Europa versagt in der Krise
Zu träge der Apparat, zu unterentwickelt der Gemeinschaftsgeist: Warum die Mitgliedsländer der EU sich lieber selbst helfen, anstatt sich auf Brüssel zu verlassen
Ein Einreiseverbot von 30 Tagen, ein Fonds für klamme Unternehmen, jeden Tag eine Krisensitzung: Ursula von der Leyen ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Politik in schwierigen Situationen vor allem eines zeigen muss – dass sie handelt. EUEuropa allerdings, dem sie inzwischen als Kommissionspräsidentin vorsteht, hat das Coronavirus noch unvorbereiteter erwischt als die meisten seiner Mitgliedstaaten. Wie in der Finanz- und der Flüchtlingskrise ist sich auch im Moment jeder selbst der Nächste.
Das gemeinsame Europa ist für die Krisen einer globalisierten Welt nicht gerüstet. Das hat, zum einen, mit fehlenden Kompetenzen wie jetzt in der Gesundheitspolitik zu tun. Das liegt, zum anderen, aber auch an der Dimension der Probleme. Ist es nicht verständlich, wenn ein Staat fundamentale Eingriffe in die Freiheitsrechte seiner Bürger wie das Schließen von Grenzen oder das Verhängen von Ausgangssperren selbst treffen will, anstatt sie einer anonymen EU-Bürokratie zu überlassen? Muss er das nicht sogar? Verantwortung ist gerade in Krisen schlecht delegierbar.
Und überhaupt: Hätten die Kommission und der Europäische Rat mit ihren verschlungenen Entscheidungswegen das Ausbreiten des Erregers binnen weniger Tage bremsen müssen – es wäre vermutlich noch mehr Zeit verplempert worden als ohnehin schon. Zu träge ist ihr Apparat, zu unterentwickelt der Gemeinschaftsgeist in den Mitgliedstaaten. Viel mehr, als sich wechselseitig auf dem Laufenden zu halten, ist den Ministerrunden der vergangenen Tage jedenfalls nicht eingefallen. Den Rest haben Länder wie Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien selbst erledigt. Grenzen auf oder zu? Züge stoppen oder nicht? Das Prinzip der Subsidiarität, nach dem die EU sich nur um die Dinge kümmern soll, die sie besser regeln kann als ihre Mitgliedsländer,
erlebt gerade eine unerwartete Renaissance.
Trotzdem (oder gerade deswegen) erodiert die europäische Idee wie ein unbestellter Acker im Märzwind. In der Finanzkrise haben die alten Mechanismen noch halbwegs funktioniert, weil die deutsche Kanzlerin den Takt vorgab und vor allem deutsches Geld im Feuer stand. In der Migrationskrise haben die Konflikte zwischen dem liberalen Kerneuropa und dem skeptischen Ost- und Südosteuropa die EU faktisch gespalten – und jetzt, in der dritten großen Krise innerhalb weniger Jahre, nehmen die Mitgliedsländer die Dinge von Anfang an selbst in die Hand. Mal mehr, mal weniger beherzt – aber stets im Bewusstsein, dass aus Brüssel nicht viel zu erwarten ist. Die Schutzmasken und Beatmungsgeräte etwa, die Italien so dringend benötigte, kamen nicht von der EU-Kommission oder aus den europäischen Partnerländern, sondern aus China. Selten wurde die „Solidarität der Tat“, die der französische Außenminister Robert Schuman in der Geburtsstunde der Union 1950 beschwor, drastischer ad absurdum geführt.
Europa, das räumt Ursula von der Leyen selbst ein, fehlt es an Durchsetzungsfähigkeit und an strategischem Denken. Vielleicht aber stößt das Europa, wie wir es kennen, nach mehr als sechs Jahrzehnten und immer neuen Erweiterungsrunden einfach nur an seine Grenzen, weil es nie geklärt hat, was es denn sein will: Eine politische Zweckgemeinschaft zum Verteilen von möglichst vielen Fördermilliarden? Oder ein ernst zu nehmender Akteur auf der Weltbühne?
Im Moment sind die Fliehkräfte jedenfalls stärker als die Bindekräfte. Die Briten sind raus, in Deutschland regiert eine Kanzlerin auf Abruf und in Frankreich ein Präsident, der vor allem das Wohl Frankreichs im Auge hat. Die große Idee von einem einigen, starken Europa – sie ist nur noch eine Schimäre.
Die Fliehkräfte sind stärker als die Bindekräfte