Der Kummerkasten
Zu wenig Geld für neue Schultoiletten, marode Straßen, jede Menge lästiger Papierkram und immer wieder Genörgel – wer Bürgermeister sein will, braucht ein dickes Fell. Wie sich das Amt verändert hat, was nervt und warum es trotzdem ein Traumjob sein kann
Lauingen/Eching Die Toiletten also. Sie sind eigentlich nur eine kleine Komponente, ein Mosaiksteinchen, nicht groß der Rede wert. Aber wenn man so will, dann können auch derlei Unscheinbarkeiten einiges erzählen. Sogar über die Politik.
Die Toiletten, um die es hier geht, stehen in der Lauinger Mittelschule. Fast 40 Jahre sind sie alt und haben schon deutlich bessere Zeiten erlebt. Jahr für Jahr hatte man sich vorgenommen, sie zu sanieren – doch Jahr für Jahr fehlte das Geld. „Immer wieder wurde das verschoben, im Haushaltsplan mussten viele Dinge gestrichen werden“, sagt Katja Müller, die Bürgermeisterin von Lauingen, einer Stadt mit 10000 Einwohnern im Landkreis Dillingen.
Seit anderthalb Jahren macht sie den Job nun. Langeweile, sagt sie, gibt es nicht. „Die Leute kommen schon und sagen, was ihnen nicht passt.“Denn es geht in der bayerischen Kommunalpolitik eben nicht nur um die großen Dinge – Gewerbesteuereinnahmen, Abgaben an den Landkreis, die Frage, wo ein neues Einkaufszentrum entstehen soll. Sondern auch um die kleinen. Um all die Dinge, die die Menschen umtreiben. Etwa, dass der Spielplatz heruntergekommen ist. Dass man mehr Bänkchen aufstellen könnte. Dass zu viel Müll herumliegt. Oder eben, dass die Schultoiletten dringend saniert werden müssten.
Derlei Probleme sind freilich nur winzige Teile im großen Kommunalpolitik-Puzzle. Aber sie zeigen eben auch, womit sich Bürgermeister im ganzen Land herumplagen müssen – und dass ihnen oft die Hände gebunden sind. Man fragt sich: Mit welchen Herausforderungen haben Bürgermeister in Bayern eigentlich zu kämpfen? Was hat sich über die Jahre verändert? Warum machen manche diesen Job über mehrere Jahrzehnte? Und warum sagen zugleich andere, dass ihnen das alles zu viel wird? Kurzum: Wie ist das denn so, Bürgermeister zu sein?
Müller – 39 Jahre, kurze rote Haare, brauner Hosenanzug – sitzt in ihrem Büro im Lauinger Rathaus, durch die großen Fenster blickt man auf den Marktplatz, den historischen Schimmelturm, die HerzogGeorg-Straße. Es ist das Büro, das bis zum Sommer 2018 Wolfgang Schenk gehörte. Bis zu jenem Tag, an dem der damals 59-Jährige in einer Stadtratssitzung plötzlich zusammenbrach und starb.
Müller blickt nachdenklich nach draußen, in den ungemütlichen Nieselregen, der die Stadt an diesem grauen März-Vormittag einhüllt und einen düsteren Filter über die Dächer der alten Häuser legt. Die Bürgermeisterin faltet die Hände vor sich auf dem Tisch und beginnt zu erzählen. „Eines Tages kam die CSU auf mich zu und hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, Bürgermeisterin zu werden. Ich war total überrascht“, sagt Müller, die seit 2008 im Gemeinderat des Dörfchens Bachhagel und ab 2014 auch im Kreistag saß. Zwei Wochen lang überlegte sie – und sagte schließlich zu. „Und von diesem Moment an war mein Leben ein anderes.“Im Wahlkampf klopfte sie an 3000 Haustüren, lief 500 Kilometer – und setzte sich schließlich in der Stichwahl gegen einen SPD-Kandidaten durch.
Seit sie im Amt ist, weiß sie um die Herausforderungen, vor der Bürgermeister im ganzen Land stehen. Es geht um Themen wie Breitbandausbau und Mobilfunk, die medizinische Versorgung der Bürger, die immer älter werdende Bevölkerung, das Schaffen von Wohnraum – und noch so vieles mehr. Dabei mache vor allem eines die Arbeit oft
findet Müller. „Wir kämpfen mit enorm vielen Vorschriften. Ich bin von Natur aus ein ungeduldiger Mensch. Manche Dinge müssten einfach gelockert werden.“Und das ist längst nicht ihr einziges Problem: Die Stadt hat einen immens hohen Schuldenberg. Derzeit steht Lauingen mit 17,9 Millionen Euro in der Kreide. Deswegen müssen auch immer wieder Maßnahmen gestrichen werden.
Wenn man durch kleine bayerische Ortschaften fährt, in denen es nicht viel mehr als eine Kirche und ein paar Bauernhöfe gibt, dann kommt man nicht umhin, sich zu fragen: Wie passt das eigentlich zusammen – diese Politik im Kleinen, die da gemacht wird, und die große Landespolitik in München? Sind das nicht zwei Welten, die da aufeinanderprallen? Früher sei das Verhältnis in der Tat schwierig gewesen, sagt Wilfried Schober, Sprecher des Bayerischen Gemeindetags. „Die Gemeinden wurden damals als Bittsteller oder gar Befehlsempfänger angesehen. Unter Stoiber war das so. Er hat sich zwar pro forma die Bürgermeister angehört, war aber eigentlich der Ansicht, dass sie tun müssten, was er will.“Geändert
Es geht um die kleinen Dinge, die die Menschen umtreiben
sich das erst, als im Jahr 2004 das sogenannte Konnexitätsprinzip in Kraft trat. Das bedeutet: Wenn der Staat Aufgaben an die Gemeinden delegiert, muss er auch die Geldmittel zur Verfügung stellen. „Das war heilsam“, sagt Schober.
Ein Problem, das aber längst nicht gelöst ist, ist dieses: Das Ansehen eines Bürgermeisters hat sich verändert. „Leider zum Negativen“, sagt Schober. Früher sei ein Bürgermeister noch eine richtige Respektsperson gewesen – das habe sich gewandelt. Er sei nun vor allem eine Art Sorgenonkel, ein Kummerkasten, zu dem die Menschen gehen, wenn ihnen etwas nicht passt – auch, wenn es um Dinge geht, für die der Bürgermeister gar nicht zuständig ist. „Seit es die sozialen Medien gibt, sind zudem die Tore für Beleidigungen aller Art offen.“Und die Zahl der Bürgermeister, die das abschreckt, werde größer. Bisher sei es so gewesen, dass bei jeder Wahl etwa 35 Prozent der Bürgermeister gewechselt hätten – aus Altersgründen, weil sie nicht mehr gewählt wurden, oder eben, weil ihnen alles zu viel wurde. In diesem Jahr wird etwa die Hälfte aller Rathaus-Sessel neu vergeben. „Es gibt Bürgermeisschwierig, ter, die das jetzt sechs Jahre gemacht haben und sagen: Ich habe mir das anders vorgestellt.“
Bei Siegfried Luge ist das anders. Luge ist seit 1996 Bürgermeister des 1750-Einwohner-Ortes Eching am Ammersee – 24 Jahre sind das. Der Mann ist 76 Jahre alt und kann sich keinen schöneren Job vorstellen. Luge trägt ein hellblaues Hemd unter einem dunkelbraunen Sakko, er sitzt an einem kleinen Besprechungstisch in seinem Büro, hinter ihm an der Wand hängen alte Fotos von Eching. Verändert habe sich über die Jahre vieles, das stimme schon, sagt er und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Zum Beispiel dies: „Das Eigeninteresse der Bürger ist heute größer als das Interesse für das Gemeinwohl.“
Wenn er zurückblickt, dann vor allem auf das, was ihn am meisten stolz macht: den Bau der Sporthalle im Jahr 2005. Damals habe es auch Gegenwind gegeben, viele meinten, eine so große Halle für das kleine Eching sei überdimensioniert. „Viele haben damals gesagt: Der spinnt doch. Der ist größenwahnsinnig“, erzählt Luge. Heute aber werde die Halle gut angenommen, man könne dort alle möglichen Sportarten aushabe üben, es gebe Theateraufführungen und Faschingsbälle. Auch der Schulsport findet dort statt. „So ein großes Projekt hat eine so kleine Gemeinde noch nie gestemmt“, sagt Luge. „Ich habe dafür meine ganze Kraft aufgebracht, war täglich auf der Baustelle, bin Bagger gefahren, habe Kabel verlegt.“Luge hält kurz inne, dann lächelt er und sagt: „Ich war immer von Ideen getrieben. Und das hat nie aufgehört.“Sein neuester Plan: Aus der alten Schule, in der bisher Asylbewerber untergebracht waren, soll ein Begegnungszentrum für Senioren werden.
Stichwort Senior: Ist er mit 76 Jahren nicht langsam zu alt? Luge schüttelt den Kopf. „Es gibt natürlich Menschen, die das so sehen.“Er selbst aber habe eine komplett andere Meinung. Er habe in den vergangenen Jahren unglaublich viele Erfahrungen sammeln können, außerdem sei er nach wie vor fit und voller Tatendrang. Deswegen wollte er auch noch einmal antreten – vor ihm liegt seine fünfte Amtszeit. Luge erhält bei der Wahl 53 Prozent.
Nah am Bürger zu sein, das gefalle ihm. Das bedeute aber nicht, dass er das Klischee eines klassischen Dorfbürgermeisters erfülle. „Viele machen in der Gastwirtschaft Politik. Aber das liegt mir nicht. Ich bin kein Wirtschaft-Geher. Vielleicht ist das ein Nachteil“, sagt Luge und schaut aus dem Fenster mit den rosa-weiß gestreiften Vorhängen.
Kontakt zu den Menschen – das sei es, was die Kommunalpolitik ausmache, sagt Martha Suda, Politikwissenschaftlerin an der Universität Würzburg. „Die Kommunalpolitik lebt von der direkten Begegnungshäufigkeit, etwa auf der Straße oder beim Bäcker.“Das gelte insbesondere für kleine Gemeinden. Hinzu kämen Bürgerversammlungen und Bürgersprechstunden, bei denen die Menschen mit dem Amtsträger in Kontakt treten und ihnen sagen könnten, was ihnen auf der Seele brennt. Daher verwundere es auch nicht, dass Bürger gegenüber politischen Akteuren und Institutionen auf lokaler Ebene mehr Vertrauen hätten, als das auf nationaler beziehungsweise europäischer Ebene der Fall sei. Auf der anderen Seite, fährt Suda fort, sei Kommunalpolitik allerdings für manche Menschen auf den ersten Blick auch weniger aufregend, gelte eher als solide und stünde immer ein wenig im Schatten der als spektakulär geltenden bundespolitischen oder internationalen Themen.
Das Thema, das Katja Müller, die Bürgermeisterin von Lauingen, in den nächsten Jahren beschäftigen wird, ist eines, mit dem viele Kommunen zu kämpfen haben. Das langsame, aber stete Ausbluten der Ortskerne. „Wir müssen unsere Innenstadt attraktiver machen und wieder beleben. Dann siedeln sich vielleicht wieder Geschäfte an“, sagt Müller. Die Hauptstraße, die durch die Altstadt führt, soll entlastet werden, mehr Touristen sollen nach Lauingen kommen, das Donau-Ufer soll aufgewertet werden. Und dann wäre da noch ein Detail, ein Mosaiksteinchen, das aber genauso zur Kommunalpolitik gehört: die Toiletten in der Mittelschule. Die sollen nun endlich saniert werden. Das Geld dafür ist fest eingeplant.