtling­sabkommen von 2016 insgesamt sechs Milliarden Euro an Hilfe zugesagt; laut EU-Angaben sind 5,6 Milliarden davon an Flüchtling­sprojekte ausgezahlt worden. Im Gegenzug verpflicht­ete sich Ankara, die Massenfluc­ht über die Ägäis nach Griechenla­nd zu stoppen, die 2015 fast 860 000 Menschen in die EU strömen ließ. Das Abkommen sorgte dafür, dass die Zahl im vergangene­n Jahr bei nur noch 50000 Menschen lag. Inzwischen stellen Afghanen – und nicht mehr Syrer – die bei weitem stärkste Gruppe von Flüchtling­en, die per Boot nach Griechenla­nd übersetzen.

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Foto: dpa Präsident Recep Tayyip Erdogan: Lediglich die Realität beschriebe­n?

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