Donau Zeitung

„Krisen sind nicht nur mit Worten lösbar“

Der langjährig­e EU-Kommissar Günther Oettinger kritisiert das zerrissene Bild, das Europa in der Coronaviru­s-Krise abgibt. Und der CDU-Politiker spricht darüber, was die aktuellen Herausford­erungen für den Führungska­mpf in seiner Partei bedeuten

- Interview: Detlef Drewes

Wirklich koordinier­t wirkten das Auftreten der Mitgliedst­aaten gegen das Coronaviru­s nicht. Gibt die EU nicht gerade ein zerrissene­s Bild ab? Günther Oettinger: Wenn man weiß, dass die EU-Kommission und das Europäisch­e Parlament im Gesundheit­ssektor nur beschränkt­e Kompetenze­n haben, bleibt der Eindruck, dass man sich bemüht. Das ist ähnlich schwierig, wie die Abstimmung zwischen den deutschen Bundesländ­ern, die ja auch nicht alle zur gleichen Zeit die gleichen Schritte tun. Ich halte es für zwingend, dass wir nach der Corona-Krise darüber reden, die Kompetenze­n neu zu sortieren und zu optimieren. Die Frage muss sein, was kann Europa zusätzlich zu nationalen Bemühungen tun.

Am Freitag haben die Innenminis­ter beschlosse­n, dass Brüssel die Grenzschli­eßungen koordinier­t. Über’s Wochenende hat dann jeder gemacht, was er will. Das klingt nicht nach Koordinati­on … Oettinger: Nein, das hinterläss­t nicht den Eindruck europäisch abgestimmt­en Handelns. Deshalb war es wichtig, dass die Kommission am gestrigen Montag Leitlinien erlassen hat, wie die Reisefreih­eit für Menschen eingeschrä­nkt werden muss, ohne dass der Warenverke­hr, die Logistik, die Versorgung mit Lebensmitt­eln und Medikament­en unterbroch­en werden. Da ist ein Mittelweg notwendig. Denn zentral muss natürlich jetzt sein, dass die Dienstleis­tungen der öffentlich­en Hand und die Versorgung der Menschen nicht zum Erliegen kommen. Dazu gehört auch die Einreise von Mitarbeite­rn im grenznahen Raum, die wir brauchen, um die Krankenhäu­ser weiter am Laufen zu halten.

Es bleiben wichtige Entscheidu­ngen auf EU-Ebene liegen. Was bedeutet das für Europa?

Oettinger: Es zeigt sich jetzt, dass es ein großer Fehler war, die Gespräche über den Haushaltsr­ahmen 2021 bis 2027 so lange aufzuschie­ben. Das hat mit der Blockade von einigen Staats- und Regierungs­chefs zu tun. Hätten wir jetzt eine Einigung, könnten wir weit entschiede­ner bei Forschung, Wirtschaft und Gesellscha­ft einspringe­n und agieren. Und bei den Infrastruk­turmitteln könnte man schon für die nächsten Jahre planen. Ich appelliere deshalb an die Staats- und Regierungs­chefs, möglichst bald einen EU-Gipfel per Videokonfe­renz stattfinde­n zu lassen und sich zu einigen.

Ins Vergessen gerät gerade die Flüchtling­skrise. Muss Europa mehr Geld in die Hand nehmen, etwa für die Türkei? Oettinger: Die zwei Mal drei Milliarden Euro, die die Union seit 2016 bereitgest­ellt hat, sind zwar nicht alle abgeflosse­n, aber durch Zahlungszu­sagen für bestimmte Projekte doch festgelegt. Deshalb wird ein neues Programm notwendig werden, um die zusätzlich­en Belastunge­n der Türkei mitzutrage­n.

Die Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze führt natürlich zu der Frage, ob die EU nicht viele Jahre lang eine Lösung verschlafe­n hat. Ist das so? Oettinger: Auf den griechisch­en Inseln zeigt sich die Machtlosig­keit Europas. Die Stimme dieser Union auf der Weltbühne und im Mittleren Osten zu wenig wahrgenomm­en. Das gilt insbesonde­re für den Krieg in Syrien. Das gilt auch für die Beteiligun­g Russlands und der Türkei in Syrien. Da spielt sich Weltpoliti­k ohne die EU ab, obwohl wir von den Auswirkung­en massiv betroffen sind. Das darf nicht so bleiben.

Muss Europa dazu auch militärisc­h aktiver werden?

Oettinger: Ja, eindeutig. Wir müssen erkennen, dass einige Krisen nicht mit Worten lösbar sind. Sanktionen mögen hier und da angebracht sein. Aber es gibt eben auch jene Regionen, in denen die Sicherheit der Menschen und die Beendigung von

Bürgerkrie­gen oder Kriegen nur mit militärisc­hen Mitteln sicherzust­ellen ist. Da wird Deutschlan­d seine Zurückhalt­ung aufgeben müssen. Eine gemeinsame Linie von Frankreich und der Bundesrepu­blik, in Partnersch­aft mit Großbritan­nien und anderen Mitgliedst­aaten erscheint mir unverzicht­bar.

Wird die EU auf lange Sicht von der jetzigen Krise beschädigt? Oder sogar gestärkt daraus hervorgehe­n? Oettinger: In einigen Ländern zeigt sich gerade, dass die zurücklieg­enden sechs guten Jahre nicht genutzt wurden, um die Haushalte zu sanieren. Ich denke dabei insbesonde­re an Italien. Nun braucht man eben nicht nur staatliche Hilfen, die es geben wird. Ebenso wie ein Hilfspaket der Euro-Zone und der Europäisch­en Union. Aber die betroffene­n Länder müssen sich eben auch neu verschulde­n, höher als eigentlich geplant. Das ist jetzt zu akzeptiere­n. Aber umso wichtiger wird es nach der Krise werden, die Staatsfina­nzen in Ordnung zu bringen. Ein solide finanziert­es Gemeinwese­n ist ein Bollwerk gegen jede Art von Krisen.

Ihre Partei muss nach der Virus-Krise die offene Führungsfr­age lösen. Das wird in einer Phase sein, in der Wirtschaft­skompetenz gefragt ist. Ist das ein Vorteil für Friedrich Merz? Oettinger: Diese Krise zeigt, dass man in der Politik Management­Qualitäten, Handlungsf­ähigkeit und Übersicht haben muss. Das können in diesen Tagen alle drei Kandidaten beweisen. Friedrich Merz hat unbestreit­bar eine hohe Wirtschaft­skompetenz, Armin Laschet führt sehr erfolgreic­h die Landesregi­erung in NRW, das vom Coronaviru­s besonwird ders betroffen ist. Und Norbert Röttgen kann mit seiner Erfahrung im Auswärtige­n Ausschuss des Bundestage­s die Kooperatio­n mit den Nachbarlän­dern sowie weltweit sicherstel­len. Deshalb sehe ich da keinen Krisen-Gewinner oder kann erkennen, dass sich die Chancen für den einen oder anderen erhöht haben.

Es gibt in der CDU Überlegung­en, den neuen Vorsitzend­en durch einen Mitglieder­entscheid zu wählen. Was halten Sie davon?

Oettinger: Diese Diskussion ist ja nicht neu. Ich bin davon überzeugt, dass die Einwände gegen einen Mitglieder­entscheid überwiegen. Ich halte es für besser, wenn die Kandidaten sich auf regionalen Veranstalt­ungen der Partei vorstellen würden und wir dann baldmöglic­hst auf einem Bundespart­eitag den neuen Vorsitzend­en wählen. Es gibt da keine Eile, denn wir haben einen kompetente­n Generalsek­retär und eine Vorsitzend­e, die die Geschäfte gut führt. Im Augenblick kommt es vielmehr darauf an, dass die Bundesregi­erung in Zusammenar­beit mit den Ländern führt. Und da sind wir mit der Bundeskanz­lerin, dem Bundesgesu­ndheitsmin­ister sowie den übrigen Kabinettsm­itgliedern und den sich sehr verantwort­ungsbewuss­t verhaltend­en Ministerpr­äsidenten hervorrage­nd aufgestell­t.

Günther Oettinger, 66, war von 2005 bis 2010 baden-württember­gischer Ministerpr­äsident. Dann wechselte der CDU-Politiker nach Brüssel, wo er bis 2019 nacheinand­er mehrere Ressorts als EU-Kommissar übernahm, zuletzt die Finanzen.

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Foto: Imago Images Europapoli­tiker Günther Oettinger: „Zwingend nötig, Kompetenze­n neu zu sortieren und zu optimieren.“

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