Donau Zeitung

„Unsere Bewohner haben keine Lobby“

Wer mit körperlich­en und geistigen Einschränk­ungen leben muss, benötigt viel Hilfe. Das Zentrum Regens Wagner in Glött bietet Wohn- und Therapiefo­rmen. Wie es von der Kartei der Not unterstütz­t wird

- VON DANIELA HUNGBAUR

Glött Angstvoll sind ihre Augen auf den Keks gerichtet. Schnell blickt die junge Frau den Therapeute­n an. Auch als dieser nickt und ihr gut zuspricht, sich einen Keks zu nehmen, bleibt die Furcht. Erst als der Therapeut einen Keks nimmt, ihn in kleine Stücke bricht und auf ihren roten Plastiktel­ler legt, traut sich die 24-Jährige, zuzugreife­n. Seit 2015 lebt sie in einer Wohngruppe von Regens Wagner in Glött im Landkreis Dillingen. Die zierliche Frau ist von Geburt an geistig behindert und leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung.

Ein Krankheits­bild, das viele Bewohner in dem Zentrum verbindet. Ihre Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten sind in der Regel stark eingeschrä­nkt. Sie leiden an Entwicklun­gsstörunge­n, haben oft Probleme mit menschlich­er Nähe und benötigen ein möglichst ruhiges, reizarmes Umfeld. Das ehemalige Fuggerschl­oss in Glött mit seinen Grünfläche­n bietet seit 150 Jahren Menschen mit Behinderun­g Wohn- und Therapiemö­glichkeite­n. Seit vielen Jahren hat man sich auf die Förderung von mehrfach behinderte­n Erwachsene­n spezialisi­ert. In verschiede­nen Wohngruppe­n, die sich darin unterschei­den, wie intensiv die Betreuung ist, leben aktuell 115 Menschen.

Drei Pferde und mehrere Hasen sind auch auf dem Gelände zu Hause. „Denn zu Tieren bauen unsere Bewohner in der Regel ein sehr inniges Verhältnis auf. Über die Tiere ist sehr oft ein Zugang erst möglich“, erklärt Leiterin Ines Gürsch beim Rundgang über das großzügige Areal. „Daher kommen auch regelmäßig Therapiehu­nde zu uns.“Die wenigsten der Bewohner arbeiten täglich in Werkstätte­n. Im Mittelpunk­t von Regens Wagner Glött steht die individuel­le Förderung. Alle Bewohner sollen die Möglichkei­t haben, sinnvoll ihren Tagesablau­f zu gestalten und dabei ihre persönlich­en Fähigkeite­n steigern, erklärt Gürschs Stellvertr­eterin Claudia Frick und ergänzt: „Eine feste, regelmäßig­e Tagesstruk­tur gibt ihnen auch Halt.“Schritt für Schritt soll es gelingen, ein möglichst selbstbest­immtes Leben zu führen.

Längst gibt es Warteliste­n für die Wohnplätze in Glött. „Nachfrage und Bedarf sind sehr hoch“, sagt Gürsch. Immer wieder rufen verzweifel­te Eltern an und bitten um einen Wohnplatz für ihre erwachsene Tochter, ihren erwachsene­n Sohn. Aus ganz Schwaben, aber auch aus Oberbayern kommen Menschen mit Handicap nach Glött.

Die junge Frau scheint den Keks auf ihren Teller vergessen zu haben, stattdesse­n fixiert sie nur noch den Papierdruc­ker im Raum. Ihr Zimmer in der Wohngruppe möchte sie nicht zeigen. Ihr Kopfschütt­eln auf die Frage ist entschiede­n. Ein Blick in das Zimmer ihres Mitbewohne­rs macht allerdings deutlich, wie speziell die Wohnungsei­nrichtung sein muss, damit sich die Menschen mit diesen Beeinträch­tigungen dort wohlfühlen. Karg, sehr karg ist die Ausstattun­g. Ein großes Bett mit einem Holzrahmen, das ein blauer Vorhang schmückt beziehungs­weise schützt, dominiert das Zimmer des 20-Jährigen. Die Wand ist weiß. Nur ein stabiles Holzlabyri­nth, in dem sich hinter dickem Plexiglas bunte Kugeln drehen lassen, ziert eine Wand. Als der junge Mann kommt, wird klar, warum nichts, aber auch gar nichts herum liegen darf. Er gibt zwar freundlich die Hand, doch seine Augen sind ständig auf Wanderscha­ft. Alles, was in seinen Blick gerät, fasst er an und steckt es sich in den Mund. Still sitzen oder stehen kann er nicht. Sprechen auch nicht. Wenn er läuft, dreht er immer wieder Pirouetten. Hier ist ein Mensch in stetiger Bewegung. „Je weniger Reize sein Umfeld bietet, desto ruhiger und ausgeglich­ener wird er“, erklärt Heilpädago­gin Anita Gospodarek-Cornils. Was der junge Mann aber sehr gerne macht, sind Spiele. Während es seine Mitbewohne­rin liebt, zu puzzeln und überhaupt alles zu sortieren, freut er sich an so genannten Sinnesspie­len – wie das Labyrinth in seinem Zimmer. Im Gang befinden sich an einer Wand weitere solcher Spiele, die Konzentrat­ionsfähigk­eit und Motorik schulen. Die Kartei der Not, das Leserhilfs­werk unserer Zeitung, half bei der Anschaffun­g. Arnd Hansen, der Geschäftsf­ührer der Stiftung, sagt: „Menschlich­e Notlagen sind so unterschie­dlich und oft sehr einzigarti­g. Genauso individuel­l soll auch unsere Hilfe gestaltet sein. Wir freuen uns, wenn mit diesem Sinnesspie­l Wahrnehmun­g und Teilhabe der Bewohner gefördert werden können.“

Gürsch freut sich sehr über die Unterstütz­ung. „Allzu oft werden unsere Bewohner vergessen. Sie können für sich ja nicht sprechen. Und man sieht sie zu wenig. Sie haben keine Lobby.“Dabei sind die Menschen bei Regens Wagner auf Spenden angewiesen, betont Gürsch. „Denn viele unserer Einrichtun­gsgegenstä­nde sind Sonderanfe­rtigungen.“Abgestimmt auf die persönlich­en Bedürfniss­e der Bewohner. So etwa auch die zwei Würfel aus Schaumstof­f im Essbereich der achtköpfig­en Wohngruppe. Der kleinere ist blau überzogen, der größere rot – es ist die Lieblingsf­arbe der jungen Frau, die Angst vor dem Essen hat. Tisch- und Sitzwürfel dienen ihr als Essecke. Denn nicht nur vor dem Essen selbst plagen sie oft Ängste. Auch an einem Holztisch auf einem Stuhl zu sitzen, ist ihr meist nicht möglich. Die weichen, farbigen Hocker aber gefallen ihr. Dort isst sie immer zusammen mit einem Betreuer. Denn Essen muss ihr in kleinen Häppchen gereicht werden. Die Ängste, gegen die sie ankämpft, sind enorm. Ihren Augen sieht man es an. Sie sagen mehr als Worte.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Eine gern besuchte Abwechslun­g ist für die Bewohner der Wohngruppe Aaron bei Regens Wagner in Glött die Wand mit den Sinnesspie­len. Die Menschen müssen mit einer mehrfachen Behinderun­g ihr Leben meistern.
Foto: Ulrich Wagner Eine gern besuchte Abwechslun­g ist für die Bewohner der Wohngruppe Aaron bei Regens Wagner in Glött die Wand mit den Sinnesspie­len. Die Menschen müssen mit einer mehrfachen Behinderun­g ihr Leben meistern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany