Wie Politiker heute mit Krankheit umgehen
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig erntet Sympathie von allen Seiten für den offenen Umgang mit ihrer Brustkrebs-Erkrankung. Vor nicht allzu langer Zeit galt es als oberste Devise, jedes Zeichen von Schwäche zu vermeiden
Augsburg Kraft und Stärke. Dies dürften – geschrieben, gesagt oder auch nur gedacht – die meisten Menschen Manuela Schwesig gewünscht haben, als sie von der Krebserkrankung der SPD-Politikerin erfuhren. Eine bestürzende Nachricht, die nicht aus dritter Hand kursierte, sondern von der Betroffenen selber öffentlich gemacht wurde. Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, stellte sich am Dienstagmittag im dunkelblauen Kostüm vor die Kameras in der Schweriner Staatskanzlei. Ein „riesiger Schock“sei die Diagnose Brustkrebs gewesen, sagte die SPD-Politikerin. Ein Schock, der ihr anzusehen war.
Es hatte Symbolwert, dass es die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) war, die angesichts dieser dramatischen Erkrankung „Kraft und Stärke“beschwor. Denn Dreyer weiß, wovon sie spricht. Im Jahr 2006 machte sie öffentlich, dass sie an Multipler Sklerose leidet. In einem Interview mit der Zeit gab sie zu, dass sie sich zuvor Gedanken gemacht habe, ob dieses Eingeständnis ihr als Schwäche ausgelegt werden würde: „Dies ist eine schwere Entscheidung für jeden Politiker, immer noch“, fügte sie hinzu.
Eine Entscheidung, die Politikern heute deutlich leichter fallen dürfte als früheren Generationen. Denn: „Über verbreitete, schicksalhafte körperliche Erkrankungen wie etwa Krebs kann ein Politiker heute öffentlich reden, ohne Vertrauen zu verlieren“, sagt Thomas Kliche. Der Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal mit dem Forschungsschwerpunkt Politische Psychologie befasst sich seit Jahren damit, wie Politiker mit Krankheit umgehen.
Noch in den 80er und 90er Jahren galt der Grundsatz „um keinen Preis Schwäche zu zeigen“. Vorgelebt von Männern wie Kanzler Helmut Kohl, der Jahre später enthüllte, dass er 1989 nur unter höllischen Unterleibsschmerzen an einem CDU-Parteitag teilnehmen konnte. Dorthin quälte sich der Pfälzer, weil er seinen innerparteilichen Gegnern keine Angriffsfläche bieten wollte. Auch seine späteren Prostata-Operationen wurden systematisch verheimlicht.
Nach demselben Muster ging sein Vorgänger Helmut Schmidt mit körperlicher Schwäche um. Nur Freunde und Insider wussten davon, dass er mehrfach in seinem Büro kollabierte. So wie die Weltöffentlichkeit erst Jahre nach dem Attentat auf John F. Kennedy erfuhr, dass der so jugendlich wirkende USPräsident in Wirklichkeit ein kranker Mann war, der über Jahre nur unter schweren Medikamenten in der Lage war, den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Nicht anders verhielt es sich mit den Depressionen von Kanzler Willy Brandt. Der spätere bayerische Ministerpräsident und damalige CSU-Gesundheitsexperte Horst Seehofer litt 2002 unter einer lebensbedrohlichen Herzmuskelentzündung: „Es gehört nicht zum Bild eines Politikers, krank und schwach zu sein“, bilanzierte er noch 2005.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Offenheit wird eher als Stärke ausgelegt – auch bei Männern. CDU-Politiker Wolfgang Bosbach machte seinen Krebs öffentlich, der Linke Gregor Gysi macht keinen Hehl aus seinen Herzproblemen. „Der Cowboy als männliches Ideal wird in einer komplexen Industriegesellschaft halt offenkundig immer unpassender“, sagt Kliche dazu. „Die Selbstoffenbarung findet heute als ehrlicher, realistischer, charakterstarker Anlauf zur mutigen Bewältigung eines schlimmen Schicksalsschlags Anerkennung.“
Allerdings sieht Kliche auch negative Aspekte, die diesen Wertewandel begleiten. So hätten sich die Grenzen der Privatheit aufgeweicht. Mit zweifelhaften Begleiterscheinungen: Zu beobachten sei „ein unausgesetztes Schnüffeln im Liebesleben von allerlei Stars, Fußballern oder Royals“, ja „wuchernde Hemmungslosigkeit geschmackloser Selbstenthüllungen in den sozialen Medien.“All dies hat mit Malu Dreyer oder eben Manuela Schwesig nichts zu tun. Im Gegenteil, ihr offener Umgang mit einer eigentlich intimen Angelegenheit entzieht möglichen Spekulationen von vornherein den Boden.
Eine neue Offenheit als Trend auf breiter Front? Da ist Kliche vorsichtig: „Das kann man nicht sagen, weil wir nie erfahren, wer diskret geblieben ist.“Zudem würden Politiker über „Krankheitsbilder wie etwa Depressionen, Abhängigkeiten oder Demenz auch heute nicht offen reden“. Denn diese würden „mit dem Kern von Berechenbarkeit und Handlungsfähigkeit einer Person in Verbindung gebracht“. Ein heikles Feld für jeden Politiker. Nach wie vor.
Kanzler Schmidt kollabierte mehrfach in seinem Büro