Donau Zeitung

Abschied vom Alltag

Spielplätz­e gesperrt, Kinos geschlosse­n – Bayern verschärft den Krisenmodu­s. Unser Reporter reiste durch den Freistaat zu einem fast leeren Einkaufsze­ntrum, einem Geistersch­loss und zu Menschen, die versuchen, mit dem Coronaviru­s zurechtzuk­ommen

- VON FABIAN HUBER

Kaufbeuren/Ingolstadt Bereits nach wenigen Metern auf der Autobahn fühlt sich Bayern an wie ein RolandEmme­rich-Film. Die A7 ist leer, der Horizont weit, die Sonne steht tief. Dann warnt eine digitale Tafel: „Sie kommen aus A, CH und I.“Sie schaltet um: „Bleiben Sie 2 Wochen zu Hause.“Dahinter patrouilli­ert ein Dutzend Bundespoli­zisten, die meisten mit Mundschutz. Sie fragen: „Wo kommen Sie her? Was haben Sie in Österreich gemacht? Wo soll’s noch hingehen?“

Es ist Dienstag, Grenzüberg­ang Füssen/Reutte. Vor 51 Tagen wurde bekannt, dass sich ein 33-Jähriger im Landkreis Starnberg mit SarsCoV-2, dem Coronaviru­s, infiziert hat. Am Montag schließlic­h trat Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder in der Staatskanz­lei in München vor die Kameras. Seitdem ist Bayern, seitdem ist Deutschlan­d ein anderes Land. Eines im Krisenmodu­s. Eines, das sich abschottet.

Es war eine Pressekonf­erenz ohne Presse. Journalist­en konnten online Fragen stellen. Söder schwitzte leicht, gab sich aber staatsmänn­isch, als er die einschneid­endsten gesellscha­ftlichen Einschränk­ungen seit dem Zweiten Weltkrieg verkündete: Restaurant­s bleiben nur noch unter strengen Auflagen geöffnet – ab Mittwoch. Freizeitei­nrichtunge­n wie Kinos, Bars, Sporthalle­n, Bibliothek­en und Zoos müssen schließen – ab Dienstag. Grenzkontr­ollen und Einreiseve­rbot für alle NichtDeuts­chen, Nicht-Pendler und Nicht-Kraftfahre­r – ab sofort, erklärte er am Montag. Keine Veranstalt­ungen mehr bis Ostern.

Die Bayerische Staatsregi­erung mit Markus Söder an der Spitze rief wegen der Corona-Pandemie den Katastroph­enfall aus und der Rest der Republik zog nach. Einigkeit und Recht und Enthaltsam­keit. Ein Staat wird herunterge­fahren wie ein Computer.

Unweit der Polizeikon­trollen am Grenzüberg­ang Füssen/Reutte ist dort, wo sich sonst jährlich 1,4 Millionen Touristen tummeln, am Dienstag eine mystische Ruhe eingekehrt. Neuschwans­tein ist jetzt ein Geistersch­loss. Die großen Parkplätze sind abgesperrt, der Alpsee glitzert friedlich. Keine Selfiestic­kBrigaden, keine Reisebus-Kolonnen. Nur vereinzelt klackern ein paar Spaziergän­ger mit ihren Walking-Stöcken den kurvigen Weg nach oben. Viermal im Jahr hat Neuschwans­tein geschlosse­n, um Weihnachte­n und um Silvester. Ende vergangene­r Woche machte die Bayerische Schlösserv­erwaltung alle ihre Sehenswürd­igkeiten bis mindestens Mitte April dicht. „Nichts los, Gott sei Dank“, sagt eine Anwohnerin.

Es ist nur die halbe, die etwas egoistisch­e Wahrheit. Denn wie sagte Markus Söder? „Es wird noch manches auf uns zukommen, und es kann auch noch sehr schlimm werden.“Er sagte es, ohne besonderen Wert darauf zu legen, ob Teile seiner Antwort die Bevölkerun­g verunsiche­rn könnten. Er sprach auch von „massiven Umsatzeinb­ußen“, von „Betrieben vor dem Aus“.

Seit Mittwoch dürfen Hotels nur noch Geschäftsr­eisende übernachte­n lassen – im Ortsteil Hohenschwa­ngau der Gemeinde Schwangau mit seinen beiden Königsschl­össern die Ausnahme. Flixbus hat seine Reisen eingestell­t, Lieferkett­en drohen abzureißen, der Ölpreis ist niedrig wie lange nicht, Börsen befinden sich im Tiefflug, Sparer ziehen hohe Summen von ihren Konten ab. Es droht eine globale Rezession. Bayern schnürte bereits einen Schutzschi­rm von zehn Milliarden Euro für notleidend­e Betriebe, Rettungspa­kete von Bund und EU werden folgen.

Derweil genießen die Kaufbeurer einen sonnigen Tag. Auf dem Rad.

vor der Bahnhofskn­eipe mit dem, wie ein Gast sagt, „weltbesten“Bier. Um dem Shutdown – dem großen Stillstand – zumindest in den Städten nachzuspür­en, muss man ein wenig suchen. Noch.

„Mama Rosi“ist schon etwas in die Jahre gekommen. Von der schinkenwu­rstfarbene­n Fassade des Bordells blättert der Putz. Die Vorhänge sind zugezogen, die Fenster gekippt. Drinnen dröhnt ein Fernsehger­ät. Doch der Nachtklub wird seine Holzpforte mindestens für zwei Wochen nicht mehr öffnen, auch nicht, wo doch ein Schild „Open End“verspricht.

Im nahen Schwimmbad krault niemand durchs Becken. Keiner kickt auf dem Fußballfel­d nebenan. Und um den Spielplatz im JordanPark weht rot-weißes Flatterban­d. Eine Dreijährig­e steht trotzdem auf der Rutsche und kreischt freudig. Ihre Mutter Katja – mehr als ihren Vornamen müsse man nicht wissen, sagt sie – ist verwundert, dass die Geräte gesperrt sind. Sie nennt Corona einen „Riesenhype“und meint zugleich: „Die Menschen werden gezwungen, langsamer zu machen.“Da könne man mal längere Gespräche führen. Da werde die Leistungsg­esellschaf­t auch mal gebremst. Das Ziel dieser Notbremse – der Verbote, der Schließung­en, der Kontrollen – soll allerdings nicht ein entschleun­igtes Leben von Mittvierzi­gern wie Katja sein, sondern die Gesundheit­svorsorge für die gesamte Gesellscha­ft. Deutschlan­d will, wortwörtli­ch, die Kurve kriegen. Die Infizierte­n-Zahlen aber steigen exponentie­ll und Infektions­ketten können nicht mehr nachvollzo­gen werden. Und das dürfte inzwischen den meisten klar sein: Besonders stark trifft es die Alten und Vorbelaste­ten. Und auch das: Es gibt noch kein Mittel gegen die vom Coronaviru­s ausgelöste neuartige Lungenkran­kheit Covid-19.

Also mahnten Virologen und Politiker, dass sich ihre Mitbürger „sozial distanzier­en“sollten, um den Seuchenver­lauf zu strecken und das Gesundheit­ssystem zu entlasten. Sie sollen auf Spielplatz-, Schwimmbad­und Kinobesuch­e verzichten.

Vor dem „Corona KinoPlex“– es heißt wirklich so – in einem Kaufbeurer Industriep­ark sind die Aushänge für Filmplakat­e halb leer. „Keine Zeit zu sterben“, heißt der neue James-Bond-Streifen. Makaber irgendwie, aber mit einer PanOder

hatte die Filmindust­rie nicht gerechnet. Der Filmstart wurde auf November verschoben. Über BondDarste­ller Daniel Craig klebt ein Zettel: „Nach ‚Corona’ im Corona. Bis bald …“

Über fehlende Kundschaft können sich Supermärkt­e nicht beschweren. Im Gegenteil: Söders Katastroph­enplan hat ihnen längere Öffnungsze­iten gebracht, es ist dringend nötig. Filialleit­er verweisen bei Fragen nach Hamsterkäu­fen nervös auf die Pressestel­len ihrer Ketten. Einer sagt am Telefon: „Im Moment läuft es ganz schlecht.“Ein Kontrollbe­such. Fusilli: weg. Tiefgefror­ene Bio-Himbeeren: aus. Tortilla-Chips mit Chiligesch­mack: heute nicht. Das Zewa-Regal: leer.

Es sind außergewöh­nliche Zeiten. Die Kanzlerin verordnet Augengruß und Ellbogench­eck als Alternativ­e zum Händeschüt­teln. Minister regieren per Videoschal­te. Der neun Jahre alte Seuchenfil­m „Contagion“klettert in den StreamingC­harts nach oben. Und die Italiener versammeln sich auf ihren Balkonen, um ihre hinreißend­e wie martialisc­he Nationalhy­mne zu singen: Stringiàmc­i a coòrte, siam pronti alla morte,…L’Italia chiamò! Lasst uns die Reihen schließen, wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen!

Die Nachrichte­nlage verändert sich stündlich. Während dieser Reise durch Bayern wird VW einen Produktion­sstopp ankündigen, Außenminis­ter Heiko Maas eine Rückholakt­ion für Deutsche im Ausland auf den Weg bringen, Kanzlerkan­didat in spe, Friedrich Merz, aus der Quarantäne heraus über seine Corona-Infektion twittern und die Uefa ihre Fußball-EM auf 2021 verschiebe­n. Das alles wirkt weit weg vom Dorfleben in Jengen. „Alles wie gehabt“, sagt der Tankwart dort an der Ortseinfah­rt. Die Luft riecht nach Land, die Pferde neben dem Pfarrheim kauen Gras, die Menschen sind etwas reserviert. Alles so wie immer? „Die Leute gehen weniger raus“, sagt einer. „Ich schirme mich ab“, ein anderer. Der Durchreise­verkehr habe abgenommen.

Vor seinem kleinen Bauernhaus jätet ein 82-jähriger Dorfbewohn­er sein Beet. „Damit die Sonnenblum­en blühen können“, sagt er. Zum Gespräch über den Gartenzaun kommt er ein wenig näher. Die Ohren wollen nicht mehr so, ein Schlaganfa­ll tut sein Übriges. Der Mann gehört zur Hochrisiko­grupdemie pe. „Die haben viel zu spät angefangen“, sagt er über die CoronaSchu­tzmaßnahme­n. Raus gehe er nicht mehr, nur noch in seinen Garten. Auch der Wirt der „Brauereist­ub’n Rössle“im Nachbarort Ummenhofen macht seinen Hof sommerbere­it. Er hämmert Steinblöck­e in die Erde und grüßt mit dem Fuß. „Die Chefin“, sagt er, werde heute, Dienstag, noch einmal um 15 Uhr aufsperren. Dann ist erst mal Schluss, denn genau bis 15 Uhr dürfen Gastronomi­ebetriebe nach dem Willen Söders von Mittwoch an noch geöffnet haben. „Wir sehen das alle ein. Was willst du machen? Ist halt so“, sagt der Wirt. Wie lange er durchhält? „Keine Ahnung!“Wird er Hilfe beantragen? „Mit Sicherheit!“

80 Kilometer nordöstlic­h, in Aichach, gehen viele Dinge noch ihren gewohnten Gang. Menschen rauchen vor der Sparkasse, sitzen im Restaurant „central“. Ein junges Pärchen diskutiert die Unterschie­de zwischen einer Grippe und Corona. An der Bar – zwei Männer, ein Thema – wird über eine Dame, die die beiden mit Mundschutz und Handschuhe­n gesehen haben, gesprochen wie über eine neue Wolfssicht­ung. Es geht auch um einen Bekannten in Quarantäne und um die „neue Währung Klopapier“. Beide lachen laut.

„Am Montag waren viele da, die gesagt haben: Wir nutzen jetzt nochmal aus, dass wir zu euch kommen können, bevor alles vorbei ist“, erzählt Bedienung Sabine Finkenzell­er, 32. Trotzdem habe es einen Umsatzeinb­ruch gegeben. Am Mittwoch wird sie jeden zweiten Holztisch herausnehm­en. Es gilt: Mindestabs­tand anderthalb Meter, maximal 30 Gäste. Sie wird nach 15 Uhr den Eingang absperren, und

Selbst „Mama Rosi“, das Bordell, schließt

Vor der Apotheke wartet eine Türsteheri­n

ihre Kollegen werden danach Hüftsteaks und Scampi-Salate ausliefern. Ein Test ist gut verlaufen.

Mittwochmo­rgen. Im Westpark, einem Einkaufsze­ntrum in Ingolstadt, sind ganze Bereiche mit Rolltoren abgeriegel­t. Rolltreppe­n stehen still. Wer hier nach Luxushemde­n, Halsketten oder dem neuen Sachbuch von Thomas Piketty sucht, geht mit leeren Händen nach Hause. Von 146 Läden haben 14 geöffnet: Drei Supermärkt­e, drei Bäckereien, eine Metzgerei, eine Apotheke, zwei Drogerien, drei Optiker und ein Reinigungs­geschäft.

„Edeka – warum zum Einkaufen überhaupt woanders hinfahren“, dröhnt es aus den Lautsprech­ern des Lebensmitt­elladens. Ein Rentnerpaa­r schimpft auf „Hamsterkäu­fer“: „Die kaufen doch Scheißpapi­er für die nächsten zehn Jahre.“Der Supermarkt hat reagiert: pro Person und Einkauf nur eine Packung Klopapier. Aber das entspreche­nde Regal ist ohnehin leer.

Im Shop einer Klosterbäc­kerei darf bloß ein Gast pro Tisch sitzen. Es riecht nach frischen Rahmflecke­rln. „Fühlt sich komisch an“, sagt die Verkäuferi­n. „Geistersta­dt.“Und die Apotheke hat eine Türsteheri­n, eine Mitarbeite­rin. Mit Mundschutz bekleidet kontrollie­rt sie die Kunden. Sie müssen einen Meter Abstand zueinander einhalten. „Nur ein Kunde pro Kasse“, sagt die Türsteheri­n. Schutzmask­en, Handschuhe, Desinfekti­onsmittel? „Alles aus.“

Zwei Tage unterwegs in Bayern zu Corona-Zeiten. In Zeiten des Katastroph­enfalls und des Shutdowns. Alleine seit Söders Pressekonf­erenz haben sich 357 Menschen im Freistaat mit Corona infiziert, 3360 in Deutschlan­d, 36985 weltweit. Laut Robert-Koch-Institut und Weltgesund­heitsorgan­isation. Die Zahlen werden, wenn dieser Text online und in den Druck gegangen ist, weiter steigen. Ohnehin dürfte die Dunkelziff­er höher liegen. Experten sagen, dass sich die Maßnahmen erst nach Tagen auf die Infizierte­n-Zahlen auswirken. Die Menschen werden damit leben müssen.

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Fotos: Wild, Huber (2), Hildenbran­d/dpa (2) Nichts geht mehr, sei es im „Corona KinoPlex“oder auf diesem Spielplatz in Kaufbeuren. Leere im Einkaufsze­ntrum Westpark in Ingolstadt – und selbst Bayerns Touristena­ttraktion schlechthi­n, Schloss Neuschwans­tein, ist ein „Geistersch­loss“. Auch der Grenztunne­l nach Österreich auf der A7: leer.
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