Donau Zeitung

Leere Regale und volle Kneipen

Vor dem Dinner noch gemeinsam ins Fitnessstu­dio? Unsere Korrespond­entin in London staunt über die Unbekümmer­theit vieler Briten

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Ich lebe in Brixton, einem hippen Viertel im Londoner Süden. Insbesonde­re vor der U-Bahnstatio­n fühlt man sich wie auf dem Jahrmarkt. Es wuselt und brummt und lärmt und riecht tagsüber nach den Abgasen der Doppeldeck­erbusse und den Blüten vom nahen Blumenstan­d; nachts wabert der Geruch frischer Hotdogs durch die Luft, die vor der Station gebraten werden. Man fühlt sich am Puls der Zeit in dieser Stadt, die sich immer bewegt, immer überrascht, immer fasziniert.

Im Moment wuselt, brummt und lärmt es noch immer, wenn auch wegen der Coronaviru­s-Krise deutlich weniger als sonst. Und man stellt sich die Frage: Kann London überhaupt zum Stillstand kommen?

In einem Chat mit Freunden wurde jetzt diskutiert, wo man sich am Abend treffe. Geplant war ein Dinner in Soho. Hier im Ausgehvier­tel

West End tummeln sich sonst Massen von Touristen, nun sind deutlich weniger Menschen unterwegs. Die Theater haben geschlosse­n – aus freien Stücken. Drastische Maßnahmen der Regierung? No.

Endlich stünden die Chancen gut, einen Tisch bei diesem neuen Taiwanesen zu bekommen, freut sich im Chat derweil Freund M. Freund R. fragt: „Wollen wir davor noch gemeinsam ins Fitnessstu­dio?“Ich frage: „Seid ihr des Wahnsinns?“Das

Motto „Keep calm and carry on“haben die Briten während des Krieges erfunden und in den Jahrzehnte­n danach perfektion­iert. Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen! Zwar sind auch in London die Regale der Supermärkt­e leer geräumt, nur tauscht man seine Sorgen allzu häufig noch beim Bier im Pub. Es herrscht in manchen Kreisen ein Gefühl der Unverwundb­arkeit, das mich fassungslo­s zurückläss­t. Die U-Bahn, die berühmte Tube, ist trotzdem deutlich leerer als sonst. Ich nutze keine öffentlich­en Verkehrsmi­ttel mehr und falls ich etwas erledigen muss, gehe ich meistens zu Fuß. Eigentlich sollte diese Woche die nächste Runde der Verhandlun­gen zwischen dem Königreich und der EU über die künftigen Beziehunge­n nach dem Brexit beginnen. Verschoben. Man mag es kaum ausspreche­n, aber ein bisschen vermisse ich den Brexit.

Eine befreundet­e Ärztin arbeitet für den staatliche­n Gesundheit­sdienst NHS, eine heilige Kuh auf der Insel. Doch ihre Schilderun­gen über fehlende Ausrüstung oder den Mangel an Personal sind gruselig. Selbst Ärzte und Pfleger werden kaum getestet, wenn sie für das Coronaviru­s typische Symptome zeigen. Es ist ein unterfinan­ziertes Gesundheit­swesen, das auch ohne Coronaviru­s schon keuchte. „Uns droht eine absolute Katastroph­e“, sagt Anna. Ich lege auf – und mir ist ein bisschen übel. Katrin Pribyl

An dieser Stelle berichten Kolleginne­n und Kollegen aus der Redaktion täglich von ihrem Arbeitsall­tag in Zeiten von Corona.

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Foto: Pribyl Die Brixton-Station in London. Selbst im quirligen London ist der Alltag inzwischen verlangsam­t.

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