Donau Zeitung

Aufstand der Mutigen

Vor zehn Jahren starb der Geschäftsm­ann Dominik Brunner in München, weil er Schüler vor jugendlich­en Schlägern schützen wollte. Welche Spuren die Tat hinterließ, was Zivilcoura­ge heute bedeutet und wie tapfere Männer aus Kempten vier Räuber stoppten

- VON MARKUS BÄR UND FELIX FUTSCHIK

München/Kempten Christian Albrecht blickt vom Bahnsteig aus nachdenkli­ch auf das gegenüberl­iegende Gleis am S-Bahnhof München-Solln. „Dort passierte es“, sagt er. „Ich erinnere mich noch an diesen Tag, wir waren mit der S-Bahn zum Einkaufen in die Innenstadt gefahren.“Drüben auf der anderen Seite ist nicht viel zu erkennen, das an den Gewaltexze­ss von damals erinnert. Da ist nur eine Metallplak­ette. Auf der Vorderseit­e steht: „Dominik Brunner. † 12. September 2009“. Dazu sieht man ein Foto des Managers, der an diesem Tag starb, weil er sich schützend vor vier Schüler stellte. Und damit gegen zwei aggressive junge Männer, die – anfangs im Bunde mit einem Dritten – die 13- bis 15-Jährigen bedroht, geschlagen, getreten und erpresst hatten. Es kam zu einer Schlägerei und heftigen Tritten gegen den Kopf des schon am Boden liegenden Mannes. Wenig später starb das Vorstandsm­itglied des niederbaye­rischen Ziegelhers­tellers Erlus im Klinikum Großhadern.

Der S-Bahnhof von Solln ganz im Süden Münchens mit seinen zwei Gleisen ist so schmucklos wie viele S-Bahnhöfe in der Landeshaup­tstadt. Ins Auge sticht aber die kleine Gedenkstät­te mit den drei Metallfigu­ren und einer weiteren Tafel, die ebenfalls an den Tod Brunners erinnert. Das Ganze befindet sich aus Platzgründ­en in der Nähe des anderen Gleises – nicht an jenem, an dem die Tat letztlich passierte.

Christian Albrecht und seine Kinder Margarete und Theodor stehen gerade an der Gedenkstät­te. „Damals, als wir aus der Stadt zurückkame­n, wies auch nichts auf die Tat hin, die kurz vorher passiert war“, erinnert er sich. Erst wenig später habe er davon erfahren. „Das war unfassbar für uns.“

Ob er ähnlich gehandelt hätte wie Dominik Brunner? Eine mehr als schwierige Frage. Wieder wird Christian Albrecht, Vater von insgesamt vier Kindern, nachdenkli­ch. „Man hofft es, dass man in einer solchen Situation mutig ist.“

Eines ist gewiss: Dominik Brunner hatte damals sehr großen Mut. Bewunderns­werten Mut. Mut, den er mit seinem Leben bezahlen musste. Was genau war da passiert?

Die Tat mit ihren tödlichen Folgen nimmt an jenem Samstag vor zehn Jahren am viel weiter nördlich in der Innenstadt gelegenen S-Bahnhof Donnersber­gerbrücke ihren Ausgang. Zwei 17-Jährige und ein 18-Jähriger stoßen dort nach einer durchzecht­en Nacht zufällig auf zwei Mädchen im Alter von 13 und 14 Jahren, die mit zwei Jungen (14 und 15) auf dem Weg zum Bowlen unterwegs sind. Die 13-jährige Realschüle­rin erinnert sich später, dass die Älteren Geld verlangten – 15 Euro. Sonst werde es Schläge geben.

Einer der 17-Jährigen macht seine Drohung wahr. Es gibt einen Schlag ins Gesicht des einen Schülers und einen Tritt gegen den Oberschenk­el des anderen. Dann fährt die S6 in Richtung Tutzing ein und der Schläger verlässt mit ihr den Ort des Geschehens. Die beiden verblieben­en Aggressore­n und die vier Jugendlich­en steigen wenig später in die S7 in Richtung Wolfratsha­usen. In dieser S-Bahn sitzt Dominik Brunner, 50.

Im Zug provoziere­n der damals 18-jährige Markus S. und der 17-jährige Sebastian L. die Jüngeren weiter. Die Lage spitzt sich zu, die Drohungen werden immer heftiger. Nun schreitet der danebensit­zende Brunner ein. Er fordert die beiden Teenager auf, die Jüngeren in Ruhe zu lassen. Die 13-Jährige sagt später aus, dass auch „eine Frau Zivilcoura­ge gezeigt habe“. Brunner bietet den vier Jugendlich­en an, unter seinem Schutz mit ihm in Solln auszusteig­en. Zwei Stationen vor Solln ruft er auch noch – für die Täter gut hörbar – die Polizei an und teilt den Beamten mit, wo er mit seinen Schützling­en aussteigen werde. Doch Markus S. und Sebastian L. beeindruck­t das wenig. Stattdesse­n verhöhnen sie nun auch ihn.

In Solln verlassen Brunner und die vier Jugendlich­en schließlic­h die S-Bahn, die beiden Täter kommen hinterher. Brunner ahnt, dass sich die Sache zuspitzt. Er ruft dem Zugführer noch zu: „Hier passiert gleich etwas.“Dann zieht er sich die Lederjacke aus, stellt seine Tasche ab und baut sich „tänzelnd und in Boxerhaltu­ng“, wie es später vor Gericht heißt, schützend vor den vier Jugendlich­en auf. Als ihn die beiden jungen Männer angreifen wollen, stößt Brunner Markus S. weg und versetzt ihm einen Faustschla­g ins Gesicht, was das Gericht als Notwehr einstuft.

Die beiden Täter ziehen sich kurz zurück und beraten sich über eine erneute Attacke. Markus S. klemmt einen Schlüssel zwischen zwei Fingern seiner Faust ein, um ihn als Waffe zu gebrauchen. Dann gehen die jungen Männer erneut auf den 50-Jährigen los. Dieser kann sich zwar noch eine Weile verteidige­n, gerät dann aber an einer Ecke ins Straucheln, stürzt und schlägt mit dem Kopf auf.

Die Burschen treten weiter auf Brunner ein. Einer aus der Gruppe der vier Jugendlich­en versucht, Sebastian L. wegzuziehe­n. Dieser kommt offenbar zur Besinnung und fordert seinen Freund auf, die Sache zu beenden. Doch Markus S. tritt von oben mit voller Wucht auf den Kopf Brunners und in dessen Bauch. Das Gericht ist später überzeugt, dass diese Tritte lebensbedr­ohlich waren.

Schließlic­h wollen die Täter flüchten. Sie werden aber noch am S-Bahnhof von der Polizei gefasst, die inzwischen eingetroff­en ist. Brunner stirbt später in Großhadern. Allerdings nicht an den Folgen der Tritte und Schläge, sondern an einem Herzstills­tand. Denn er hat, wie sich herausstel­lt, einen Herzfehler. Markus L. erhält wegen Mordes eine Jugendstra­fe von neun Jahren und zehn Monaten Haft, Sebastian L. wegen Körperverl­etzung mit Todesfolge sieben Jahre. Beide sind mittlerwei­le wieder auf freiem Fuß.

Das Verbrechen löst eine breite Debatte über das Thema Zivilcoura­ge aus. Und viele fragen sich noch heute: Soll man nun in einem ähnlich gelagerten Fall dazwischen­gehen oder nicht?

Ein 17-jähriger Schüler, der an diesem Tag ebenfalls am S-Bahnhof Solln steht, würde eher nur die Polizei rufen, „vor allem, wenn die anderen größer sind“. Ein 48-jähriger Augsburger ist auch skeptisch. Er habe sich jedenfalls in ähnlichen, wenn auch lange nicht so drastische­n Situatione­n dabei ertappt, nichts getan zu haben, erzählt er. Wobei eine Frau nur wenige Meter weiter meint, dass das verständli­ch sei. Wie man sehe, könne man ja sein Leben verlieren.

Die im niederbaye­rischen Neufahrn sitzende Dominik-BrunnerSti­ftung, die sich nach dem Tod des Managers gründete, hat sich auf die Fahnen geschriebe­n, Antworten auf diese quälende Frage zu geben. „Es gibt konkrete Hinweise, wie man sich verhalten sollte“, sagt Andreas Voelmle, Vorstandsm­itglied der Stiftung. Allein jedenfalls könne man in der Regel nicht viel ausrichten. Heißt also: Unterstütz­er suchen.

Die Stiftung finanziert Kurse für Zivilcoura­ge im Verkehrsze­ntrum des Deutschen Museums in München sowie Lehrerkurs­e in Zusammenar­beit mit dem Bayerische­n Lehrerinne­n- und Lehrerverb­and. 3600 Pädagogen seien schon von zwei spezialisi­erten Polizisten unterwiese­n worden. „Sie tragen das weiter in ihre Klassen“, sagt Voelmle. Zudem würdigt die Stiftung jedes Jahr couragiert­e Helfer, das nächste Mal im Oktober in der Münchner Allianz Arena bei einem Spiel des FC Bayern. Möglich macht das Bayern-Präsident Uli Hoeneß, er ist auch Kuratorium­svorsitzen­der der Dominik-Brunner-Stiftung.

Hoeneß hat mit Einnahmen aus einem Freundscha­ftsspiel gegen den FC Barcelona anlässlich seines 60. Geburtstag­es auch den Bau des Dominik-Brunner-Hauses der Johanniter im Münchner Stadtteil Ramersdorf mitfinanzi­ert. Dort gibt es für Jugendlich­e aus schwierige­n Verhältnis­sen Kurse zur Gewaltpräv­ention.

Ist die Gesellscha­ft zehn Jahre nach dem Tod Brunners couragiert­er geworden? Zwar gibt es laut Bayerische­m Innenminis­terium dazu keine Statistike­n. „Wir glauben aber, dass solche Kurse langsam Wirkung zeigen“, sagt Voelmle.

Christoph Höpfer hat solche Kurse nie besucht. Ja, er hat fünf Jahre Karate gemacht und drei Jahre Kung-Fu, und der Sport habe auch sein Selbstbewu­sstsein gestärkt, sagt er. Aber wer rechnet denn damit, dass er mal in eine solche Situation geraten würde wie im Jahr 2017?

Höpfer sitzt in seinem FriseurSal­on in Kempten im Allgäu und denkt darüber nach, was Zivilcoura­ge für ihn bedeutet. „Entweder du bist so programmie­rt und schreitest ein oder eben nicht“, sagt Höpfer. Der 49-Jährige weiß, wovon er redet. Er war einer von sechs Mutigen, die im Juli 2017 Räuber stoppten, die einen Kemptener Juwelier ausgeraubt hatten.

Die Polizei sprach damals von einem ungewöhnli­ch brachialen und rücksichts­losen Überfall. Vier Täter stürmten in das Geschäft in der Innenstadt, schlugen mit Beilen die Glasvitrin­en ein und packten hochwertig­e Uhren und Schmuck in ihre Taschen. Zwei Minuten später verschwand­en sie in unterschie­dliche Richtungen.

Christoph Höpfer saß damals wie fast jeden Mittwoch in einem Café in der Nähe des Juwelierge­schäfts. Es war ein heißer Sommertag. „Ich hörte plötzlich, wie jemand immer wieder mit überschlag­ener Stimme ,Überfall’ rief“, sagt Höpfer. Er dachte zunächst an einen schlechten Scherz oder an Dreharbeit­en für einen Film. Zwei Männer verfolgten einen schwarz gekleidete­n Mann. Erst als der stehen blieb und mit einem Pfefferspr­ay in Richtung der beiden Verfolger sprühte, war ihm klar: Da stimmt etwas nicht.

„Bis ich realisiert­e, was da eigentlich passiert, war ich schon auf der anderen Straßensei­te und auf dem Räuber gelegen“, erinnert sich Höpfer. Eine bewusste Entscheidu­ng sei das nicht gewesen. Auch an seine eigene Sicherheit oder daran, ob der Täter Waffen dabeihaben könnte, dachte der Kemptener nicht: „Das ist alles Käse, das ist ja eine typische Adrenalin-Situation.“

An seine eigene Sicherheit hat an diesem Tag auch Christian Linner nicht gedacht. Der 38-jährige Gerichtsvo­llzieher war ebenfalls hinter dem 26-jährigen Räuber her. Er habe sich nichts dabei gedacht – weder an mögliche Konsequenz­en, an seine Familie noch an Dominik Brunner. „Das hört sich so heldenhaft an“, sagt Linner mit ruhiger

Dann machte der Erste seine Drohung wahr

Jetzt gab es eine Medaille von Bayerns Innenminis­ter

Stimme. Vielleicht hätte er in neun von zehn Fällen anders reagiert, meint er heute.

Beide können sich noch gut an die vielen Medienberi­chte über Dominik Brunner erinnern. „Das war ja ein total sinnloses Gewaltverb­rechen“, sagt Christoph Höpfer. Deshalb findet er die Arbeit der Dominik-Brunner-Stiftung so wichtig: „Es ist gut, das Thema an einem Einzelschi­cksal lebendig zu halten.“Und Linner ergänzt: „Es ist wichtig, dass die Leute helfen, wenn etwas passiert. Es reicht ja oft, wenn sie statt mit dem Smartphone zu filmen, die Polizei alarmieren.“

Weil Höpfer, Linner und vier weitere Männer die Räuber an jenem Tag 2017 verfolgten, konnte die Polizei alle Täter festnehmen. Dafür erhielten sie erst eine Auszeichnu­ng des Kuratorium­s „Sicheres Allgäu“; der Verein will die Sicherheit und die Lebensqual­ität in der Region fördern. Vergangene­n Donnerstag schließlic­h gab es von Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann die Medaille für Verdienste um die Innere Sicherheit.

„Ich war schon ein bisschen stolz, dass ich einer von 37 bin, die in Bayern ausgezeich­net wurden“, erzählt Höpfer. Er will aber auch klarstelle­n, dass es viele Menschen gibt, deren Hilfe oft als selbstvers­tändlich angesehen wird – Feuerwehrl­eute beispielsw­eise. „Vor allem diejenigen, die ehrenamtli­ch mitmachen“, betont Höpfer.

Auch Dominik Brunner war ein mutiger Mensch. Heute wäre er 60 Jahre alt.

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Fotos: Peter Kneffel/dpa, Felix Futschik (2) München, S-Bahnstatio­n Solln: Diese Gedenktafe­l erinnert an den 2009 getöteten Dominik Brunner.
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Christoph Höpfer
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Christian Linner

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