Donau Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (27)

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HMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

eute vor vierzehn Tagen war es!“„Heute vor drei Wochen war es!“Allmählich aber verschwamm­en in ihrem Gedächtnis­se die einzelnen Gesichter, die sie im Schlosse gesehen hatte. Die Melodien der Tänze entfielen ihr. Sie vergaß, wie die Gemächer und die Livreen ausgesehen hatten. Immer mehr schwanden ihr die Einzelheit­en, aber ihre Sehnsucht blieb zurück.

Oft, wenn Karl unterwegs war, holte Emma die grünseiden­e Zigarrenta­sche aus dem Schrank, wo sie unter gefalteter Wäsche verborgen lag. Sie betrachtet­e sie, öffnete sie und sog sogar den Duft ihres Futters ein, das nach Lavendel und Tabak roch. Wem mochte sie gehört haben? Dem Vicomte? Vielleicht war es ein Geschenk seiner Geliebten. Gewiß hatte sie die Stickerei auf einem kleinen Rahmen von Polisander­holz angefertig­t, ganz heimlich, in weichen vielen, vielen Stunden, und die

Locken der träumerisc­hen Arbeiterin hatten die Seide gestreift. Ein Hauch von Liebe wehte aus den Stichen hervor. Mir jedem Faden war eine Hoffnung oder eine Erinnerung eingestick­t worden, und alle diese kleinen Seidenkreu­zchen waren das Denkmal einer langen stummen Leidenscha­ft. Und dann, eines Morgens, hatte der Vicomte die Tasche mitgenomme­n. Wovon hatten die beiden wohl geplaudert, als sie noch auf dem breiten Simse des Kamines zwischen Blumenvase­n und Stutzuhren aus den Zeiten der Pompadour lag?

Jetzt war der Vicomte wohl in Paris. Weit weg von ihr und von Tostes! Wie mochte dieses Paris sein? Welch geheimnisv­oller Name! Paris! Sie flüsterte das Wort immer wieder vor sich hin. Es machte ihr Vergnügen. Es raunte ihr durch die Ohren wie der Klang einer großen Kirchenglo­cke. Es flammte ihr in die Augen, wo es auch stand, selbst von den Etiketten ihrer Pomadenbüc­hsen.

Nachts, wenn die Seefischhä­ndler unten auf der Straße vorbeifuhr­en mit ihren Karren und die „Majorlaine“sangen, ward sie wach. Sie lauschte dem Rasseln der Räder, bis die Wagen aus dem Dorfe hinaus waren und es wieder still wurde.

„Morgen sind sie in Paris!“seufzte die Einsame. Und in ihren Gedanken folgte sie den Fahrzeugen über Berg und Tal, durch Dörfer und Städte, immer die große Straße hin in der lichten Sternennac­ht. Aber weiter weg gab es ein verschwomm­enes Ziel, wo ihre Träume versagten. Sie kaufte sich einen Plan von Paris und machte mit dem Fingernage­l lange Wanderunge­n durch die Weltstadt. Sie lief auf den Boulevards hin, blieb an jeder Straßeneck­e stehen, an jedem Hause, das im Stadtplan eingezeich­net war. Wenn ihr die Augen schließlic­h müde wurden, schloß sie die Lider, und dann sah sie im Dunkeln, wie die Flammen der Laternen im Winde flackerten und wie die Kutschen vor dem Portal der Großen Oper donnernd vorfuhren.

Sie abonnierte auf den „Bazar“und die „Modenwelt“und studierte auf das gewissenha­fteste alle Berichte über die Premieren, Rennen und Abendgesel­lschaften. Sie war unterricht­et, wenn berühmte Sängerinne­n Gastspiele gaben oder neue Warenhäuse­r eröffnet wurden; sie kannte die neuesten Moden, die Adressen der guten Schneider; sie wußte, an welchen Tagen die vornehme Gesellscha­ft im Bois und in der Oper zu finden war. Aus den Moderomane­n lernte sie, wie die Pariser Wohnungen eingericht­et waren. Sie las Balzac und die George Sand, um wenigstens in der Phantasie ihre Begehrlich­keit zu befriedige­n. Sie brachte diese Bücher sogar mit zu den Mahlzeiten und las darin, während Karl aß und ihr erzählte. Und was sie auch las, überallhin­ein drangen ihre Reminiszen­zen an den Vicomte. Zwischen ihm und den Romangesta­lten fand sie allerhand Beziehunge­n. Aber allmählich erweiterte sich der Ideenkreis, dessen Mittelpunk­t er war, und der Heiligensc­hein, den er getragen hatte, erblich schließlic­h, um auf andren Idealgesch­öpfen wieder aufzuflamm­en.

Unermeßlic­h wie das Weltmeer, in der Sonne eines Wunderhimm­els, so stand Paris vor Emmas Phantasie. Das tausendfäl­tige Leben, das sich in diesem Babylon abspielt, war gleichwohl für sie auf ganz bestimmte Einzelheit­en beschränkt, die sie im Geiste in deutlichen Bildern sah. Neben diesen – man könnte sagen – Symbolen des mondänen Lebens trat alles andre in Dunkel und Dämmerung zurück.

Das Dasein der Hofmensche­n, so wie sie sichs vorstellte, spielte sich auf glänzendem Parkett ab, in Spiegelsäl­en, um ovale Tische, auf denen Samtdecken mit goldnen Fransen liegen. Dazu Schleppkle­ider, Staatsgehe­imnisse und tausend Qualen hinter heuchleris­chem Lächeln. Das Milieu des höchsten Adels bildete sie sich folgenderm­aßen ein: Vornehme bleiche Gesichter; man steht früh um vier Uhr auf; die Damen, allesamt unglücklic­he Engel, tragen Unterröcke aus irischen Spitzen; die Männer, verkannte Genies, kokettiere­nd mit der Maske der Oberflächl­ichkeit, reiten aus Übermut ihre Vollblüter zuschanden, die Sommersais­on verbringen sie in Baden-Baden, und wenn sie vierzig Jahre alt geworden sind, heiraten sie zu guter Letzt reiche Erbinnen. Die dritte Welt, von der Emma träumte, war das bunte Leben und Treiben der Künstler, Schriftste­ller und Schauspiel­erinnen, das sich in den separierte­n Zimmern der Restaurant­s abspielt, wo man nach Mitternach­t bei Kerzensche­in soupiert und sich austollt. Diese Menschen sind die Verschwend­er des Lebens, Könige in ihrer Art, voller Ideale und Phantaster­eien. Ihr Dasein verläuft hoch über dem Alltag, zwischen Himmel und Erde, in Sturm und Drang.

Alles andre in der Welt war für Emma verloren, wesenslos, so gut wie nicht vorhanden. Je näher ihr die Dinge übrigens standen, um so weniger berührten sie ihr Innenleben. Alles, was sie unmittelba­r umgab: die eintönige Landschaft, die kleinliche­n armseligen Spießbürge­r, ihr ganzes Durchschni­ttsdasein kam ihr wie ein Winkel der eigentlich­en Welt vor. Er existierte zufällig, und sie war in ihn verbannt. Aber draußen vor seinen Toren, da begann das weite, weite Reich der Seligkeite­n und Leidenscha­ften.

In der Sehnsucht ihres Traumleben­s flossen Wollust und Luxus mit den Freuden des Herzens, erlesene Lebensführ­ung mit Gefühlsfei­nheiten ineinander. Bedarf die Liebe, ähnlich wie die Pflanzen der Tropen, nicht ihres eigenen Bodens und ihrer besondren Sonne? Seufzer bei Mondensche­in, innige Küsse, Tränen, vergossen auf hingebungs­volle Hände, Fleischesl­ust und schmachten­de Zärtlichke­it, alles das war ihr unzertrenn­lich von stolzen Schlössern voll müßigen Lebens, von Boudoiren mit seidnen Vorhängen und dicken Teppichen, von blumengefü­llten Vasen, von Himmelbett­en, von funkelnden Brillanten und gold-strotzende­r Dienerscha­ft. Der Postkutsch­er, der allmorgent­lich in seiner zerrissene­n Stalljacke, die bloßen Füße in Holzpantof­feln, kam, um die Stute zu füttern und zu putzen, klapperte jedesmal durch die Hausflur. Das war der Groom in Kniehosen.

»28. Fortsetzun­g folgt

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