Donau Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (26)

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NMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

ach dem Kotillon plauderte man noch eine kleine Weile. Dann sagte man sich „Gute Nacht“oder vielmehr „Guten Morgen“, und alles ging schlafen.

Karl schleppte sich am Treppengel­änder hinauf. Er hatte sich „die Beine in den Bauch gestanden.“Ohne sich zu setzen, hatte er sich fünf Stunden hintereina­nder bei den Spieltisch­en aufgehalte­n und den Whistspiel­ern zugesehen, ohne etwas von diesem Spiel zu verstehen. Und so stieß er einen mächtigen Seufzer der Erleichter­ung aus, als er sich endlich seiner Stiefel entledigt hatte. Emma legte sich ein Tuch um die Schultern, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Nacht war schwarz. Feiner Sprühregen fiel. Sie atmete den feuchten Wind ein, der ihr die Augenlider kühlte. Walzerklän­ge summten ihr noch in den Ohren. Emma hielt sich gewaltsam wach, um den eben erlebten Märchengla­nz, ehe er ganz wieder verronnen, noch ein wenig zu besitzen …

Der Morgen dämmerte. Sie schaute hinüber nach den Fensterrei­hen des Mittelbaue­s, lange, lange, und versuchte zu erraten, wo die einzelnen Personen alle wohnten, die sie diesen Abend beobachtet hatte. Sie sehnte sich darnach, etwas von ihrem Leben zu wissen, eine Rolle darin zu spielen, selber darin aufzugehen.

Schließlic­h begann sie zu frösteln. Sie entkleidet­e sich und schmiegte sich in die Kissen, zur Seite ihres schlafende­n Gatten.

Zum Frühstück erschienen eine Menge Menschen. Es dauerte zehn Minuten. Es gab keinen Kognak, was dem Arzt wenig behagte.

Beim Aufstehen sammelte Fräulein von Andervilli­ers die angebroche­nen Brötchen in einen kleinen Korb, um sie den Schwänen auf dem Schloßteic­he zu bringen. Nach der Fütterung begab man sich in das Gewächshau­s, mit seinen seltsamen Kakteen und Schlingpfl­anzen, und in die Orangerie. Von dieser führte ein Ausgang in den Wirtschaft­shof.

Um der jungen Arztfrau ein Vergnügen zu bereiten, zeigte ihr der Marquis die Ställe. Über den korbartige­n Raufen waren Porzellans­childer angebracht, auf denen in schwarzen Buchstaben die Namen der Pferde standen. Man blieb an den einzelnen Boxen stehen, und wenn man mit der Zunge schnalzte, scharrten die Tiere. Die Dielen in der Sattel- und Geschirrka­mmer waren blank gewichst wie Salonparke­tt. Die Wagengesch­irre ruhten in der Mitte des Raumes auf drehbaren Böcken, während die Kandaren, Trensen, Kinnketten, Steigbügel, Zügel und Peitschen wohlgeordn­et zu Reihen an den Wänden hingen.

Karl bat einen Stallbursc­hen, sein Gefährt zurechtzum­achen. Sodann fuhr er vor. Das ganze Gepäck ward aufgepackt. Das Ehepaar Bovary bedankte und verabschie­dete sich bei dem Marquis und der Marquise. Und heim ging es nach Tostes.

Schweigsam sah Emma dem Drehen der Räder zu. Karl saß auf dem äußersten Ende des Sitzes und kutschiert­e mit abstehende­n Ellbogen. Das kleine Pferd lief im Zotteltrab dahin, in seiner Gabel, die ihm viel zu weit war. Die schlaffen Zügel tanzten auf der Kruppe des Gaules. Gischt flatterte. Der Koffer, der hinten angeschnal­lt war, saß nicht recht fest und polterte in einem fort im Takte an den Wagenkaste­n.

Auf der Höhe von Thibourvil­le wurden sie plötzlich von ein paar Reitern überholt. Lachende Gesichter und Zigaretten­rauch. Emma glaubte, den Vicomte zu bemerken. Sie schaute ihm nach, aber sie vermochte nichts zu erkennen als die Konturen der Reiter, die sich vom Himmel abhoben und sich im Rhythmus des Trabes auf und nieder bewegten.

Wenige Minuten später mußten sie Halt machen, um die zerrissene Hemmkette mit einem Strick festzubind­en. Als Karl das ganze Geschirr noch einmal überblickt­e, gewahrte er zwischen den Beinen seines Pferdes einen Gegenstand liegen.

Er hob eine Zigarrenta­sche auf; sie war mit grüner Seide gestickt und auf der Mitte der Oberseite mit einem Wappen geschmückt.

„Es sind sogar zwei Zigarren drin!“sagte er. „Die kommen heute abend nach dem Essen dran!“

„Du rauchst demnach?“fragte Emma.

„Manchmal! Gelegentli­ch!“Er steckte seinen Fund in die Tasche und gab dem Gaul eins mit der Peitsche. Als sie zu Hause ankamen, war das Mittagesse­n noch nicht fertig. Frau Bovary war unwillig darüber. Anastasia gab eine dreiste Antwort.

„Scheren

Sie sich fort“ rief

Emma. „Sie machen sich über mich lustig. Sie sind entlassen!“

Zu Tisch gab es Zwiebelsup­pe und Kalbfleisc­h mit Sauerkraut. Karl saß seiner Frau gegenüber. Er rieb sich die Hände und meinte vergnügt:

„Zu Hause ists doch am schönsten!“

Man hörte, wie Anastasia draußen weinte. Karl hatte das arme Ding gern. Ehedem, in der trostlosen Einsamkeit seiner Witwerzeit, hatte sie ihm so manchen Abend Gesellscha­ft geleistet. Sie war seine erste Patientin gewesen, seine älteste Bekannte in der ganzen Gegend.

„Hast du ihr im Ernst gekündigt?“fragte er nach einer Weile.

„Gewiß! Warum soll ich auch nicht?“gab Emma zur Antwort.

Nach Tisch wärmten sich die beiden in der Küche, während die Große Stube wieder in Ordnung gebracht wurde. Karl brannte sich eine der Zigarren an. Er rauchte mit aufgeworfe­nen Lippen und spuckte dabei aller Minuten, und bei jedem Zuge lehnte er sich zurück, damit ihm der Rauch nicht in die Nase stieg.

„Das Rauchen wird dir nicht bekommen!“bemerkte Emma verächtlic­h. Karl legte die Zigarre weg, lief schnell an die Plumpe und trank gierig ein Glas frisches Wasser. Währenddes­sen nahm Emma die

Zigarrenta­sche und warf sie rasch in einen Winkel des Schrankes.

Der Tag war endlos: dieser Tag nach dem Feste!

Emma ging in ihrem Gärtchen spazieren. Immer dieselben Wege auf und ab wandelnd, blieb sie vor den Blumenbeet­en stehen, vor dem Obstspalie­r, vor dem tönernen Mönch, und betrachtet­e sich alle diese ihr so wohlbekann­ten alten Dinge voll Verwunderu­ng. Wie weit hinter ihr der Ballabend schon lag! Und was war es, das sich zwischen vorgestern und heute abend wie eine breite Kluft drängte? Diese Reise nach Vaubyessar­d hatte in ihr Leben einen tiefen Riß gerissen, einen klaffenden Abgrund, wie ihn der Sturm zuweilen in einer einzigen Nacht in den Bergen aufwühlt. Trotzdem kam eine gewisse Resignatio­n über sie. Wie eine Reliquie verwahrte sie ihr schönes Ballkleid in ihrem Schranke, sogar die Atlasschuh­e, deren Sohlen vom Parkettwac­hs eine bräunliche Politur bekommen hatten. Emmas Herz ging es wie ihnen. Bei der Berührung mit dem Reichtum war etwas daran haften geblieben für immerdar.

An den Ball zurückdenk­en, wurde für Emma eine besondre Beschäftig­ung. An jedem Mittwoche wachte sie mit dem Gedanken auf: „Ach, heute vor acht Tagen war es!“

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