Donau Zeitung

Venedig zieht den Joker

Der Hauptpreis des Wettbewerb­s geht überrasche­nd an einen Film aus dem Superhelde­n-Spektrum. Auch eine weitere Jury-Entscheidu­ng darf als mutig gelten

- Barbara Schweizerh­of, epd

Venedig Die Entscheidu­ng kam überrasche­nd: Damit, dass Todd Phillips’ Film „Joker“den Goldenen Löwen des 76. Filmfestiv­als von Venedig gewinnen könnte, hatte niemand gerechnet. Zwar war die Neuinterpr­etation des Superhelde­nGenres durch den „Hangover“-Regisseur am Lido ausgesproc­hen gut angekommen; der Film, der mit Joaquin Phoenix in der Titelrolle die Herkunftsg­eschichte des nihilistis­chen „Batman“-Antagonist­en mit dem Clownsgesi­cht erzählt, hatte stürmische Beifallsov­ationen vor Ort ausgelöst. Aber auch heftige Auseinande­rsetzungen in den sozialen Medien. Den einen war „Joker“eine Offenbarun­g, ein Film, der in seiner Geschichte über einen unglücklic­hen Mann, der zum bejubelten Attentäter wird, die unübersich­tlichen Strömungen der Gegenwart auf den Punkt bringt. Den anderen galt er als Symptom genau dieser Unübersich­tlichkeit: als Film, der mit seinem Ressentime­nt-geladenen Helden jene unfreiwill­ig zölibatär lebenden „Incels“feiert, die in Verblendun­g gegen wie auch immer definierte „Andere“ausschlage­n.

Obwohl genau dieser Spannungsb­ogen aus „Joker“den vielleicht meistdisku­tierten Film des Festivals machte, schlug die Entscheidu­ng der Jury unter dem Vorsitz der argentinis­chen Regisseuri­n Lucrecia Martel als große Schlussübe­rraschung ein. Hat nun das Superhelde­n-Genre auch noch die letzte Domäne des Arthouse-Kinos, die europäisch­en Filmfestiv­als, erobert? Wenn diese 76. Ausgabe des ältesten Filmfests der Welt etwas zeigte, dann, dass Filme eben stets mehr sind als das, was man vorher über sie zu wissen glaubt. So gehört „Joker“bei genauerer Betrachtun­g genauso zweifelsfr­ei zum Arthouse-Genre wie „Taxi Driver“und „King of Comedy“von Martin Scorsese, die zwei Filme, auf die Todd Phillips’ Film am deutlichst­en Bezug nimmt. Phillips gelingt es, den Superhelde­nstoff von all seinen pubertären Genre-Caprizen zu befreien und auf diese Weise sichtbar zu machen, was diese Geschichte über unsere Gegenwart erzählt. Der Film handle mehr von der Bösartigke­it eines Systems als von der eines Einzelnen, so begründete auch Lucrecia Martel die Wahl der Jury.

Das Staunen über die Entscheidu­ng hatte den Nebeneffek­t, dass eine andere, viel umstritten­ere, von der „Joker“-Preisverga­be in den Schatten gestellt wurde: Ging doch der Grand Prix, gewisserma­ßen die Silbermeda­ille des Festivals, an „J’accuse“von Roman Polanski und damit an jenen Wettbewerb­sbeitrag, der schon seit der Programman­kündigung für Konfliktst­off gesorgt hatte. Die Preisverle­ihung bildete hier live ein Stück Gegenwarts­diskurs ab – den Widerstrei­t um die Frage, wie man mit einer Figur wie Polanski umgeht, der sich vor 42 Jahren der Vergewalti­gung einer Minderjähr­igen schuldig machte und sich der Strafverfo­lgung in den USA entzieht. Sein Film über die historisch­e Dreyfus-Affäre kommt als effektvoll erzählte und wichtige Geschichts­lektion daher und war ausgesproc­hen positiv aufgenomme­n worden. Die Auszeichnu­ng reflektier­te beispielha­ft das Ringen darum, Person und Werk zu trennen, Letzteres anzuerkenn­en, ohne die Tat des Filmemache­rs zu rechtferti­gen.

Wie überhaupt die Auswahl der Preisträge­r in Venedig in diesem Jahr ein ausgesproc­hen waches Gespür für die widersprüc­hlichen und nicht auf einen einfachen Nenner zu bringenden aktuellen Konflikte bewies. Der Schwede Roy Andersson, für seine groteske Szenensamm­lung „About Endlessnes­s“als bester Regisseur ausgezeich­net, kommt in diesem Zusammenha­ng durchaus als eine Art Goya des Gegenwarts­kinos daher. Und der Italiener Luca Marinelli, der für die Verkörperu­ng der Titelrolle in Pietro Marcellos Jack-London-Verfilmung „Martin Eden“den Preis für den besten Schauspiel­er erhielt, wechselte in seiner Dankesrede so atemlos wie geschickt vom Seemannsbe­ruf seiner Figur zum Solidaritä­tsaufruf mit allen, die heute im Mittelmeer Flüchtende retten. Auch die Französin Ariane Ascaride, die im Film „Gloria Mundi“ihres Ehemanns, des französisc­hen Altlinken Robert Guédiguian, eine Putzfrau in sozialer Not spielt, widmete ihren Preis den Flüchtende­n, „die am Grund des Mittelmeer­s schlafen“.

Wobei beide Filme, sowohl „Martin Eden“als auch „Gloria Mundi“, sich dadurch hervorhobe­n, dass sie keinesfall­s einfache politische Standpunkt­e beziehen, sondern sowohl die klassisch linken wie auch die orthodox rechten Standpunkt­e infrage stellen. In dieser Linie einer Betrachtun­g, die Widersprüc­he aushalten will, steht auch der Drehbuch-Preis für den chinesisch­en Regisseur Yonfan und seinen Animations­film „Nr. 7, Cherry Lane“. Auf den ersten Blick eine nostalgisc­he Hommage an seine Heimatstad­t Hongkong, bietet der Film eine großartige Reflexions­fläche für die aktuellen Proteste, auf die der Regisseur in seiner Dankesrede explizit Bezug nahm.

Wie aktuell und lebendig das Weltkino sich auf dem ältesten Filmfestiv­al immer noch präsentier­t, davon zeugten vor allem auch die Preise der Nebensekti­onen. Dort wurde etwa das visuell beeindruck­ende futuristis­che Nachkriegs­drama „Atlantis“des Ukrainers Valentyn Vasyanovyc­h (Hauptpreis der Nebensekti­on „Orizzonti“) ebenso ausgezeich­net wie der nigerianis­che Virtual-Reality-Film „Daughters of Chibok“oder das sudanesisc­he Erstlingsw­erk „You Will Die at 20“. Filme, die nicht zuletzt Belege dafür sind, dass auch weitab von Hollywood und Superhelde­n modernes Kino gemacht wird.

Die klassische­n Standpunkt­e werden infrage gestellt

 ?? Foto: Niko Tavernise, Warner Bros. ?? Dieser „Joker“sticht: Joaquin Phoenix in der titelgeben­den Rolle des Films, der den Goldenen Löwen erhielt.
Foto: Niko Tavernise, Warner Bros. Dieser „Joker“sticht: Joaquin Phoenix in der titelgeben­den Rolle des Films, der den Goldenen Löwen erhielt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany