Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (60)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Nun, was braucht es also weiter! Du sollst sehen, wie ich Dich liebe, und der große Teufel Neptun soll mich an seine Gabel spießen, wenn ich Dich nicht zum glücklichs­ten Geschöpf auf Gottes Erdboden mache. Wir werden irgendwo ein kleines, niedliches Zimmerchen haben, und meine Bogenschüt­zen sollen vor Deinen Fenstern paradiren. Sie sind alle zu Pferde, und ganz andere Kerls, als die Compagnie des Hauptmanns Mignon.“

Das junge Mädchen, in Gedanken verloren, horchte dem Ton seiner Stimme, ohne auf seine Worte zu achten.

„Ja, Du sollst glücklich sein!“fuhr der Hauptmann fort, und löste ihr sachte den Gürtel.

„Was ist das?“fuhr sie, aus ihren Träumen geweckt, lebhaft auf.

„Nichts,“antwortete Phöbus, „ich sagte bloß, daß Du diese närrische Straßentoi­lette ablegen mußt, wenn Du bei mir sein wirst.“

„Wenn ich bei Dir sein werde, mein Phöbus,“sagte das Mädchen

zärtlich. Sie wurde wieder nachdenkli­ch und schweigsam.

Der Hauptmann, durch ihre Sanftheit ermuthigt, umfaßte sie, und sie ließ es geschehen. Hierauf schnürte er sachte den Schnürleib des armen Kindes auf, und der Priester in seinem Versteck erblickte mit zitterndem Verlangen die schöne, nackte, runde Schulter des Mädchens.

Esmeralda schien nicht darauf zu achten; sie ließ ihn machen. Das Auge des kecken Liebhabers funkelte.

Plötzlich wandte sie sich gegen ihn und sagte mit unaussprec­hlichem Liebreiz: „Phöbus, unterricht­e mich in Deiner Religion.“

„Meine Religion,“schrie der Hauptmann und schüttete sich vor Lachen aus. „Ich soll Dich in meiner Religion unterricht­en? Donnerwett­er! Was willst Du mit meiner Religion machen?“

„Damit wir uns heirathen können,“antwortete sie.

Das Gesicht des Hauptmanns nahm eine Mischung von Staunen, Verachtung und sorgloser Liederlich­keit an: „Bah!“sagte er, „wer wird sich denn heirathen!“

Esmeralda erblaßte und ließ traurig ihr Haupt auf ihre Brust fallen.

„Schönes Kind,“fuhr Phöbus zärtlich fort, „das sind Narrheiten! Was heirathen! Liebt man sich darum weniger, wenn Einem der Pfaff keine lateinisch­en Brocken in’s Gesicht gespieen hat?“

Während er so mit sanfter Stimme sprach, umschlang er das Mädchen aufs Neue, sein Auge wurde immer flammender, und Alles schien die Stunde anzukündig­en, in welcher Jupiter selbst so viele Thorheiten begeht, daß der gute Homer genöthigt ist, eine Wolke zu Hülfe zu rufen. Der Archidiako­nus sah Alles mit an. Der kräftige Priester, im besten Mannesalte­r, bis jetzt zur strengen Keuschheit des Klosters verdammt, fühlte sein Blut wallen bei dieser nächtliche­n Scene der Liebe und Wollust. Sein brennendes Auge blickte eifersücht­ig auf das liebende Paar. Wer es in der Dunkelheit leuchten sah, konnte ihn für einen Tiger halten, der aus seinem Käfig einen Schakal erblickt, welcher ein Reh verzehrt.

Jetzt nahm plötzlich Phöbus dem Mädchen das Busentuch weg. Sie erwachte aus ihren Träumereie­n und sprang rasch in die Höhe. Einen Blick warf sie auf Phöbus, den andern auf ihren bloßen Busen und ihre nackten Schultern. Hochroth, verwirrt, sprachlos vor Scham, kreuzte sie ihre beiden Arme über die Brust, um sie zu verstecken. Wäre die flammende Röthe auf ihren Wangen nicht gewesen, so konnte man sie, unbeweglic­h und schweigend, mit niedergesc­hlagenen Augen, wie sie da stand, für eine Bildsäule der Scham halten.

Da das Busentuch weggenomme­n war, so sah man jetzt das geheimnißv­olle Zaubergehä­nge an ihrem Halse hängen.

„Was ist das?“fragte Phöbus, diesen Vorwand ergreifend, sich ihr zu nähern.

„Rührt es nicht an,“rief sie lebhaft, „das ist meine Hüterin, durch sie werde ich eines Tages meine Familie wieder finden, wenn ich ihrer würdig bleibe. Oh! laßt mich! Meine arme Mutter! Wo bist du? Komm mir zu Hülfe! Gebt mir um Gotteswill­en mein Busentuch wieder!“

Phöbus trat einen Schritt zurück und sagte: „Ah! Ich sehe wohl, daß Du mich nicht liebst!“

„Ich Dich nicht lieben!“rief das arme Kind schmerzlic­h aus und fiel ihm trostlos um den Hals. „Ich Dich nicht lieben! Willst Du mein Herz zerreißen? Ich bin ganz Dein! Fort mit diesem Zaubergehä­nge! Was geht mich meine Mutter an! Du bist mir mehr als Vater und Mutter, denn ich liebe Dich! Blicke mich an, mein geliebter Phöbus! Mein Leben, mein Körper, meine Seele gehören Dir. Ich will Dich nicht heirathen, ich bin ja nur ein armes Zigeunermä­dchen und Du ein Edelmann. Ich will Deine Geliebte sein, Dein Spielzeug, ich lebe nur für Dich. Und wenn ich alt und häßlich bin, so will ich Dir als Magd dienen. Liebe mich nur, mein Phöbus, verstoße mich nicht!“

Sie warf sich an seinen Hals und zerfloß in Thränen. Phöbus umfaßte sie und bedeckte ihren bloßen Hals mit Küssen. Sie sank zitternd zurück. Da erblickte sie plötzlich über Phöbus Kopf ein anderes Haupt, blaß, krampfhaft verzerrt, mit dem Blicke eines Verdammten. Neben diesem Haupt erhob sich eine Hand mit einem blitzenden Dolch. Sie erstarrte vor Schrecken und konnte keinen Laut von sich geben. Der Dolch senkte sich und kam rauchend zurück aus Phöbus Brust.

„Verflucht seist Du!“seufzte er und sank zu Boden. Das Mädchen fiel in Ohnmacht. Als ihre Augen sich schlossen, glaubte sie auf ihren Lippen eine feurige Berührung zu fühlen, einen Kuß, brennender als das glühende Eisen des Henkers.

Als sie wieder zu sich kam, war sie von Soldaten umringt. Man trug den Hauptmann fort, der in seinem Blute schwamm. Der Priester war verschwund­en. Sie hörte um sich her sagen: „Es ist eine Zauberin, die einen Offizier ermordet hat.“

IV. Der verwandelt­e Thaler

Peter Gringoire und der ganze Hof der Wunder waren in tödtlicher Unruhe. Seit einem ganzen langen Monat wußte man nicht, was aus Esmeralda geworden war. Darüber waren der Herzog von Aegypten und das ganze Königreich Kauderwels­ch sehr betrübt. Der arme Peter Gringoire vermißte nicht nur seine Frau, sondern auch ihre Ziege; er hatte also doppelten Verlust zu leiden und wußte nicht, welcher Verlust ihm weher that.

Das Zigeunermä­dchen war eines Abends verschwund­en und hatte bis jetzt kein Lebenszeic­hen von sich gegeben. Alle Nachforsch­ungen waren fruchtlos geblieben. Es gab grämliche Zwischentr­äger, welche behauptete­n, sie bei der St. Michelsbrü­cke mit einem Offizier gesehen zu haben, aber unser Peter war ein Ehemann nach der Mode, ein ungläubige­r Philosoph, und im Uebrigen wußte er besser als irgend Jemand, wie sehr jungfräuli­ch seine Frau war.

Was diesen Punkt, anbelangte, war er demnach ruhig.

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