„Deutschland muss regierbar bleiben“
Tagen oder vertagen? Die Corona-Krise stellt auch den Bundestag vor große Herausforderungen
Berlin Stefan Müller riskiert nichts. Wenn der Bundestag in der nächsten Woche zu den letzten Sitzungen vor der Osterpause zusammentritt, wird der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe nicht mit der Bahn oder dem Flugzeug anreisen, sondern sich in Erlangen in sein Auto setzen und selbst nach Berlin fahren. Die meisten seiner Mitarbeiter arbeiten zwar schon von zu Hause aus, nur in den Büros der Fraktionsoberen halten einige Stallwachen noch tapfer die Stellung. Ein Parlament aber kann den Betrieb nicht einfach einstellen wie ein Möbelhaus, eine Boutique oder ein Fußballverein. Deshalb muss Müller nach Berlin.
Trotz einiger infizierter Abgeordneter beschlussfähig bleiben, dabei aber größtmögliche Vorsicht walten lassen: Als Parlamentarischer Geschäftsführer ist Müller einer der Maschinisten der Macht, die den politischen Betrieb jetzt aufrechterhalten und neu organisieren müssen. Reicht es, wenn nur die Hälfte der Abgeordneten anreist? Können Ausschusssitzungen ausfallen und Verfahren zur Änderung von Gesetzen
auf diese Weise verkürzt werden? Lässt sich die Plenarsitzung von den üblichen zweieinhalb Tagen vielleicht auf einen Tag eindampfen? Wichtige Beschlüsse wie die großzügigeren Regelungen beim Kurzarbeitergeld oder die Verlängerung einiger Bundeswehrmandate, sagt Müller im Gespräch mit unserer Redaktion, „haben wir bereits gefasst. Aber es kann natürlich sein, dass wir aktuell noch weitere Entscheidungen treffen müssen.“
Ein Einsatz im Irak, wo die Bundeswehr die Anti-IS-Koalition bei der Luftbetankung unterstützt, ist noch nicht verlängert worden. Die Ausweitung der Arbeitszeiten in den Supermärkten könnte noch ein Thema sein – und wer weiß heute schon, was die Regierung noch an Maßnahmen zur Stabilisierung des Landes plant, die erst in Kraft treten können, wenn der Bundestag zugestimmt hat. „Als Abgeordnete stehen wir in besonderer Pflicht“, hat Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble in einem Brief an alle Mitglieder des Bundestages geschrieben. Neben den nötigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz sei es das oberste Gebot, „die Handlungsfähigkeit des Verfassungsorgans zu erhalten.“Der SPD-Abgeordnete Karl-Heinz Brunner aus Illertissen, der sich nach einem Corona-Fall in einer Arbeitsgruppe seiner Fraktion in eine Art freiwillige Quarantäne begeben hat und nun wieder „clean“ist, sieht das ähnlich: „Die Krise kann noch so groß sein – Deutschland muss regierbar bleiben.“
Die Sitzungswoche einfach abzusagen ist auch vor diesem Hintergrund eine eher unwahrscheinliche
Lösung, es sei denn, eine Fraktion müsste wegen eines Corona-Falles komplett in Quarantäne. „Wir brauchen eine reduzierte Form“, sagt Müller, ohne selbst schon zu wissen, wie diese am Ende aussehen wird. Das Grundgesetz sieht für den Fall der Fälle zwar eine Art Notparlament mit 48 Mitgliedern vor, von denen zwei Drittel aus dem Bundestag kommen und ein Drittel aus dem Bundesrat – dieser „gemeinsame
Ausschuss“aber darf nach der gegenwärtigen Rechtslage nur im Verteidigungsfall eingerichtet werden.
Über eine mögliche Änderung der Verfassung, die das Einsetzen eines Notparlaments auch für den Fall einer Pandemie oder einer Naturkatastrophe erlauben würde, haben die Geschäftsführer der einzelnen Fraktionen und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zwar schon diskutiert – aber nur sehr vage, wie Müller betont. „Wenn Sie das Grundgesetz ändern wollen“, sagt er, „können Sie nicht einfach mal so aus der Hüfte schießen.“
Wie auch immer das Parlament in der nächsten Woche tagt: Ganz unter sich bleiben werden die Abgeordneten nicht. Nach Artikel 42 des Grundgesetzes verhandelt der Bundestag öffentlich. Das heißt: Schäuble kann mit Blick auf die Ansteckungsgefahr zwar größeren Gruppen den Zutritt verwehren. Einzelpersonen aber, sagt Müller, würden nicht abgewiesen, sondern dürften mit einem entsprechenden Sicherheitsabstand auf die Besuchertribüne. „Damit ist die Öffentlichkeit gewährleistet.“Dass die Sitzungen auch im Fernsehen übertragen würden, reiche dazu nicht aus.