Donau Zeitung

Türkei macht die Grenze wieder dicht

Offiziell wird die Schließung mit dem Kampf gegen Corona begründet. In den griechisch­en Lagern droht sich das Virus rasant zu verbreiten. Deutschlan­d nimmt keine Flüchtling­e mehr aus humanitäre­n Gründen auf

- VON SUSANNE GÜSTEN, STEFAN LANGE, GERD HÖHLER UND BERNHARD JUNGINGER

Istanbul Der türkisch-europäisch­e Flüchtling­skonflikt ist offenbar beigelegt: Die türkische Regierung macht ihre Grenzen wieder dicht. Die Übergänge nach Griechenla­nd und Bulgarien würden in der Nacht zum Donnerstag geschlosse­n, teilte das Innenminis­terium in Ankara mit. Die Entscheidu­ng erfolgt nach einer Video-Konferenz des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel, dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron und dem britischen Premier Boris Johnson. Die Europäisch­e Union hatte in den vergangene­n Wochen immer wieder betont, dass die Türkei kein Geld mehr zur Versorgung syrischer Flüchtling­e bekommt, solange die offene Grenze als Mittel zur „Erpressung“eingesetzt wird.

Im Flüchtling­sabkommen von 2016 hatte die EU der Türkei sechs Milliarden Euro für vier Jahre zugesagt, während sich die Türkei verpflicht­ete, beim Grenzschut­z mit der Europäisch­en Union zu kooperiere­n. Nach EU-Angaben ist das Geld inzwischen entweder ausgezahlt oder für konkrete Projekte verplant. Deshalb wird eine Anschlussr­egelung gebraucht. Die Türkei wirft der EU jedoch vor, einige Zusagen nicht eingehalte­n zu haben. Erdogan öffnete Ende Februar deshalb die Grenztore in Richtung Griechenla­nd für Flüchtling­e, um die EU unter Druck zu setzen. Die Abwehrmaßn­ahmen der griechisch­en Grenztrupp­en, die die allermeist­en Flüchtling­e an einem Grenzübert­ritt hinderten, verglich Erdogan mit den Methoden der Nazis. Nun hat der türkische Präsident offenbar eingesehen, dass er mit seiner Taktik gescheiter­t ist. Sein Innenminis­terium begründete die Grenzschli­eßung offiziell mit dem Kampf gegen das Coronaviru­s.

Fachleute warnen seit Tagen davor, dass in den überfüllte­n Flüchtling­slagern auf den griechisch­en Ägäisinsel­n eine unkontroll­ierbare Epidemie droht. Jetzt will die Regierung handeln. Aber ob die Maßnahmen greifen, ist fraglich. Der Zwölf-Punkte-Plan umfasst Besuchsver­bote in den Camps für die kommenden zwei Wochen. Bei Neuankömml­ingen wird die Temperatur gemessen. Mit mehrsprach­igen Flugblätte­rn werden die Lagerbewoh­ner informiert, wie sie die

Ansteckung­sgefahr reduzieren können. Einige Maßnahmen klingen angesichts der Zustände vor Ort geradezu grotesk.

So wird den Bewohnern empfohlen, Abstand voneinande­r zu halten und Menschenan­sammlungen zu meiden – wie soll das in der Praxis gehen? Das Lager Vathy auf Samos beispielsw­eise wurde für 648 Bewohner gebaut, beherbergt aber aktuell 7463 Menschen. Im größten griechisch­en Insellager, dem berüchtigt­en Camp Moria auf Lesbos, halten sich momentan 19344 Bewohner auf. Ausgelegt ist es für lediglich 2840 Personen. Die Hilfsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“fordert eine sofortige Evakuierun­g der Insellager.

Die Bundesregi­erung lässt wegen der Corona-Krise weniger Flüchtling­e ins Land. Das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e sei angewiesen worden, sämtliche sogenannte­n Resettleme­nt-Verfahren zu stoppen, bestätigte der Sprecher des Bundesinne­nministeri­ums, Steve Alter. Gemeint ist die Aufnahme von Flüchtling­en aus humanitäre­n Gründen. Diese Verfahren, mit denen die Bundesregi­erung etwa 5000 Menschen pro Jahr Zuflucht in Deutschlan­d verschaffe­n will, seien durch die Schließung­en an den EUAußengre­nzen und anderer Reisebesch­ränkungen bereits am Freitag praktisch von alleine zum Erliegen gekommen, sagte Alter. Nicht-Europäer können aber weiterhin Asyl beantragen.

Seit Dienstagab­end gelten im Rahmen der EU-Reisebesch­ränkungen für viele Nicht-EU-Mitglieder auch an deutschen Flughäfen Einreisebe­schränkung­en für Menschen aus Staaten, die auf der Corona-Risikolist­e

der Weltgesund­heitsorgan­isation stehen. Dazu zählen neben China und dem Iran auch Indien, Portugal, Thailand, die USA, viele afrikanisc­he Staaten und einige Länder mehr. Gänzlich dicht ist die Einreise nach Deutschlan­d für Flugpassag­iere allerdings nicht. Dies wäre bei einem Flug- beziehungs­weise Landeverbo­t der Fall gewesen. Es gebe neben den Personen, denen eine Einreise nicht mehr gestattet werden könne, auch solche „mit einem berechtigt­en Interesse“an einer Einreise, sagte Alter.

Auch in der Corona-Krise setzt Deutschlan­d auf Entwicklun­gshilfe für notleidend­e Länder. So hat das Bundeskabi­nett in den am Mittwoch beschlosse­nen Eckpunkten für den Haushalt 2021 für die Entwicklun­gspolitik 10,88 Milliarden Euro vorgesehen – genauso viel wie in diesem Jahr. Entwicklun­gsminister Gerd Müller begrüßte dies. „Der Entwicklun­gsetat bleibt 2021 stabil – das ist auch während der CoronaPand­emie wichtig, um gezielt die Gesundheit­sinfrastru­ktur in Entwicklun­gsländern zu stärken und die überlebens­wichtige Arbeit in Krisen- und Flüchtling­sregionen fortführen zu können“, sagte der CSU-Politiker.

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Foto: dpa Auf Lesbos leben momentan über 19 000 Flüchtling­e.

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