Donau Zeitung

In Hongkong geht es um alles oder nichts

Die Stadt versinkt im Chaos, die Lage eskaliert immer weiter. Warum sich zwischen den Demonstran­ten und der chinesisch­en Führung kein Kompromiss abzeichnet

- VON FELIX LEE, MARGIT HUFNAGEL UND FABIAN KRETSCHMER

Hongkong Feuer lodert in den nächtliche­n Himmel. Eine Universitä­t, ein Flammenmee­r. Auch ein Mannschaft­swagen der Polizei brennt – von einem Molotowcoc­ktail getroffen. „Wenn wir brennen, brennt ihr mit uns“, zitieren Hongkonger Demonstran­ten gerne aus der ScienceFic­tion-Filmreihe „Die Tribute von Panem“. Wie ein Kampf des Guten gegen das Böse mutet es an, was da gerade in der früheren britischen Kronkoloni­e geschieht.

Der Unmut im Volk ist groß – ebenso wie die Unterstütz­ung für die jungen Leute. Schon seit fünf Monaten laufen die Demonstrat­ionen gegen die Regierung, gegen das als brutal empfundene Vorgehen der Hongkonger Polizei und gegen den wachsenden Einfluss der kommunisti­schen Pekinger Führung. Die Hochschule­n der chinesisch­en Sonderverw­altungsreg­ion sind die neuen Zentralen der Gegner geworden: Die Polizei umzingelt die Gebäude, die Studenten verschanze­n sich – verzweifel­te Eltern stehen weinend vor der Szenerie und bangen um ihre Kinder. Manche beten, andere diskutiere­n mit den Polizisten.

Den dritten Tag in Folge hatten sich gestern noch rund 100 Studenten in der Polytechni­schen Universitä­t verbarrika­diert. Wer sich rauswagte, wurde von der Polizei festgenomm­en. Nur bei Minderjähr­igen wird eine Ausnahme gemacht. Eine Verurteilu­ng wegen „Aufruhrs“kann in Hongkong eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren nach sich ziehen. Viele der jungen Menschen versuchten deshalb, mit Seilen aus dem Gebäude zu flüchten, andere suchten einen Ausweg über die Kanalisati­on. Zurück bleiben ungenutzte Flaschen mit entzündbar­en Stoffen, selbst gebaute Katapulte und Schutzklei­dung, wie Hongkonger Medien berichtete­n. Die Straße ist übersät mit Trümmern und Backsteine­n. Immer radikaler werden die Proteste, immer radikaler reagiert die Polizei. Hongkong, eine der modernsten Städte der Welt, versinkt im Chaos.

Für Joshua Wong ist die Eskalation vor allem ein Zeichen für die zunehmende Hilflosigk­eit der Demonstran­ten. Wong gehört zu den bekanntest­en Gesichtern der Demo

Er sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Mein Eindruck derzeit ist, dass Hongkonger auch weiter vor extremer Gewalt zurückschr­ecken. Aber die Möglichkei­ten für eine institutio­nelle Lösung werden immer geringer.“

Die Protestbew­egung hat das Vertrauen in die Rechtsstaa­tlichkeit Hongkongs schon lange verloren. Das Vorgehen der Polizei ist nur einer der Gründe dafür: Während in den vergangene­n fünf Monaten mehr als 4400 Aktivisten festgenomm­en wurden, suspendier­te die Hongkonger Polizeibeh­örde bislang nur einen einzigen ihrer Beamten. Selbst jener Verkehrspo­lizist, der einen vermummten Demonstran­ten aus nächster Nähe in den Oberkörper schoss und lebensgefä­hrlich verletzte, wurde auch über eine Woche nach der Tat noch nicht bestraft.

Was die Menschen zusätzlich erbost: Nach der Aufhebung des ohnehin umstritten­en Vermumzwei mungsverbo­ts durch das Oberste Gericht in Hongkong wies die chinesisch­e Zentralreg­ierung das Urteil als nicht rechtmäßig zurück. Nur der Ständige Ausschuss des Pekinger Parlaments könne entscheide­n, ob ein Erlass mit dem Grundgeset­z Hongkongs übereinsti­mme, teilte der Rechtsauss­chuss des Volkskongr­esses mit. Die Politik stellt sich damit klar über die Justiz.

Was rät Joshua Wong in dieser verfahrene­n Lage? „Sprich die Wahrheit aus und lebe sie. Denn die Wahrheit ist unsere größte Waffe gegen das autoritäre Regime“, sagt der 23-Jährige. Er appelliert aber auch an den Westen, den Druck auf China zu erhöhen. „Allein sind wir zu schwach und zerbrechli­ch“, sagt Wong im Gespräch mit unserem Reporter. Doch ausländisc­he Interventi­onen laufen bislang ins Leere. Seit dem Treffen von Außenminis­ter Heiko Maas mit dem Aktivisten Joshua Wong geht Chinas Außenminis­ter Wang Yi seinem Amtskollek­ratiebeweg­ung. gen aus dem Weg. Deutschlan­d ist mit Abstand der größte chinesisch­e Handelspar­tner in Europa – und wichtiger Technologi­elieferant.

In der größten Krise Hongkongs wirkt die von Peking handverles­ene Regierung handlungsu­nfähig. Dabei raten selbst chinafreun­dliche, gemäßigte Politiker zu Zugeständn­issen. Auch vom Festland ist wenig Entgegenko­mmen zu erwarten: Zeichneten sich frühere chinesisch­e Führer wie Deng Xiaoping, der die Rückgabe Hongkongs mit den Briten ausgehande­lt hatte, durch Pragmatism­us aus, steuert der heutige „starke Mann“Xi Jinping einen harten Kurs. Wie ein Krake greift er mit langen Armen tief ins politische und gesellscha­ftliche System ein. Es gebe „keinen Platz für Kompromiss­e“, schreibt das kommunisti­sche Parteiorga­n Volkszeitu­ng in Peking. Es gehe um die nationale Souveränit­ät und die Zukunft Hongkongs. „Wir stehen heute vor einem Kampf zwischen dem Schutz von ,ein Land,

Systeme‘ und seiner Zerstörung“, schreibt das Parteiblat­t. Dabei pochen Pekings Führer vor allem auf das Prinzip „ein Land“. Und weniger auf die bürgerlich­en Freiheiten und rechtsstaa­tlichen Garantien, die den Hongkonger­n mit dem Grundsatz „zwei Systeme“bei der Rückgabe an China 1997 garantiert wurden.

Doch genau das wollen die Hongkonger nicht zulassen. Anfangs, im Juni, ging es den Demonstran­ten nur darum, ein Gesetz zu verhindern, das Auslieferu­ngen an Festland-China möglich gemacht hätte. Heute sind die Forderunge­n weitreiche­nder: Manche sprechen gar von Unabhängig­keit, von einem eigenen Stadtstaat wie Singapur. Was allen gemeinsam ist: Gerade die jungen Menschen wollen sich ihr Recht auf Mitbestimm­ung nicht nehmen lassen. Die eigene Marionette­nregierung wird zunehmend als Provokatio­n empfunden. Hinzu kommt:

Chinas Staatschef Xi Jinping fährt einen harten Kurs

Im reichen Hongkong wächst die soziale Ungleichhe­it, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer tiefer. Die wirtschaft­lich ungewissen Zeiten sorgen für zusätzlich­e Nervosität: Der Wohlstand taugt nicht länger als Opium fürs Volk, weil er zu fragil ist.

Trotz allen Säbelrasse­lns hat die politische Führung Mühe, die Proteste zu beenden. „Das Problem ist, dass die Demonstran­ten keinen eindeutige­n Anführer haben“, sagt Slawomir Sierakowsk­i, Asien-Experte der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik. „Soll China also 300000 Demonstran­ten verhaften? Oder 1000 massakrier­en?“Die internatio­nalen Konsequenz­en, die daraus erwachsen würden, wolle selbst Peking nicht tragen. „Und vergessen Sie nicht, dass Hongkong sehr wichtig ist für die chinesisch­en Oligarchen, die dort ihr Geld waschen und ihren Wohlstand mehren.“Denen sei an einer Eskalation der politische­n Lage nicht gelegen. Und auch auf die breite Masse der 7,5 Millionen Hongkonger könne sich Xi Jinping nicht verlassen. „Niemand, wirklich niemand in Hongkong möchte Teil von China sein“, sagt Sierakowsk­i.

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Foto: kyodo, dpa Beim Aufruhr in Hongkong ist kein Ende in Sicht. Helfer räumen Barrikaden­reste von den Straßen.

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