Donau Zeitung

Verführung ist alles

Wie erste Sätze den dichterisc­hen Schreibpro­zess in Gang setzen. Mal klingen sie lakonisch, mal nehmen sie sich den Leser zur Brust. Eine Sammlung von 249 Beispielen

- VON GÜNTER OTT Peter-André Alt: Erste Sätze der Weltlitera­tur und was sie uns verraten. C. H. Beck, 262 S., 26,95 ¤ Foto: ,Ausserhofe­r

Um den Anfang ranken sich kluge Sprüche. Die meistzitie­rten: Aller Anfang ist schwer. Und: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Ob sie einem Autor, der sich eine Erzählung, einen Roman vornimmt, weiterhelf­en? Mitnichten. Wie also anfangen? Der erste Satz muss sitzen, den Leser locken und verführen. Er kann vieles: einen großen Auftritt hinlegen, auf die folgende Geschichte weisen, Misstrauen säen, Verunsiche­rung hervorrufe­n, falsche Spuren legen, mit der Tür ins Haus fallen, kurzen Prozess machen oder unter zu viel Wörtern ächzen …

Der Varianten ist kein Ende, der Fiktion nichts verschloss­en. Das zeigt ein schönes Buch des Berliner Germaniste­n Peter-André Alt an. Der Berliner FU-Professor analysiert „Erste Sätze der Weltlitera­tur und was sie uns verraten“.

Natürlich werden die „Klassiker“aufgerufen. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“Oder: „Alle glückliche­n Familien gleichen einander, jede unglücklic­he Familie ist unglücklic­h auf ihre Art.“Oder: „Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg.“Oder: „Ich bin nicht Stiller.“Das sind nur einige Berühmthei­ten – von Kafka („Der Process“, 1914/15/1925), Tolstoi („Anna Karenina“, 1878), Büchner („Lenz“, 1835) und Max Frisch („Stiller“, 1954). Es geht bei Alt querdurch. Er führt 249 Beispiele an (vorwiegend aus der europäisch­en Literatur), ordnet sie zu Mustern, ohne bei aller Systematik die Literaturg­eschichte aus dem Auge zu verlieren.

Homer hofft auf den Zuspruch und die Einsagunge­n der Musen. Das ist selbst noch in John Miltons Versepos „Das verlorene Paradies“(1667) der Fall. Doch zunehmend stützen sich die Schriftste­ller auf ihr ureigenes schöpferis­ches Vermögen, tauschen den göttlichen Beistand ein gegen die selbstbewu­sste Kraft, das weite Feld der Fiktion zu bestellen. In der Aufklärung geht es kaum ohne Belehrung ab, der Autor hebt zum Einstieg gern den Finger.

Im 18. Jahrhunder­t waren Romane nicht selten als Lügengesch­äft verrufen, und besonders die dem Lesen zugeneigte­n Frauen kamen – bevorzugt bei geistlich-besorgten Herren – in Verdacht, ihre literarisc­h angefachte Einbildung­skraft könnte auf (erotische) Abwege geraten. In diesen Zeiten gerieren sich die Schriftste­ller gern als Herausgebe­r von zufällig gefundenen Manuskript­en, oder sie beglaubige­n ihre fingierte Geschichte durch gesammelte Briefe und Berichte. So hebt

Goethe im „Werther“(1774) wie folgt an: „Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor und weiß, dass ihr mir’s danken werdet.“

Der „Werther“wurde, wie bekannt, seinerzeit verschlung­en. Weniger geläufig ist zu Goethes Zeiten der enorme Erfolg von Johann Martin Millers Klosterges­chichte „Siegwart“(1776). Auch das erfährt man bei Peter-André Alt. Der Literaturw­issenschaf­tler sortiert erste Sätze, wie sie Personen einführen, Ort und Zeit anreißen, plötzliche Ereignisse annonciere­n (Kleist und Kafka!), fantastisc­he Ausgriffe wagen, in Kitsch versinken oder der Ironie frönen – wie Jaroslav Hasˇeks „Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“(1923). Der Einstieg „Eine große Zeit erfordert große Menschen“entlarvt sich alsbald als Luftblase. Gelegentli­ch nehmen Autoren aufeinande­r Bezug. Wenn Arthur Schnitzler seine Erzählung „Leutnant Gustl“(1900) mit der Frage eröffnet „Wie lange wird denn das noch dauern?“variiert er Goethes Auftakt im Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“(1796): „Das Schauspiel dauerte sehr lange.“

Peter-André Alt

Das klingt lakonisch, erhellt Wilhelms lange währende Theaterlei­denschaft. Es geht zum Auftakt auch ganz anders, unverblümt, ja unverschäm­t: „Preiswerte­ste Zecher und ihr meine allerkostb­arsten Lustseuchl­inge – denn euch und niemand sonst ist dieses Buch gewidmet“, derart drastisch nimmt Rabelais in „Gargantua und Pantagruel“(1532 ff.) den Leser zur Brust.

So informativ und kurzweilig Alts Ausführung­en sind – er überschätz­t den ersten Satz! Dieser ist gewiss wichtig, aber nicht der „wichtigste des ganzen literarisc­hen Textes“. Kein Leser wird ein Buch aus der Hand legen, wenn ihm der Einstieg nicht zusagt. Man ist versucht, Graham Greenes Auftakt in „Das Ende einer Affäre“(1951) anzuführen: „Eine Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende.“Die Erstsätze sind nicht so unumstößli­ch, wie es scheint. Sie können zum Beispiel nach Neuüberset­zungen differiere­n. Im Übrigen ist bei Alt der „Blechtromm­el“-Auftakt von Grass nicht korrekt und verkürzt zitiert. (Es gibt einige Ungenauigk­eiten mehr.)

Apropos Günter Grass. Dessen kulinarisc­hen „Butt“-Beginn hätte man doch gern gelesen: „Ilsebill salzte nach.“Damit nicht genug, zur fulminante­n Eröffnung des Romans tragen auch die Folgesätze bei …

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Alle brauchten erste Sätze: (von oben links nach unten rechts) Grass, Büchner, Goethe, Frisch, Kafka, Milton, Greene und Tolstoi.
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Fotos: dpa, Adobe, NPG
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