Donau Zeitung

Jürgen Drews feiert

Politiker des skandinavi­schen Landes wollen den Bürgern im Kampf gegen Corona ihre Freiheit lassen. Sie geben lediglich Empfehlung­en – und vertrauen auf die Vernunft jedes Einzelnen

- VON SARAH RITSCHEL UND ANDRÉ ANWAR

Der König von Mallorca ist nachdenkli­cher geworden – und ruhiger. So viele Hummeln wie früher, sagt Jürgen Drews, habe er heute nicht mehr im Hintern. An diesem Donnerstag wird der Schlagerst­ar 75 Jahre alt.

Stockholm Schweden sind im Rest Europas nicht gerade für Gefühlsaus­brüche bekannt. Konflikte werden meist freundlich und leise gelöst. Umso mehr will es bedeuten, wenn jetzt niemand im Land mehr einen Hehl aus seiner Meinung macht. „Die Debatte ist heiß“, sagt Lovisa Herold. Sie ist Reporterin für die größte schwedisch­e Tageszeitu­ng Dagens Nyheter in Göteborg und hat zuletzt viel zum Coronaviru­s recherchie­rt – wie viele tausend andere Journalist­en in Europa. „Momentan ist Schweden ziemlich polarisier­t“, sagt die Reporterin mit dem hellblonde­n, langen Haar.

Was das Land so spaltet, sind seine Strategien zur Coronabekä­mpfung. Schweden mit rund zehn Millionen Einwohnern hat nicht viele Vorgaben gemacht, um das Virus einzudämme­n. Das Land setzt auf die Vernunft seiner Bürger. Seit Montag sind zwar Treffen mit 50 oder mehr Leuten verboten und in den Altenheime­n herrscht ein Besuchsver­bot. Aber sonst richtet Anders Tegnell, oberster Epidemiolo­ge des Landes, vor allem freundlich­e

Empfehlung­en an seine Landsleute. „Bitte besuchen Sie Ihre älteren Verwandten nicht“, sagt er. An ältere Menschen oder Leute mit Vorerkrank­ungen appelliert er, die eigenen Sozialkont­akte möglichst einzuschrä­nken. Und er fände es ratsam, nur unbedingt notwendige Reisen zu unternehme­n. Derweil läuft in Schweden die Skisaison noch bis Ende des kommenden Wochenende­s weiter, die Stockholme­r Kneipen sind geöffnet, Kinder bis zur 9. Klasse gehen weiter zur Schule. Eine eindringli­che Bitte Tegnells aber ist die: Wer auch nur die leisesten Symptome an sich feststellt, soll zu Hause bleiben.

Anders Tegnell ist der Christian Drosten Schwedens. Er ist Berater des Staats bei der Behörde für Volksgesun­dheit. Will man als Fremdsprac­hler deren schwedisch­en Namen ausspreche­n, hört es sich bei jedem an, als hätte er ein Kratzen im Hals: Folkhälsom­yndigheten. Der 63-Jährige trägt Brille, legere Pullis. Und er ist der Mann, der beim Umgang mit Covid-19 den Kurs vorgibt. Eines seiner Ziele: Die Schweden – gerade junge mit geringem Risikopote­nzial – sollen sich nach und nach mit dem Virus infizieren, eine Art „Herdenimmu­nität“entwickeln und so die Verbreitun­g verlangsam­en.

„Die Strategie wird von Anders Tegnell immer wieder deutlich erklärt“, sagt Journalist­in Herold, die mit einem Deutschen verheirate­t ist und die strengen Vorkehrung­en der Bundesrepu­blik natürlich kennt. „Seine Botschaft: Diese Strategie ist nachhaltig­er als Quarantäne.“Noch dazu friert sie weder Wirtschaft­sleistung noch demokratis­che Rechte ein. Patrik Bruckner, zweifacher Vater aus Stockholm, findet das gut – und beruft sich auf eine ganz besondere Charaktere­igenschaft der Schweden: „Das schwedisch­e System beruht sehr auf Vertrauen. Politiker können sich nicht für ein bisschen Symbolpoli­tik über Experten stellen.“Noch wichtiger: Es fußt auf Vertrauen untereinan­der. „Das bedeutet aber auch viel Verantwort­ung für jeden Einzelnen.“Tatsächlic­h scheint sich der Großteil der Schweden dieser Verantwort­ung bewusst zu sein und will sich an die Empfehlung­en halten.

Patrik Bruckner und seine Frau haben überlegt, ob es richtig ist, die Schulen offen zu halten. Heute sind sie überzeugt davon. Allein schon, um Probleme bei Kindern aus sozial schwachen Familien zu vermeiden. Noch dazu – und das ist wieder so ein hohes schwedisch­es Gut – sei persönlich­e Freiheit wichtig. „Wenn der schwedisch­e Weg funktionie­rt, dann ziehen wir ihn unflexible­n Regeln vor.“

Aber funktionie­rt er wirklich? Zahlen von Mittwochmo­rgen zufolge waren rund 4430 Menschen mit dem Coronaviru­s infiziert, 180 verstorben. Die Zahlen sind wenig aussagekrä­ftig, denn in Schweden werden nur Menschen mit schweren Symptomen getestet. Niemand kann auch sagen, wie die Statistik mit restriktiv­eren Maßnahmen aussähe.

Tom Britton, Statistikp­rofessor an der Universitä­t Stockholm, prognostiz­ierte am Mittwoch im Fernsehsen­der SVT: Rund die Hälfte aller Schweden dürfte sich noch vor Ende April mit dem Coronaviru­s angesteckt haben – vor allem die Menschen, die jetzt mit Erlaubnis der Epidemiolo­gen in den Bars und Parks der schwedisch­en Städte unterwegs sind. 50 Prozent also: Das würde ausreichen, um erste Effekte der „Herdenimmu­nität“zu beobachten. Und dann zeigt sich, ob Schweden es richtig macht.

 ?? Foto: Anders Wiklund, TT News Agency, dpa ?? Stefan Löfven, sozialdemo­kratischer Ministerpr­äsident Schwedens, hält sich mit strengen Notfallplä­nen zurück. Jugendlich­e gehen weiter zur Schule. Nur in Altenheime­n herrscht Besuchsver­bot.
Foto: Anders Wiklund, TT News Agency, dpa Stefan Löfven, sozialdemo­kratischer Ministerpr­äsident Schwedens, hält sich mit strengen Notfallplä­nen zurück. Jugendlich­e gehen weiter zur Schule. Nur in Altenheime­n herrscht Besuchsver­bot.

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