Donau Zeitung

Orbán hat jetzt völlig freie Hand

Der ungarische Ministerpr­äsident bringt ein umstritten­es Notstandsg­esetz durchs Parlament. Es soll eigentlich die Regierung im Kampf gegen das Coronaviru­s stärken. Opposition­elle aber fürchten, dass sich Ungarn nun auf direktem Weg in die Diktatur befinde

- VON ULRICH KRÖKEL

Budapest/Debrecen Der Himmel über Debrecen ist makellos blau. Die Sonne strahlt. Im Osten Ungarns zeigt sich der beginnende Frühling in diesen späten Märztagen von seiner schönsten Seite. Wären da nicht der Soldat und der Militärpol­izist, die durch das Zentrum der 200000-Einwohner-Stadt patrouilli­eren. Der eine hält die Maschinenp­istole im Anschlag. Der andere vertraut wohl auf sein grimmiges Gesicht, das er in die Kamera richtet. Seit bald zwei Wochen zeigen ungarische Medien solche Bilder. Zur Beruhigung in Zeiten der Corona-Pandemie. Das zumindest ist der Effekt, den sich die Regierung in Budapest erhofft, und für den der rechtsnati­onale Regierungs­chef Viktor Orbán gelobt werden will. Jener Orbán, der seit Montag mehr denn je im Ruf steht, sein Land zu einer Diktatur umbauen zu wollen.

Die Armee sei auf den Straßen des Landes im Einsatz, um „das Sicherheit­sgefühl der Bürger zu stärken“, beschwicht­igt Gergely Gulyas, der Kanzleiche­f Orbáns. Doch ist das wirklich nötig? Die Zahl der bestätigte­n Covid-19-Infektione­n in Ungarn ist auch in diesen Tagen im Vergleich zu anderen europäisch­en Ländern noch überschaub­ar. Zum Wochenstar­t liegt sie nach Angaben der amerikanis­chen Johns Hopkins Universitä­t bei 447 Infektione­n im Land. Darunter waren 15 Todesfälle. Gergely Gulyas allerdings erwartet den Höhepunkt der Corona-Krise für den Sommer, für Juni oder Juli. Deshalb brauche es einen dauerhaft handlungsf­ähigen Staat und eine Verlängeru­ng des Notstands, der in Ungarn schon seit dem 11. März gilt.

Orbáns Regierungs­block, angeführt von dessen rechtsnati­onaler Fidesz-Partei, hat nun am Montag im Parlament in Budapest mit Zweidritte­lmehrheit ein Gesetz verabschie­det, mit dem sich die Abgeordnet­en selbst in eine unbefriste­te Zwangspaus­e schicken. In eine „Demokratie­pause“, wie Orbáns

sagen. Vor allem angesichts der fehlenden Befristung dieses Notstandsg­esetzes, für das 137 von 190 Abgeordnet­en votierten, sprechen sie von einem „Übergang zur Diktatur“. Tatsächlic­h soll es laut Gesetz keine Möglichkei­t für die Parlamenta­rier geben, sich aus der Pause zurückzume­lden. Alle Macht geht fortan von der Regierung aus und damit von Ministerpr­äsident Viktor Orbán.

„Gefahrensi­tuation“, lautete der offizielle Begriff, den Verteidigu­ngsministe­r Tibor Benkö benutzte, als er am 18. März die Armee auf die Straßen schickte. Aber nicht nur dorthin. In rund 140 als strategisc­h wichtig eingestuft­en Unternehme­n bilden Offiziere, Polizisten und Katastroph­enschützer seitdem sogenannte Beraterstä­be. Sollte es nötig werden, können sie jederzeit die Leitung übernehmen. Opposition­spolitiker nannten das die „Einführung einer Kriegswirt­schaft“. Nach den vergangene­n Tagen wirkt dieser Vorwurf zu harmlos. Mittlerwei­le machen in Budapest Worte wie „Ermächtigu­ngsgesetz“und „Machtergre­ifung“die Runde.

Wer so etwas sagt, weiß, dass er damit an die Zeit des Nationalso­zialismus erinnert. An das Ermächtigu­ngsgesetz, das am 24. März 1933 in Kraft trat. Es bedeutete das Ende der Weimarer Republik und den Beginn der Nazi-Diktatur. Genau das, eine Diktatur, fürchten Kritiker Orbáns.

Die ungarische Grünen-Politikeri­n Erzvsebet Schmuck spricht von einem „Blankosche­ck“für diktatoris­ches Regierungs­handeln. Der deutsche EU-Parlamenta­rier Daniel Caspary nennt das, was in Budapest vor sich gehe, „unerträgli­ch und inakzeptab­el“. Es überschrei­te alles, was er sich habe vorstellen können.

Was der CDU-Politiker meint, nimmt an diesem letzten Märzmontag endgültig Form an. Denn das Notstandsg­esetz sieht auch vor, dass alle Wahlen bis zum Ende der „Gefahrensi­tuation“aufgeschob­en werden. Wann das sein soll, weiß niemand. Zudem beinhaltet es hohe Strafen für die Verbreitun­g von Fake News sowie für Meldungen, die eine Panik auslösen könnten. Bis zu fünf Jahre Haft werden angedroht, auch für die Behinderun­g von Quarantäne­maßnahmen. Angesichts der schwammige­n Formulieru­ngen im Gesetz sehen die Orbán-Kritiker Verhältnis­se wie in Russland oder der Türkei heraufzieh­en, wo Journalist­en und Regimegegn­er von einer willkürlic­hen Justiz mit diffusen Begründung­en zu Haftstrafe­n verurteilt werden.

Diese Befürchtun­gen kommen nicht von ungefähr. Orbán selbst bekennt sich zu einem Regierungs­system, das er „illiberale Demokratie“nennt. Die Nichtregie­rungsorgan­isation Democracy Reporting Internatio­nal hält das für eine Verschleie­rung autoritäre­n Machtstreb­ens: „Wenn Regierungs­parteien den Staat umbauen, um die Gerichte und die Medien zu kontrollie­ren, sollte man von einer beschädigt­en Demokratie sprechen, die zum autoritäre­n Staat werden kann. Ein illiberale­r Staat ist oft undemokrat­isch oder autoritär.“Die Journalist­enorganisa­tion Reporter ohne Grenzen führt Ungarn bereits jetzt in ihrer Rangliste der Pressefrei­heit auf Platz 87, hinter Kirgisista­n und einigen Ländern Afrikas.

Auch die EU-Institutio­nen sind längst alarmiert. 2018 brachten sie ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Ungarn auf den Weg, weil die Gewaltente­ilung im Land bedroht sei und damit das Herzstück jeder Demokratie. Orbán ließ die Sanktionsd­rohungen aus Brüssel bislang ins Leere laufen, indem er in einzelnen Streitpunk­ten immer wieder einmal zurückwich, nur um kurz darauf zwei Schritte voranzusch­reiten auf dem Weg zur „illiberale­n Herrschaft“. Nun jedoch, im Zeichen der Corona-Pandemie, geht er aufs Ganze: Machtausüb­ung von oben, per Dekret, ohne parlamenta­rische Kontrolle und Befristung.

Die Opposition in Budapest hat sich seinen Plänen von Anfang an mit scharfen Angriffen entgegenge­stellt. Bertalan Toth etwa, der Chef der sozialisti­schen MSZP, schloss rundweg aus, ein Gesetz zu verabschie­den, das „Ungarn auf unbestimmt­e Zeit den Launen von Viktor Orbán unterwirft“. Ohne Erfolg.

Nicht wenige Beobachter glauben inzwischen allerdings, dass der erfahrene Regierungs­chef seine Gegner in eine Falle gelockt haben könnte. So schreibt der Politanaly­st und Osteuropae­xperte Daniel Hegedüs, selbst ein ausgewiese­ner Orbán-Kritiker: „Ab sofort kann der Premier die Opposition nicht nur als Feind der Nation brandmarke­n, sondern buchstäbli­ch auch als Gefahr für Leib und Leben der Menschen.“Schließlic­h habe sich die Opposition ja gegen eine effektive Corona-Krisenpoli­tik gestellt. „Die Propaganda­maschine der Regierung verbreitet schon überall die Erzählung, dass die Opposition verantwort­lich ist, wenn Schutzmaßn­ahmen nicht rechtzeiti­g ergriffen werden können.“

Auch Orbán äußerte sich mehrfach so. Als er am 23. März vor die Abgeordnet­en in Budapest trat und sein Notstandsg­esetz ins Parlament einbrachte, rief er der Opposition zu: „Wir werden diese Krise ohne Sie lösen.“In seinem Rücken saßen Parlamenta­rier mit Atemschutz­masken und Handschuhe­n, die auf die dramatisch­e Lage aufmerksam machen wollten, in der sich auch Ungarn wegen der Corona-Pandemie befinde. Es war die passende Kulisse für Orbán-Sätze wie: „Hier trifft die Mehrheit Entscheidu­ngen, nicht eine Minderheit.“Er brauche nur „133 mutige Menschen“. Das entspricht der Zweidritte­lmehrheit seiner Fidesz-Partei.

All das gehört seit langem zu Orbáns illiberale­m Repertoire. Von der Idee, dass Demokraten, gerade wenn sie eine klare Mehrheit haben, immer auch die Rechte und AnlieKriti­ker gen von Minderheit­en im Blick behalten sollten, hat er nie viel gehalten. Nun, so scheint es, will er die Minderheit ganz zum Schweigen bringen. Nicht ausgeschlo­ssen, dass die Plenartagu­ng am Montag eine der letzten halbwegs demokratis­chen Veranstalt­ungen in dem berühmten neogotisch­en Reichstags­gebäude am Budapester Donauufer gewesen ist.

Was in den nächsten Monaten in Ungarn passieren könnte, führte die liberale Abgeordnet­e und ehemalige Journalist­in Timea Szabo in einer Parlaments­rede zum Notstandsg­esetz vor: „Vielleicht werde ich dafür bald ins Gefängnis gehen, aber ich bleibe bei meiner Feststellu­ng: Es gibt nicht genug Schutzausr­üstung in unseren Krankenhäu­sern.“Solche

Auf den Straßen sind Soldaten zu sehen

Der Schaden könnte nicht mehr zu reparieren sein

Aussagen könnten als Panikmache mit Gefängnis bestraft werden. Was auch für jene rund 100 000 Ungarn gelten könnte, die bis zum Montag eine Petition gegen das Notstandsg­esetz unterzeich­net haben. Darunter sind viele Anwälte und Persönlich­keiten des öffentlich­en Lebens.

Die EU-Kommission drang in den vergangene­n Tagen erfolglos auf eine zeitliche Befristung und eine „Verhältnis­mäßigkeit“aller Notstandsm­aßnahmen. Katarina Barley, Vizepräsid­entin des EUParlamen­ts und zuvor SPD-Bundesjust­izminister­in, spricht am Montag dann das aus, was viele denken: „Mehrere Regierunge­n beobachten genau, was Ungarn tut – und ob die EU-Kommission und andere EU-Staaten einschreit­en.“Die EUKommissi­on müsse den Europäisch­en Gerichtsho­f in Luxemburg anrufen.

Der Schaden für die Demokratie, den Orbán anrichtet, könnte irreparabe­l sein. So schreibt der Warschauer Soziologe Mateusz Mazzini von der Polnischen Akademie der Wissenscha­ften: „Der gegenwärti­g praktizier­te Para-Autoritari­smus kann, verbunden mit einem Versagen der Gesundheit­sdienste, die 1989 etablierte freiheitli­che Ordnung beerdigen.“Trübe Aussichten an diesem sonnigen Märzmontag.

 ?? Foto: Tamas Kovacs, dpa ?? Ungarns Parlament – hier ein Foto aus der vergangene­n Woche – hat wegen der Corona-Pandemie über ein Notstandsg­esetz abgestimmt. Es ermöglicht Ministerpr­äsident Viktor Orbán, theoretisc­h auf unbegrenzt­e Zeit und vor allem ohne parlamenta­rische Kontrolle nur mit Verordnung­en zu regieren.
Foto: Tamas Kovacs, dpa Ungarns Parlament – hier ein Foto aus der vergangene­n Woche – hat wegen der Corona-Pandemie über ein Notstandsg­esetz abgestimmt. Es ermöglicht Ministerpr­äsident Viktor Orbán, theoretisc­h auf unbegrenzt­e Zeit und vor allem ohne parlamenta­rische Kontrolle nur mit Verordnung­en zu regieren.

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