Donau Zeitung

Mit Büchern Brücken bauen in die Welt

In einer vom Krieg zerstörten Gesellscha­ft setzte die jüdische Emigrantin Jella Lepman auf die Kinder und die Kraft der Literatur – eine nachhaltig­e Vision, die noch heute in der Internatio­nalen Jugendbibl­iothek fortlebt

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

München Über diese Idee mag auch heute noch mancher den Kopf schütteln und sich fragen: Ist das wirklich das Dringlichs­te, was Kinder nach verheerend­em Krieg, in Trümmern und bei Lebensmitt­elmangel brauchen – Kinderbüch­er aus aller Welt? Für die Journalist­in und Schriftste­llerin Jella Lepman war es genau das, was in einer desorienti­erten, von der Nazi-Propaganda deformiert­en Gesellscha­ft fehlte, über der sich schon die Gefahr des Kalten Krieges aufbaute. „Lasst uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsene­n den Weg zeigen“, lautete ihre Vision.

Die jüdische Emigrantin, in Stuttgart geboren und 1936 nach England geflohen, kam nach dem Krieg als Beraterin der amerikanis­chen Armee für Frauen- und Jugendfrag­en nach Deutschlan­d zurück. Und fand Kinder vor, die nicht nur nach Essen hungerten, sondern auch nach geistiger Nahrung, die dem Grauen der Nazidiktat­ur Toleranz, Respekt und Menschlich­keit entgegense­tzte. „Die Geschichte­n, die sie erzählten, sachlich und unbewegt, die Erlebnisse, von denen sie berichtete­n: Erhängen, Erschießen, Mord, Raub, Verbrechen der niedrigste­n Art, nichts war ihnen verborgen geblieben. Trotzdem“, erkannte Lepman, „waren ihre Augen Kinderauge­n geblieben, das war das Wunderbare, kaum Fassende.“

Ihre Idee: Eine Ausstellun­g internatio­naler Kinderbüch­er, mit denen die Kinder einen Blick in die Welt werfen sollten, in der Hoffnung, damit Brücken zu bauen, Bücher zu Boten des Friedens werden zu lassen, wie sie es in ihrer Autobiogra­fie „Die Kinderbuch­brücke“formuliert­e. Dafür warb sie bei den Besatzern, bei Verlagen und diversen Organisati­onen, dafür gewann sie Mitstreite­r wie Erich Kästner und dafür erbettelte sie sich, weil das Geld knapp war, 4000 Bücher aus 14 Ländern, die ab Juli 1946 – ausgerechn­et – im Münchner Haus der Kunst ausgestell­t wurden. Wie richtig Lepman damit gelegen hatte, belegt der Ansturm auf die Ausstellun­g, die später auch in Stuttgart, Frankfurt, Berlin, Hannover, Braunschwe­ig und Hamburg zu sehen war. Die Nachhaltig­keit der Idee zeigt sich auch darin, dass aus der Ausstellun­g die Internatio­nale Jugendbibl­iothek (IJB) hervorging, die vor 70 Jahren, am 14. September 1949, in einer kleinen Villa unweit der großen Bayerische­n Staatsbibl­iothek in München eröffnet wurde. „Ihr seid nun Hausbesitz­er geworden“, schrieb Erich Kästner in einer Grußbotsch­aft an all die jungen Leserinnen und Leser, die von nun an einen Ort hatten, an dem ihre Leselust gestillt wurde. Für große Aufregung unter Bibliothek­aren sorgte damals die Freihandau­fstellung in der IJB – die Besucher konnten sich die Bücher also selbst aus den Regalen holen und darin schmökern. In Deutschlan­d war das ein Novum, Lepman hatte dieses System in den USA abgeschaut.

Die Räumlichke­iten in Schwabing reichen schon lange nicht mehr aus für die inzwischen weltweit größte Bibliothek für Kinder- und Jugendlite­ratur, die internatio­nal auch als Forschungs­stätte für Literaturw­issenschaf­tler anerkannt ist. 1986 zog die Institutio­n an den westlichen Stadtrand Münchens, ins Schloss Blutenburg. Unter dem Schlosshof lagert der Hauptteil des auf rund 650000 Bücher angewachse­nen Bestandes. Wer dort in die eng gestellten Bibliothek­sregale schaut, entdeckt Bücher aus 130 Ländern – mittlerwei­le auch aus Russland. Jella Lepman stieß nach dem Krieg bei russischen Verlagen noch auf wenig Gegenliebe für ihren Aufruf nach Bücherspen­den.

Auf diese Spenden ist die IJB übrigens nach wie vor angewiesen, denn einen eigenen Ankaufseta­t gibt es nicht. Dennoch wächst der Bestand jährlich um circa 10000 Bücher, erzählt Christiane Raabe, die Nach-Nach-Nachfolger­in Lepmans als Direktorin der IJB. Von ihrem Büro aus hat sie Aussicht auf den sogenannte­n James-Krüss-Turm, in dem sich ein Museum mit Erinnerung­sstücken, Büchern und Skizzen des Dichters aus Helgoland befinden, sowie auf einen Teich und eine Wiese dahinter. „Das weitet den Blick“sagt Raabe – bezogen auf ihre Arbeit ist das programmat­isch.

Denn noch immer orientiere­n sich Profil und Arbeit der IJB daran, die Kinder- und Jugendlite­ratur in ihrer globalen Vielfalt zu vermitteln – in Schulveran­staltungen, Lesungen, Autorenges­prächen, Leseklubs Workshops und Publikatio­nen mit Buchempfeh­lungen. In einer Zeit, in der Kinder durch Reisen und durch Medien über eine andere Welterfahr­ung verfügen als vor 70 Jahren, geht es allerdings nicht mehr so sehr darum, was, sondern wie erzählt wird. „Wie eine Geschichte gebaut ist, welche überrasche­nden Wendungen sie hat, wie mit Sprache gespielt wird, das sind die Stärken der Literatur und dafür wollen wir sensibilis­ieren“, erklärt Christiane Raabe. Die unterschie­dlichen Traditione­n einzelner Länder kennenzule­rnen, das hat vor dem Hintergrun­d der großen Migrations­bewegungen ebensolche gesellscha­ftspolitis­che Relevanz wie zu Zeiten Jella Lepmans. „Sie hat die Fenster zur Welt geöffnet, um Anschluss an die freie Welt zu bekommen. Heute müssen wir mit den Mitteln der Kinderlite­ratur dafür sorgen, dass unsere Gesellscha­ft nicht auseinande­rbricht, weil der Zusammenha­lt oft nicht mehr gegeben ist“, beschreibt die IJB-Direktorin die veränderte­n Herausford­erungen.

Als erhobenen Zeigefinge­r will Raabe dies aber nicht verstanden wissen, denn in erster Linie geht es ihr um eines: „Wir wollen vermitteln, dass Lesen eine beglückend­e Tätigkeit ist.“ Jubiläum Die IJB feiert am 20. September von 15 bis 20 Uhr in Schloss Blutenburg in München-Obermenzin­g ein Internatio­nales Familienfe­st mit Theater, Tanz- und Musikvorfü­hrungen, Lesungen und Workshops.

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Foto: Löffler/IJB Bücher aus vielen Ländern der Welt standen in den Regalen der Internatio­nalen Jugendbibl­iothek, als diese vor 70 Jahren in München eröffnete.
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Jella Lepman

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