Johnson in den Umfragen vorn
Obwohl der Premierminister empfindliche Abstimmungsniederlagen verdauen muss, bleiben die Konservativen nach Umfragen stärkste Partei. Dennoch: Das Land ist gespalten
London Während sie drinnen im Palast erbittert stritten, herrschte draußen ein Spektakel, das selbst für britische Brexit-Verhältnisse außergewöhnlich war. Täglich versammelten sich tausende Demonstranten vor dem Westminster-Palast, pfiffen und schrien und schwenkten ihre mitgebrachten Flaggen. Die meisten waren EU-Befürworter, aber es kamen in dieser für das Vereinigte Königreich so schicksalhaften Woche auch etliche Brexit-Anhänger ins Regierungsviertel. Tag für Tag protestieren die Menschen, vor allem vor der Downing Street, wollten „die Demokratie verteidigen“und forderten lautstark „Stopp den Putsch“, nachdem Premierminister Boris Johnson dem Parlament eine Zwangspause verordnet hat, die nächste Woche beginnen soll.
Ein weiterer Tiefschlag für den Premier bedeutet am Samstag der Rücktritt seiner Arbeitsministerin Amber Rudd: Sie glaube nicht mehr daran, dass ein geregelter EU-Austritt das Hauptziel der Regierung sei, schrieb Rudd in einem Brief an Johnson. Auch der Rauswurf von 21 Tory-Rebellen durch Johnson aus der Tory-Fraktion am Dienstag hatte zu dem Schritt beigetragen.
Umfragen zufolge würde bei einem erneuten Referendum zwar das pro-europäische Lager gewinnen. Doch diese leichte Verschiebung liegt daran, dass sich die überwältigende Mehrheit der jungen Menschen, die 2016 noch nicht ihr Kreuz setzen durften, für den EU-Verbleib aussprechen würden. Weil auch das Unterhaus polarisiert ist, fordert der Premierminister Neuwahlen. Johnson mag am Mittwochabend das Votum verloren haben, am heutigen Montag will er die Vorlage erneut den Abgeordneten vorlegen, um Neuwahlen am 15. Oktober zu erreichen. Warum? Johnson pocht darauf, am 31. Oktober das Land aus der EU zu führen – „komme, was wolle“, ob mit oder ohne Austrittsabkommen. So will er sich die Stimmen der Brexit-Anhänger sichern, von denen die Hälfte auf einen No Deal besteht, wie Umfragen zeigen.
Ein weiteres Viertel der LeaveWähler von 2016 wäre einverstanden mit dem ungeregelten Austritt. Sollte Johnson entgegen seiner Versprechen die Scheidung aufschieben, würde der Konservative etliche Unterstützer an die Brexit-Partei unter Rechtspopulist Nigel Farage verlieren, sagt der Wahlforscher John Curtice. Er prognostiziert, dass es bei einer Wahl, so lange der Brexit nicht vollzogen ist, mehr ein Wettkampf zwischen Johnson und Farage werden würde denn ein Duell zwischen Johnson und dem Labour-Chef Jeremy Corbyn. Denn erst wenn Großbritannien aus der EU ausgetreten sei, dürfte die Popularität der Brexit-Partei nachlassen. Der altlinke Oppositionschef Corbyn dagegen schreckt viele moderaentsprechende te Briten ab und hat sich zur Enttäuschung der Pro-Europäer auch in der Brexit-Frage nie klar positioniert, sondern will das Ergebnis des EU-Referendums respektieren. Austritt ja, aber bitte geregelt mit Abkommen. Diese Woche immerhin gewannen die No-Deal-Gegner die Kraftprobe gegen Johnson. Und bislang sieht alles danach aus, als ob Corbyns Labour und die anderen oppositionellen Parteien bei ihrem Standpunkt blieben und zuerst die Verschiebung des Brexit-Termins abwarten wollen, bevor sie sich auf Neuwahlen einlassen. Es ist eine Wette darauf, dass Johnson mit dem Plan, einen neuen Vertrag mit der EU auszuhandeln, scheitert. Von einem Aufschub der Scheidungsfrist würde – neben der Brexit-Partei – Labour profitieren, so Curtice.
Johnson beharrt auf den 15. Oktober, auch weil er die Umfragen anführt. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov fand heraus, dass 35 Prozent der befragten Briten für die Konservativen stimmen würden, während nur ein Viertel der Menschen ihr Kreuz bei Labour machen würde. Beide Parteien legten leicht zu, während die proeuropäischen Liberaldemokraten verloren und nur noch bei 16 Prozent lagen. Trotz des Vorsprungs: Johnsons Chancen, dass er eine absolute Mehrheit gewinnt, stünden bei einer Wahl im Oktober „bestenfalls bei 50 zu 50“, sagt Curtice. Das ist auch dem Mehrheitswahlrecht auf der Insel geschuldet, ganz nach dem Motto: The winner takes it all, der Verlierer in einem Wahlkreis geht komplett leer aus. Hinzu kommt, dass ihm in liberalen Städten und europafreundlichen Regionen wie Schottland Verluste drohen.