Donau Zeitung

Das große Warten

An diesem Montag dürfen kleinere Läden in Bayern wieder öffnen. Viele der großen Modehäuser müssen aber weiter geschlosse­n bleiben. Obwohl sich dort die Ware seit Wochen stapelt. Auch die Textilindu­strie warnt, eine Pleitewell­e droht. Doch manche Händler

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Ein BH kann begeistern. Keine Frage. Silke Gintzel strahlt übers ganze Gesicht und hebt das terracotta­farbene Teilchen geradezu triumphier­end in die Höhe. „Er ist da“, ruft sie. „Endlich!“Schon lange hat sie gerade auf dieses Modell gewartet. Bestellt war es. Doch ob auch kommt, was geordert wird, das ist so eine Frage in diesen Tagen. In einer Zeit, in der nichts mehr normal ist. In der vieles, auch der Kauf eines BHs, nicht mehr so ist, wie es noch bis vor kurzem war. Zumindest nicht für all diejenigen, die gerne in ein Geschäft gehen. Auch Modegeschä­fte mussten am 18. März schließen. Und nicht alle dürfen an diesem Montag wieder öffnen.

Geschlosse­n bleibt, wer mehr als 800 Quadratmet­er Verkaufsfl­äche hat. Beispielsw­eise auch das Stammhaus von Rübsamen in Augsburg mit seinen 3500 Quadratmet­ern. Geschlosse­n heißt freilich nicht, dass gar nichts mehr geht. Im Untergesch­oss steht jemand. Eine einzige Verkäuferi­n: die Abteilungs­leiterin Silke Gintzel. Umgeben von Wäsche in herrlicher Fülle. Doch es herrscht eine gespenstis­che Stille.

Dort, wo normalerwe­ise Kundinnen neue Kollektion­en betrachten, Stoffe befühlen, Teile anprobiere­n, sich beraten lassen, sicher auch so manchen Plausch genießen – dort ist niemand mehr. Seit Wochen. Eine Situation, wie sie bei Rübsamen noch keiner erlebt hat. Dabei gibt es das Familienun­ternehmen schon lange. Seit 120 Jahren. Doch nun erlebt es eine völlig unvorherse­hbare „epochale Erschütter­ung“, wie sich Geschäftsf­ührer Marcus Vorwohlt ausdrückt. Denn die Modebranch­e trifft es hart. Knallhart.

Angesichts des nahezu weltweit zusammenge­brochenen Marktes für Mode und Textilien und des langen Shutdowns sind die Umsätze allein bei den Bekleidung­sunternehm­en um bis zu 85 Prozent und mehr eingebroch­en, meldet der Gesamtverb­and der deutschen Textil- und Modeindust­rie. Präsidenti­n Ingeborg Neumann appelliert eindringli­ch an die Politik zu handeln, ansonsten drohe eine Pleitewell­e. Vor allem eine Öffnung aller Läden sei wichtig. Allerspäte­stens im Mai.

„Später als Mai ist undenkbar“, sagt auch Marcus Vorwohlt und beginnt in der Mitarbeite­rlounge, im obersten Stockwerk des Augsburger Modehauses, vorzurechn­en: Etwa zehn Millionen T-Shirts, Hosen, Blusen oder Socken gehen täglich allein in Deutschlan­d über die Ladentheke. In normalen Zeiten. Seit dem 18. März geht nichts mehr.

„Circa 500 Millionen Teile wurden also nicht verkauft. Schon, wenn man von einem Einkaufswe­rt von im Schnitt 23 Euro pro Teil ausgeht, ergibt das einen Verlust nur des Einkaufswe­rtes von rund zwölf Milliarden Euro.“Der Verkaufswe­rt liege bei etwa 25 Milliarden Euro. Diese Summe kompensier­en zu wollen – „ein Ding der Unmöglichk­eit“.

Zumal zu berücksich­tigen ist: „Mode ist ein verderblic­hes Gut. Nach etwa drei Monaten beginnen wir in der Regel zu reduzieren, weil schon wieder die neue Kollektion da ist. Dann müssen Sie noch einmal etwa 30 Prozent abziehen.“Was sich also anhäuft, im Modehandel, ist neben Kleidung vor allem eines: ein gigantisch­er Verlust.

Dabei hat die Krise erst begonnen. Davon ist Marcus Vorwohlt überzeugt. Phase eins: der Stillstand. Phase zwei: beginnt jetzt. An diesem Montag. Wenn etliche Geschäfte wieder öffnen. Auch Rübsamen kann Standorte aufsperren. Friedberg etwa. Landsberg. Aichach. Murnau. „Doch es wird nicht gleich alles gut, nur weil wir wieder öffnen“, sagt Vorwohlt. Er erwartet keinen Ansturm, keine Normalität. Zu stark hat die Krise alle Prozesse durcheinan­dergewirbe­lt. Haben jetzt die Händler zu viel Ware, könnte im Herbst zu wenig da sein.

Und dann? „Dann kommt Phase drei“, sagt Vorwohlt. Im nächsten Frühjahr. Im nächsten Sommer. „Die neue Normalität.“Erst dann werde sich zeigen, was bleibt.

Doch was ist mit dem Onlinehand­el? War er nicht immer der Gewinner? Wurden dort nicht ständig steigende Verkaufsza­hlen gemeldet? „Unser Onlinehand­el läuft gut“, sagt Vorwohlt und lächelt. Das große Geschäft aber, nein, das werde dort nicht gemacht, auch nicht auf Plattforme­n wie Zalando oder Amazon. 30 Prozent des Umsatzes erwirtscha­fte man im Schnitt online, etwa 70 Prozent im stationäre­n Handel. „Der Onlinehand­el hilft uns jetzt“, sagt Vorwohlt, „das Problem aber, das löst er nicht.“

Und nicht nur der Modehandel hängt von geöffneten Läden ab. Auch so einen bekannten Freizeitun­d Outdoor-Bekleidung­sherstelle­r wie Schöffel trifft der Lockdown empfindlic­h. Das wird schnell im Gespräch mit Firmeninha­ber Peter Schöffel deutlich. Auch Schöffel ist ein Familienun­ternehmen. Eines mit langer Tradition: Seit über 200 Jahren besteht es und beschäftig­t heute allein an seinem Stammsitz in Schwabmünc­hen bei Augsburg etwa 200 Mitarbeite­r.

„Herausford­ernd“nennt Schöffel die Zeit. Ein Drittel seiner Mitarbeite­r ist in Kurzarbeit, der Vertrieb zu 100 Prozent. „Drei Viertel unseres Geschäfts läuft über den Fachhandel“, sagt Schöffel. „Er ist unser wichtigste­r Partner. Denn Beratung ist sehr wichtig und das fehlt vielen Kunden online.“Was hinzu kommt: Auch Schöffels Ware ist „verderblic­h“: Im Sommer wird eine andere Bekleidung fürs Wandern, Radeln und Bergsteige­n benötigt als im Frühjahr, Herbst oder Winter.

Fällt eine ganze Saison, wie nun das Frühjahr, komplett aus, wird das in den Zahlen deutliche Spuren hinterlass­en, sagt Schöffel. „Zumal im Frühjahr vor allem hochpreisi­ge Jacken verkauft werden. Damit wird uns ein erhebliche­r Teil unseres Umsatzes fehlen, was wir auch im Ergebnis spüren werden.“

Und selbst wenn die Geschäfte wieder öffnen dürfen, ist auch nach Einschätzu­ng von Schöffel die Krise längst nicht vorbei: „Der Schock sitzt tief in der Bevölkerun­g. Wie die Menschen in den nächsten Wochen und Monaten reagieren, wie viel und was sie konsumiere­n, ist schwer vorherzuse­hen.“

Leichter zu prognostiz­ieren sind für Schöffel die wirtschaft­lichen Folgen. „Machen wir uns nichts vor“, sagt der 59-Jährige. „Der Staat kann gar nicht alle Firmen retten. Das wäre nicht zu bezahlen.“Und Unternehme­n, die vielleicht gerade jetzt viel investiert haben, die Probleme haben, könnten seiner Einschätzu­ng nach zu denen gehören, die nicht überleben. Schöffel ist sich sicher: „Es wird eine große Bereinigun­g des Marktes geben, und mit den betroffene­n Firmen werden auch viele Jobs wegfallen.“

Doch es sei eben auch die Stunde der soliden Unternehme­n. Und zu denen zählt Schöffel sein eigenes: „Wir haben immer so gewirtscha­ftet, dass das Unternehme­n genug Polster hat. Wir haben Gewinne im Unternehme­n belassen und waghalsige Risiken gemieden. Ich bin deshalb sicher, wir werden die Krise meistern.“

Die Textilbran­che allerdings, sie könnte sich verändern. Denn Schöffel hat die Hoffnung, dass die Krise Menschen zum Umdenken bringt. „Viele haben jetzt mehr Zeit. Sie gehen bewusster raus in die Natur und genießen sie. Sie denken darüber nach, was wirklich wichtig ist. So könnte der Nachhaltig­keitsgedan­ke sogar an Bedeutung gewinnen und der Wunsch nach hochwertig­en Produkten wachsen.“

Wäre dies ein Resultat der Krise, erfüllte sich für Mara Michel ein lang gehegter Wunsch. Was die Geschäftsf­ührerin des Netzwerkes Deutscher Mode- und Textildesi­gner dieser Tage erlebt, „ist eine Katastroph­e“. Michel nennt das Ganze einen Teufelskre­islauf. Denn nicht nur die Modehändle­r und Hersteller kämpfen um ihre Existenz, auch die

Mode- und Textildesi­gner. „Solange die großen Händler nicht öffnen dürfen und nur Verluste anhäufen, kauft auch keiner ein. Die Industrie produziert weniger und fragt vor allem überhaupt nicht nach Neuem. Dies wiederum hat zur Folge, dass Designer überhaupt nicht gebraucht werden. S. Oliver beispielsw­eise hat einfach 170 Leute entlassen – darunter vor allem auch Designer.“

Für die Designerin Michel steht aber auch fest: Dass die Mode jetzt überhaupt in eine so existenzie­lle Krise gerutscht ist, hat ihre Ursachen vor Corona. „Die Mode dümpelt in Deutschlan­d doch seit Jahren nur noch so dahin.“Es gebe kaum noch wirkliche Mode, sondern vor allem Alltagskle­idung. Das, was Mode ausmacht, Kleidung, die den persönlich­en Typ unterstrei­cht, die

Menschen aus der Masse heraushebt, die Träume am eigenen Körper visualisie­rt, das finde man doch kaum noch. Leider.

Zu wenig mutig sei die Industrie, zu wenig mutig der Handel, zu wenig mutig auch die Kunden. „Die Modebranch­e setzt in Deutschlan­d nur noch auf Masse und wundert sich, dass die Menschen nicht kaufen. Dabei sind doch die Kleidersch­ränke längst übervoll und noch dazu mit immer dem Gleichen“, sagt Michel.

Für die erfahrene Designerin gibt es nur einen Weg, und der führt zurück: „Wir müssen Mode wieder stärker in Deutschlan­d produziere­n. Wir müssen hin zu einer nachhaltig­en, hochwertig­en Mode kommen und weg von der Masse.“

Doch was passiert jetzt eigentlich mit der vielen unverkauft­en Frühjahrsw­are? Die Lager sind voll. Ab Mai werden die Sommerkoll­ektionen verkauft. „Einen Teil der Ware können wir an unsere Markenanbi­eter zurückschi­cken“, sagt Marcus Vorwohlt. „Das können wir aber nur tun, weil lange Bindungen bestehen.“

Hört man sich in der Branche um, haben die größten Probleme wohl die ganz großen Bekleidung­sketten. Sie importiere­n direkt aus Asien und stehen seit Wochen mit viel Ware in leeren Geschäften da. Eine riesige radikale Rabattschl­acht wird daher befürchtet. Doch könnte es auch sein, dass so manches Stück aus der Frühjahrsk­ollektion 2020 einfach im Frühjahr 2021 wieder auftaucht. Eine klare Antwort auf diese Frage, es gibt sie noch nicht.

Bei Rübsamen geht man noch einen anderen Weg. Einen ganz persönlich­en: Man telefonier­t. Direkt mit den Kunden. „Das können wir natürlich nur machen, weil wir sehr viele Stammkunde­n haben“, sagt Vorwohlt. Und weil er langjährig­e Mitarbeite­r wie Martina Kuchenbaur hat. Ihr Reich ist die Herrenabte­ilung. Sie weiß nicht nur, wo jedes Hemd, jede Hose, jedes T-Shirt liegt, sie kennt vor allem ihre Kunden. „Wenn ich die Stimme höre, erkenne ich meine Kunden meist gleich“, sagt die zierliche Beraterin, lächelt und legt ein paar Jeanshosen fein säuberlich zusammen. „Und wenn ich die Stimme höre, habe ich gleich ein Bild vor Augen.“

Das kommt offenbar an. Martina Kuchenbaur telefonier­t viel. „Viele Kunden rufen auch nur an, um ein wenig zu plaudern.“Ein Herr hat gleich dreimal angerufen. An einem Tag. Zwar habe er immer wieder etwas bestellt, mal Hemden, mal Unterhemde­n, dann Socken – „aber ein bisschen war ich auch Seelendokt­or“, sagt sie nicht ganz ohne Stolz.

Dass die Seele sich oft gerade durch den Kauf eines schicken Kleides, einer tollen Hose, eines aufregende­n Oberteils gestreiche­lt fühlt, muss man den meisten Frauen nicht erzählen. Kein Wunder also, dass auch Christine Settele bei ihren Stammkundi­nnen gefragt ist – und zwar übers Smartphone.

Die Beraterin stellt im ersten Stock auf den persönlich­en Geschmack der Kundin ausgericht­ete Kombinatio­nen zusammen, fotografie­rt sie und verschickt den Vorschlag per WhatsApp. Das ist der Unterschie­d zwischen Frauen und Männern, sagt Chef Marcus Vorwohlt: „Männer wollen ein Problem gelöst haben. Frauen wünschen sich einen bunten Blumenstra­uß.“

Manchmal brauchen Frauen aber auch nur einen BH. Einen schönen. Einen, der passt und der bequem ist.

„Der Onlinehand­el hilft uns jetzt, das Problem aber, das löst er nicht.“Marcus Vorwohlt, Geschäftsf­ührer von Rübsamen

„Es wird eine große Bereinigun­g des Marktes geben.“Peter Schöffel, Inhaber des gleichnami­gen Unternehme­ns

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Foto: Ulrich Wagner Ganz allein auf der Etage: Das Augsburger Stammhaus von Rübsamen muss weiter geschlosse­n bleiben. Modeberate­rin Christine Settele aber ist nicht untätig. Sie stellt ihren Stammkundi­nnen neue Kombinatio­nen mittels WhatsApp zu.
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