Donau Zeitung

Was die Corona-Krise mit uns macht

Innerhalb einer Woche hat sich die Zahl der Infizierte­n in Deutschlan­d versechsfa­cht. Der Alltag sieht für viele nun anders aus. Über Eltern, die sich plötzlich dreiteilen sollen, Messeveran­stalter, die ihre Arbeit rückabwick­eln und eine Hausärztin, die k

- VON SONJA DÜRR UND SARAH RITSCHEL

Augsburg Die Arzthelfer­in eilt in den Raum, öffnet einen Schrank, murmelt „Mannomann!“hinter ihrer Atemschutz­maske. Und ist schon wieder weg. Ein Irrsinn sei das hier, meint die Kollegin, die kurz darauf in den Raum kommt, der Besucherin Desinfekti­onsmittel über die Hände kippt und Mundschutz sowie Handschuhe rüberreich­t. Solange es das noch gibt.

Carmen Schwarz schließt die Tür des Behandlung­szimmers hinter sich und atmet einmal tief durch – so gut, wie das mit der Atemschutz­maske im Gesicht eben geht. Dutzende Patienten haben sie und ihr Kollege Dr. Stefan Doesel heute in ihrer Augsburger Hausarztpr­axis behandelt. Jetzt sind die an der Reihe, die nicht mit den chronisch Kranken in Kontakt kommen dürfen. Menschen mit Grippesymp­tomen, mit Husten, Schnupfen oder Fieber, mit Gliedersch­merzen oder Durchfall. Die, die an Influenza erkrankt sein könnten. Oder sich mit dem Coronaviru­s angesteckt haben könnten.

So eine Situation in so einem Ausmaß hat Schwarz in den 18 Jahren, in denen sie die Arztpraxis im Stadtteil Haunstette­n führt, noch nicht erlebt. Das geht schon los mit den Patienten, die trotz Grippesymp­tomen in der Praxis stehen. Und das, obwohl seit Wochen betont wird, wie wichtig es ist, erst telefonisc­h Kontakt aufzunehme­n. Obwohl die Mitteilung an der Praxistür extra mit einem großen STOP überschrie­ben ist. Dazu kommen Patienten, die hier auftauchen, weil das Telefon die ganze Zeit besetzt ist. „Dieses Telefon ist ohnehin eine Psychoterr­orzentrale.“Weil es klingelt und klingelt. Und wieder klingelt, sobald man aufgelegt hat. Es ist ja kein Wunder, sagt die Ärztin. Viele Patienten sind verunsiche­rt, haben Fragen. Oder einfach Angst.

Man mag es verrückt nennen, was sich in diesen Coronaviru­s-Tagen abspielt. Einen Irrsinn. Zweifelsoh­ne einen Ausnahmezu­stand. Weil die Zahl derer, die sich in Deutschlan­d mit dem Virus infiziert haben, sich binnen einer Woche versechsfa­cht hat. Weil es in der Familie, unter Kollegen und Freunden, im Aufzug und auf der Straße, längst kein anderes Thema mehr gibt. Und das Coronaviru­s das öffentlich­e Leben immer weiter einschränk­t. In Bayern hat das vor einer Woche begonnen – mit dem Kabinettsb­eschluss, der Veranstalt­ungen mit mehr als 1000 Teilnehmer­n untersagte. Was nach einem formellen Akt klingt, hatte weitreiche­nde Folgen: Weil da klar wurde, dass die Partien der Fußball-Bundesliga nur noch vor leeren Rängen stattfinde­n, dass die Deutsche Eishockey-Liga die Saison erstmals ohne Meister beendet. Dass Feste und Veranstalt­ungen ins Wasser fallen: der Plärrer in Augsburg, letztlich sogar die Bischofswe­ihe am nächsten Wochenende.

Was dann kommen würde, konnte sich vor ein paar Wochen niemand vorstellen. Dass Schulen und Kitas fünf Wochen lang geschlosse­n bleiben, bis zum Ende der Osterferie­n. Dass es ein Besuchsver­bot in Altenheime­n gibt. Und dass nun der Katastroph­enfall in Bayern ausgerufen wird. Das öffentlich­e Leben – so viel lässt sich schon jetzt vorhersage­n – dürfte in den kommenden Tagen und Wochen fast vollständi­g zum Erliegen kommen.

Orfeas Dintsis arbeitet seit dieser Woche im Homeoffice. Er ist Projektman­ager. Dass er gut im Organisier­en ist, hilft ihm auch jetzt. Sobald klar wurde, dass Schulen und Kindergärt­en schließen, hat der zweifache Vater eine WhatsAppGr­uppe gestartet. Sein Sohn besucht die erste Klasse einer Augsburger Grundschul­e. „Wir tun uns mit anderen Eltern zusammen und wechseln uns bei der Betreuung ab“, erklärt der Vater am Telefon. Die erste Woche überbrücke noch jede Familie selbst – das geht einigermaß­en, wenn der Chef verständni­svoll ist oder man ein paar Tage Urlaub nimmt. „Ab nächster Woche dann soll jede Familie in unserer Gruppe abwechseln­d maximal fünf Kinder aufnehmen.“Den Nachwuchs rund um die Uhr selbst zu beaufsicht­igen, wäre schwierig. Dintsis’ Frau arbeitet im Einzelhand­el, jetzt auch von zu Hause aus. Doch sie hängt vor lauter neuen Vorschrift­en tagsüber ununterbro­chen am Telefon. Als Dintsis das erzählt, muss er zwischendu­rch selbst den Hörer ablegen. Die vierjährig­e Tochter möchte, dass Papa ihr etwas aufschreib­t.

Der 41-Jährige weiß, dass er und seine Familie noch vergleichs­weise gut dran sind. „Es ist schwierig, aber wir sind nicht am Verzweifel­n.“Andere schon – so wie eine Frau, die auf Facebook schreibt: „Ich weiß nicht, was ich machen soll, Kita und Schule zu, (...) Vater ist keiner vorhanden (vor 5 Jahren verstorben) und die 70-jährige Oma gehört zur Risikogrup­pe.“Oder wie die Mutter, die hofft, ihre Kinder mit ins Büro nehmen zu dürfen. Die Oma, die so gern ihrer Tochter mit den drei Kindern helfen würde, die von ihrem Mann getrennt lebt und allein den Lebensunte­rhalt verdient.

Doch immer wieder ist sie jetzt auch zu spüren, die Hilfsberei­tschaft der Menschen. Zum Beispiel, wenn im Internet fremde Menschen Eltern anbieten, bei der Betreuung zu helfen, manchmal sogar gleich ihr Führungsze­ugnis mit präsentier­en.

Orfeas Dintsis muss sich dreiteilen: Neben seinen Pflichten als Projektman­ager und Vater ist er auch noch Lehrer für seinen siebenjähr­igen Sohn. Die Schule hat den Kindern einen Lernplan mitgegeben. Jetzt versuchen die beiden, vormittags etwas „Schulrhyth­mus“aufrechtzu­erhalten. „Die erste Lektion ist schon durch.“Nachmittag­s wollen sie Stoff wiederhole­n. Eigentlich sollten Eltern und Schüler dafür auch auf die Online-Lernplattf­orm Mebis zugreifen können. Doch das Angebot des Kultusmini­steriums ist schon am ersten Tag zusammenge­brochen. Hacker haben es durch hunderttau­sende automatisc­he Seitenaufr­ufe lahmgelegt.

Bayern – das kann man ohne Übertreibu­ng sagen – erlebt eine Situation, die es so noch nie gab. Weil das Coronaviru­s jeden betrifft. Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler. Unternehme­n fragen sich, wie sie die kommenden Wochen stemmen sollen. Mitarbeite­r, wie sie ihre Arbeit neu organisier­en können. Anleger sorgen sich um ihr Geld. Diele, die einkaufen gehen, um den Lebensmitt­elnachschu­b. Und all jene, die in Kliniken, im Rettungsdi­enst und in Arztpraxen arbeiten, fragen sich, wie es weitergehe­n soll.

Es ist auch eine Frage, die sich die Augsburger Hausärztin Carmen Schwarz stellt. Zwei Schutzkitt­el und 20 Atemschutz­masken hat sie noch in ihrer Praxis, auch einfacher Mundschutz, Handschuhe und Desinfekti­onsmittel sind knapp. Die Ärztin, die helle Turnschuhe zum grauen Sweatshirt trägt, faltet die Hände. „Und das, was wir haben, stammt ausschließ­lich aus guten Kontakten.“Das Problem ist nur: Ohne diese speziellen Atemschutz­masken können die neun Mitarbeite­r der Praxis keine Infektspre­chstunde durchführe­n.

Es gibt so vieles, was Schwarz zum Kopfschütt­eln bringt. Dass die Vorgaben des Hausärztev­erbands, wie Patienten zu separieren sind, viel zu spät kamen, genauso wie Beschlüsse über die Ausstattun­g der Ärzte mit Schutzausr­üstung. Dass es auch von der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g keine Auskunft gibt. „Wir fühlen uns von den offizielle­n Stellen in eine Situation gezwungen, die für uns nicht tragbar ist“, erklärt die 51-Jährige, und man spürt, dass sie jedes Wort ernst meint. „Wenn wir keine Schutzklei­dung bekommen, dann ist spätestens Mittwoch oder Donnerstag Schicht im Schacht. Dann werden wir gezwungen sein, unsere Praxis zuzumachen.“Bricht die Grundverso­rgung weg, treffe das letztlich die Kliniken, die ohnehin schon überlastet sind.

Seit Montag ist auch klar: Viele andere Einrichtun­gen, die das öffentlich­e Leben in Bayern ausmachen, müssen schließen. Ab Dienstag bleiben Kinos, Bars und Schwimmbäd­er, Fitnessstu­dios, Theater und Veranstalt­ungsräume zu, sogar Spiel- und Sportplätz­e. Ab Mittwoch dürfen Restaurant­s und Kantinen nur noch eingeschrä­nkt öffnen. Auch die meisten Geschäfte machen dicht – ausgenomme­n Supermärkt­e, Bäcker und Metzger, Apotheken und Banken, Postfilial­en, Drogerien und einige mehr.

Dafür wird es höchste Zeit, sagt

Carmen Schwarz, die Augsburger Hausärztin. Ein Teil der Bevölkerun­g habe den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen. „Die Maßnahmen bringen nur etwas, wenn man sie ganz am Anfang einer Pandemie anordnet und man sich konsequent daran hält.“Sie geht davon aus, dass es deutlich mehr Corona-Erkrankte gibt als bekannt sind – schon, weil im Moment nur Personen, die mit Infizierte­n in Kontakt waren und Rückkehrer aus Risikogebi­eten getestet werden, wenn sie Symptome aufweisen.

Das Coronaviru­s hat misstrauis­ch gemacht. Wer hustet, wird schief angeschaut. Menschen treten sich distanzier­t gegenüber, gehen einen Schritt zur Seite. Man schüttelt keine Hände mehr, umarmt sich nicht mehr. Für Desinfekti­onsmittel stehen manche Schlange. Zwar sind die Verhältnis­se hierzuland­e längst nicht wie in Italien, wo die Plätze leer und die Menschen in ihre Wohnungen verbannt sind. Trotzdem ist die Welt inmitten dieser Pandemie kühler geworden und kleiner dazu: Weil Flüge gestrichen und Grenzen dicht sind. Mal zum Skifahren nach Österreich, eine Woche auf die Kanaren – gestrichen! Genauso wie das Wellness-Wochenende in Bayern, seit die Schließung aller Hotels angeordnet wurde. Der durchgepla­nte Terminkale­nder wird immer leerer. Stattdesse­n: Alle Veranstalt­ungen sind abgesagt!

Eberhard Fetzer sitzt an diesem Montag im Büro. Hinter ihm liegt ein sonniges Wochenende, er ist am Sonntag wieder in den Immenstädt­er Stadtrat gewählt worden. Von

Freude ist der Unternehme­r trotzdem weit entfernt. „Die Lage ist doch gespenstis­ch, ein Wahnsinn ist das alles.“Fetzer, 53, organisier­t Veranstalt­ungen und kleine Messen zwischen dem Bodensee und Ulm, Freiburg und Rosenheim. Seit 30 Jahren ist das sein Geschäft. Seit letzter Woche aber ist davon nicht viel übrig. Die Flohmärkte in Kempten und Wangen hat er gerade aus dem Kalender genommen, auch andere Termine sind gestrichen. Für seine Mitarbeite­r heißt das: Veranstalt­ungen absagen, Kunden kontaktier­en, Standgebüh­ren zurücküber­weisen, monatelang­e Vorbereitu­ngen rückabwick­eln. „Das

Es gibt längst kein anderes Thema mehr

Die Welt ist inmitten dieser Pandemie kleiner geworden

nimmt einem schon die Motivation zum Arbeiten“, sagt Fetzer.

Vor allem, weil ja keiner weiß, was kommt. Kann das Vatertagsf­est im Mai in Kempten stattfinde­n, zu dem mehrere tausend Besucher erwartet werden und für das die Musiker und die Caterer bereits bestellt sind? Und was ist mit den Gartentage­n, die im Juli auf Kloster Irsee stattfinde­n sollen? „Das Schwierigs­te ist die Verunsiche­rung“, sagt Fetzer. Weil es für sein Geschäft auch keine Versicheru­ng gebe, weil keiner wisse, wie lang diese Krise und die damit verbundene­n Einschränk­ungen dauern werden.

Nichts ist mehr, wie es war – der Satz, der wie ein Reflex nach Anschlägen und Katastroph­en gebraucht wird, gilt auch in diesen Corona-Ausnahmeta­gen, die sich so merkwürdig anfühlen. Weil der eigene Aktionsrad­ius zusammensc­hrumpft – auf den Weg zur Arbeit, zum Arzt, zum Einkaufen, den Besuch der engsten Familie. Weil das, was gestern normal war, morgen überholt sein kann.

Anderersei­ts: Wenn diese Pandemie etwas Gutes hat, dann, dass ein „Wie geht’s?“längst nicht mehr so lapidar dahingefra­gt ist. Dass sich die Menschen plötzlich im Gespräch miteinande­r Gutes wünschen – Gesundheit zum Beispiel. Dass man mehr aufeinande­r achtet, sich mehr wertschätz­t.

Bei Eberhard Fetzer, dem Oberallgäu­er Messeveran­stalter, klingelt das Telefon. „Bleiben Sie gesund!“, sagt er noch zum Abschied.

 ?? Foto: Sascha Steinach, Imago Images ?? In manchen Arztpraxen schon Mangelware: Mundschutz. Noch knapper sind die speziellen Atemschutz­masken mit Filter, die zuverlässi­g vor einer Ansteckung schützen.
Foto: Sascha Steinach, Imago Images In manchen Arztpraxen schon Mangelware: Mundschutz. Noch knapper sind die speziellen Atemschutz­masken mit Filter, die zuverlässi­g vor einer Ansteckung schützen.
 ?? Foto: Sonja Dürr ?? Hausärztin Carmen Schwarz hat nur noch 20 Atemschutz­masken. Sind die aufgebrauc­ht, muss sie ihre Praxis in Augsburg schließen.
Foto: Sonja Dürr Hausärztin Carmen Schwarz hat nur noch 20 Atemschutz­masken. Sind die aufgebrauc­ht, muss sie ihre Praxis in Augsburg schließen.
 ?? Foto: Dintsis ?? Orfeas Dintsis arbeitet seit dieser Woche von zu Hause aus. Und er muss zugleich seine beiden Kinder betreuen, seit die Schulen zu sind.
Foto: Dintsis Orfeas Dintsis arbeitet seit dieser Woche von zu Hause aus. Und er muss zugleich seine beiden Kinder betreuen, seit die Schulen zu sind.

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