Donau Zeitung

Ein Lehrer, der nicht lehren will

Sebastian Schmidt hält die Ausbildung an Bayerns Schulen für massiv veraltet. Wie der Lehrer des Jahres 2019 seinen Unterricht grundlegen­d modernisie­rt und welche Vorteile das in Zeiten des Coronaviru­s hat

- VON CHRISTOPH LOTTER

Augsburg Sämtliche Schulen in Bayern haben seit Montag geschlosse­n, der Unterricht ist vorübergeh­end wegen des Coronaviru­s eingestell­t. Nervös wird Sebastian Schmidt trotzdem nicht. Der offizielle Lehrer des Jahres 2019 zeigte sich angesichts der Schließung der Schulen unbeeindru­ckt: „Ich kann meine Schüler theoretisc­h problemlos weiter unterricht­en.“Denn im Notfall sei es für ihn möglich, kurzfristi­g einen geregelten OnlineSchu­lalltag anzubieten, sagt der 37-Jährige: „Keine Frage, es ist nicht das Gleiche. Aber über meine Plattforme­n besteht zumindest die Möglichkei­t, überhaupt zu unterricht­en.“Sein Unterricht könnte derweil Modell sein für Schulen in einer digitalen Welt. Für die Zeit während des Coronaviru­s – und darüber hinaus.

Mathematik, katholisch­e Religionsl­ehre und Informatio­nstechnolo­gie unterricht­et Schmidt an der Inge-Aicher-Scholl-Realschule in Pfuhl, einem Stadtteil von NeuUlm. Für seine innovative Arbeit wurde er im November 2019 zum Lehrer des Jahres gekürt. 36 seiner Kollegen aus dem ganzen Freistaat sind aktuell Teil seines Projekts, das er „Lernbüro kooperativ – digital“nennt. Im Kern geht es um Vernetzung sowie darum, Schule und Digitalisi­erung miteinande­r zu vereinbare­n. Schmidt hält zudem Vorträge und spricht auf Fortbildun­gen des Kultusmini­steriums. Sein Ziel: zeitgemäße Bildung für Schüler.

Denn: „Das Schulsyste­m in Bayern ist teils massiv veraltet“, kritisiert der Lehrer des Jahres. Er spricht dabei nicht von Tablets und Laptops. Die technische Ausstattun­g an den Schulen sei nicht das Entscheide­nde: „Der beschlosse­ne Digitalisi­erungspakt ist selbstvers­tändlich, ist Grundvorau­ssetzung“, sagt Schmidt. Die Frage, ob Schule digitaler werden soll, sei längst geklärt: „Es geht um das Wie, was wir Lehrer daraus machen.“Seine Kollegen müssten selbst in die digitale Welt eintauchen und sich die Frage nach dem Nutzen der neuen Medien stellen: „Alles, was ich über modernen Unterricht weiß, habe ich auf Twitter gelernt. Und diesen Lernprozes­s müssen wir gemeinsam mit den Schülern machen. Denn die Digitalisi­erung ist ein Mehrwert, den wir endlich als solchen begreifen müssen.“

Dass das nicht von heute auf morgen funktionie­re, sei ihm klar: „Wir Lehrer sind ein Problemfal­l. Wir sind superausge­lastet und können nicht einfach alles über den Haufen schmeißen.“Aber zumindest Offenheit für Neues und etwas auszuprobi­eren, ist Schmidt zufolge jedem Lehrer zumutbar. Viele seiner Kollegen unterricht­en aber nach wie vor ausschließ­lich analog. Das könne er zwar nachvollzi­ehen: „Das Digitale aus dem Unterricht ausgrenzen, ist aber realitätsf­remd.“

Die digitale Entwicklun­g bezeichnet er als Fluch und Segen zugleich. „Es ist effizient. Aber digitale Medien sind Verstärker – positiv wie negativ.“Die Schüler hätten etwa so viele Möglichkei­ten wie noch nie, bei Prüfungen zu betrügen: „Google übersetzt englische Texte, die Smartwatch dient als Spicker. Wenn ich das als Lehrer nicht weiß, bin ich aufgeschmi­ssen.“

Das Hauptaugen­merk legt Schmidt aber auf die positiven Aspekte. Smartphone­s nennt er Werkzeuge, die die Schüler jederzeit zur Verfügung haben. Die Chancen, dies räumlich und zeitlich zu nutzen, seien enorm: „Aber viel wichtiger ist, die Schüler sind überzeugt vom Smartphone, sind motivierte­r, wenn sie es benutzen dürfen.“

Mit seinen Schülern arbeitet er auf verschiede­nen Online-Plattforme­n. So will er den Nachwuchs für das Internet sensibilis­ieren, den Jugendlich­en beibringen, Dinge kritisch zu hinterfrag­en: „Etwa Politik und Sozialkund­e – das hat früher das Schulbuch erledigt. Heute bringen die Schüler viel mehr Vorwissen mit

– auch aus ihren eigenen Filterblas­en, Stichwort Fake News.“Gegen die komme ein Lehrer alleine nicht an, gibt Schmidt zu bedenken: „Aufklärung ist sehr wichtig. Die muss deshalb langfristi­g in den Unterricht implementi­ert werden.“

Ein konkretes Beispiel für das Unterricht­en von Medienkomp­etenz hat er parat. Als Mathematik­hausaufgab­e mussten seine Schüler ein Erklärvide­o zu einem Thema auf Youtube suchen. Das erste Video, das der Anbieter in seiner Suchliste anzeigt, vermittelt allerdings falsches Wissen – das hatte Schmidt zuvor überprüft und deshalb bewusst dieses Thema ausgesucht. Das Ergebnis: Etwa ein Drittel seiner Schüler fiel auf das falsche Video herein. Dabei sei in den Kommentare­n eindeutig gestanden, dass der Inhalt in dem Video falsch ist. Den meisten Schülern aber war das aufgefalle­n, sie hätten sich das nächste Video angesehen, in dem das Verfahren richtig erklärt wurde, berichtet Schmidt: „Die Schüler lernen so nicht nur den Inhalt, sondern, nicht blind zu glauben, was sie auf ihrem Smartphone sehen.“

Ausschließ­lich digital zu unterricht­en, funktionie­re allerdings keinesfall­s, betont Schmidt: „Ein Klick im Internet reicht für Wissensver­mittlung nicht aus. Man braucht Buch und Smartphone.“Er versucht deshalb, das Beste aus beiden Welten zu vereinen: „Erklärvide­os auf Youtube helfen beim Verstehen, aber ersetzen niemals den Unterricht – die Schüler müssen sich mit einem Thema vielschich­tig auseinande­rsetzen.“Digitaler Unterricht, etwa mit einem Tablet, sei nur dann sinnvoll, wenn den Schülern gleichzeit­ig auch die digitale Kompetenz vermittelt wird. „Und dafür reicht das Lehren nicht aus, die Schüler müssen auch lernen, müssen selbst aktiv werden. Das wäre sonst wie Stabhochsp­rung ohne Stab.“

Dafür müsse jedoch ein Umdenken bei der grundsätzl­ichen Struktur des Unterricht­s stattfinde­n, fordert Schmidt. Wenn er frontal unterricht­e, habe er die Aufmerksam­keit der Klasse für maximal zwei Minuten – dann drifteten die meisten Schüler mit ihren Gedanken ab. Er setzt deshalb auf individuel­leren Unterricht. Schüler, von denen er weiß, dass sie selbststän­dig arbeiten, lasse er Raum, das zu tun. So könne er sich intensiver um andere kümmern, die seine aktive Unterstütz­ung wirklich brauchen. „Ohne Lehrer geht nichts, höre ich oft. Aber das ist schlicht falsch. Die Lehrer müssen endlich begreifen, dass der Lehrer nie der Mittelpunk­t war. Es ging immer um die Schüler.“Seine Arbeit versucht Schmidt deshalb nicht auf sich auszuricht­en, sondern seine Schüler ins Zentrum zu rücken: „Das Geheimnis meines Unterricht­s liegt wohl darin, dass nicht das Belehren im Mittelpunk­t steht, sondern das Lernen der Schüler.“

Nachhaltig­e Änderungen fordert Schmidt auch bei den Prüfungen: „Aktuell wird ausschließ­lich reproduzie­rtes Wissen geprüft.“Solange sich die Abschlussp­rüfungen darauf beschränke­n, könne und werde sich am Unterricht nichts Grundlegen­des ändern, vermutet der Lehrer des Jahres. Hier sieht er den Freistaat in der Pflicht: „Groß angelegte Projekte von den Schülern ausarbeite­n zu lassen, wäre sinnvoller.“Etwa die Planung eines überdachte­n Fahrradste­llplatzes für den Schulhof. Hier seien die Schüler in vielen verschiede­nen Kompetenze­n gefordert und würden unfassbar viel lernen.

„Ich will den bestehende­n Lehrplan nicht schlechtre­den, aber das Verstehen sollte wichtiger sein als das Auswendigl­ernen“, sagt Schmidt und fügt hinzu: „Wir brauchen Kulturopti­misten, keine Pessimiste­n. Ich sage auch ganz bewusst: Vieles ist scheiße. Aber wir sollten täglich versuchen, es ein bisschen besser zu machen.“

Welche Defizite Sebastian Schmidt noch beim digitalen Unterricht­en sieht und wie Schüler in der Corona-Krise auch zuhause pädagogisc­h sinnvoll beschäftig­t werden können, lesen Sie auf

Medienkomp­etenz spielt eine entscheide­nde Rolle

 ?? Symbolfoto: Julian Stratensch­ulte, dpa ?? Tablets an Bayerns Schulen sind seit dem Digitalpak­t keine Seltenheit mehr. Doch moderne Ausrüstung macht noch lange keine sinnvolle digitale Schulstund­e, sagt Sebastian Schmidt. Der Lehrer des Jahres 2019 fordert deshalb ein Umdenken bei der grundsätzl­ichen Struktur des Unterricht­s.
Symbolfoto: Julian Stratensch­ulte, dpa Tablets an Bayerns Schulen sind seit dem Digitalpak­t keine Seltenheit mehr. Doch moderne Ausrüstung macht noch lange keine sinnvolle digitale Schulstund­e, sagt Sebastian Schmidt. Der Lehrer des Jahres 2019 fordert deshalb ein Umdenken bei der grundsätzl­ichen Struktur des Unterricht­s.
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