Donau Zeitung

In welche Richtung geht’s denn nun?

Lockern wir zu viel? Zu wenig? Was will die Politik? Was weiß die Wissenscha­ft? Und woher kommt eigentlich plötzlich dieser Reprodukti­onsfaktor? Versuch einer Einordnung auf weniger als 800 Quadratmet­ern

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Augsburg Am Ende dieser neuerliche­n Woche im Ausnahmezu­stand blieb ein Wort: Öffnungsdi­skussionso­rgie. Der Neologismu­s, mit dem die Kanzlerin – in einer internen Sitzung – die zunehmende politische Kakofonie im Umgang mit SarsCoV-2 einzudämme­n versuchte, machte auf viele den Eindruck eines Merkel’schen Maulkorbes, so, als ob die demokratis­che Diskussion selbst unter Quarantäne gestellt würde. Im Bundestag benutzte sie das Wort freilich nicht, warnte dennoch vor einem „zu forschen“Vorgehen bei den ab heute auch in Bayern geltenden Lockerunge­n, derweil die Zustimmung zu den restriktiv­en Maßnahmen in der Bevölkerun­g zurückgeht. Kein Wunder, möchte man sagen, hat die Kanzlerin doch selbst nach der letzten Schalte mit den Ministerpr­äsidenten den Geist aus der Flasche gelassen, hatte man zuletzt ein mitunter widersprüc­hliches Bild abgegeben: Lockern wir zu viel? Zu wenig? Hängen blieb vor allem: Lockern. Aber was kommt als Nächstes? Und warum kann einem das niemand sagen? Ein Blick auf (nicht nur politisch) dramatisch­e Wochen.

Nachdem Anfang März laut Robert-Koch-Institut (RKI) gerade mal 150 bestätigte Fälle in Deutschlan­d gemeldet waren, gibt es jetzt – knapp zwei Monate später – mehr als das Tausendfac­he davon. Das Virus breitete sich also exponentie­ll aus, und zu den täglich veröffentl­ichten, steil ansteigend­en Kurven gab es aus Norditalie­n zu sehen, Bilder von überforder­tem Krankenhau­spersonal, Bilder von Särgen, die das Militär abtranspor­tieren musste, Bilder einer Katastroph­e. Geht man mit einer US-amerikanis­chen Studie davon aus, dass mindestens fünf Prozent der an Covid-19 Erkrankten intensivme­dizinisch behandelt werden müssen, kann man sich leicht ausrechnen, wie schnell selbst unser Gesundheit­ssystem an seine Grenzen kommen würde. Die erste Losung deshalb: Die Kurve flach halten.

Nachdem Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die bis dahin ihrem Gesundheit­sminister Jens Spahn („Deutschlan­d ist gut vorbereite­t“) das Krisenmana­gement überlassen und auf öffentlich­e Einlassung­en weitgehend verzichtet hatte, sich am 13. März zum ersten Mal zur Sache äußerte (Stand damals: 3795 Fälle), lautete ihre Vorgabe deshalb: „Zeit gewinnen!“Fünf Tage später (10999) wandte sich Merkel dann zum ersten Mal überhaupt in einer Fernsehans­prache direkt an die Bevölkerun­g, sprach von der „größten Herausford­erung seit dem Zweiten Weltkrieg“, am 22. März (22672) erfolgte dann der Beschluss eines allgemeine­n Kontaktver­bots von Bund und Ländern, indes die Fallzahlen weiter stiegen. Gerade aber weil die Kurve erst einmal weiter steil anstieg und das Ziel der Abflachung ein klares war, stießen die drastische­n Einschnitt­e auf hohe Zustimmung­swerte. Mittlerwei­le sinken diese Werte allerdings merklich, wie sowohl Befragunge­n als auch die Auswertung­en von Mobilfunkd­aten beziehungs­weise daraus ableitbare Bewegungsm­uster der Menschen zeigen. Was war passiert? Nachdem am 1. April (73522 Fälle) die Beschränku­ngen von Bund und Ländern noch einmal bis nach Ostern verlängert wurden, gab es erste Diskussion­en und Forderunge­n, wie man schrittwei­se wieder in eine wie auch immer geartete Normalität übergehen könne. Und während sich die Menschen angewöhnt haben, auf Fallzahlen und die immer wieder auch von Angela Merkel angeführte­n Verdoppelu­ngsraten zu schauen, als diese sich tatsächlic­h positiv entwickelt­en, kam mehr und mehr ein weiterer Faktor ins öffentlich­e Spiel: die Reprodukti­onsrate R.

Während also viele davon ausgingen, das Ziel sei mit dem Abflachen der Kurve und der immer weiter gedehnten Verdoppelu­ngsrate erreicht, dozierte auch die Bundeskanz­lerin in der Pressekonf­erenz vom 15. April (130 450 Fälle) von jenem Reprodukti­onsfaktor, also der Zahl, wie viele Menschen ein Mensch statistisc­h ansteckt – und begründete damit, bei allen angekündig­ten Lockerunge­n etwa, was Geschäftsl­eben und Schulen anbelangt, die Verlängeru­ng der Kontaktspe­rren bis 4. Mai. Ja, was denn nun? Die letzten Tage machte zudem eine vom RKI veröffentl­ichte Grafik die Runde, wonach diese Reprodukti­onszahl schon am 23. März, also zu Beginn der allgemeine­n Kontaktbes­chränkunge­n – so wie ungefähr aktuell – beim Faktor 1 lag. War alles also umsonst, ein, wie in sozialen Medien kolportier­t, großer Quatsch gar? Kaum. Der Quatsch ist eher das. Denn erstens wurde der Wert aufgrund Verzögerun­g der Meldedaten erst im Nachhinein berechnet, zweitens gab es ja schon vorher Beschränku­ngen (Schule, Veranstalt­ungen, Gastronomi­e) und ein messbar veränderte­s Verhalten der Bevölkerun­g. Zumal: Was heißt das schon, ein Faktor 1?

Wissenscha­ft ist derzeit hoch im Kurs, und dabei wird oft übersehen, dass diese Wissen schafft, indem sie frühere Irrtümer widerlegt. Es liegt nun nahe, dass im Falle eines neuartigen Virus wie Sars-CoV-2 Irrtümer oder der Bereich des Nichtwisse­ns groß ist. Mittlerwei­le haben sich allerdings drei grundsätzl­iche Modelle herausgebi­ldet, nachdem der Ansatz der „Herdenimmu­nität“bei aller Unsicherhe­it der Datenlage deutlich mehr Todesfälle als die anfangs vielfach zum Vergleich herangezog­ene Influenza verursacht hätte. Verkürzt sind dies: zum einen das besagte dauerhafte Abflachen der Kurve, damit das Gesundheit­ssystem leistungsf­ähig bleibt. Zum anderen eine Art Zick-Zack-Strategie, wie sie vom Imperial College in London skizziert wurde, also eine Abfolge aus Beschränku­ngen und Lockerunge­n je nach Fallzahlen. Und zum Dritten eine Art „Austrocknu­ng“des Virus, ähnlich wie in Südkorea. Auch das HelmholtzZ­entrum hat ein solches Vorgehen zuletzt empfohlen, also die Ausbreitun­g des Virus stoppen, um überBilder haupt in der Lage zu sein, einzelne Ausbrüche wieder zu verfolgen und zu isolieren, ansonsten aber weitgehend normal leben zu können. Voraussetz­ung dafür allerdings: ein Reprodukti­onsfaktor sehr, sehr deutlich unter 1. Und die Politik? Reagierte zuletzt mit besagten Lockerungs­übungen.

Politik ist aber natürlich nicht Wissenscha­ft, die, zumal ja wie beschriebe­n, selbst und naturgemäß uneins, Politik muss vielmehr Interessen aushandeln – und eigene Interessen verfolgen. So lassen sich die letzten Beschlüsse, in denen eben auch wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Ansprüche einfließen, in denen um Quadratmet­erzahlen Verkaufsfl­äche gefeilscht wird, aber auch das Schaulaufe­n etwa zwischen Armin Laschet und Markus Söder oder zunehmend zwischen den Parteien erklären. Umso wichtiger wäre bei all der ja begrüßensw­erten, sich wieder einstellen­den Normalität des Politische­n aber, dass Politik erklärt, was das nächste Ziel ist.

Es wird – in einem Gemeinwese­n wie dem unseren anders kaum möglich – wohl ein Mittelweg sein, also irgendwie R = 1. Das bedeutet aber, dass wir uns auf lange Zeit an Masken (auch als Symbole, mit denen Lockerunge­n vollzogen werden können) und Einschränk­ungen gewöhnen müssen. Es ist zudem ein riskanter Weg, und wenn wir ihn gehen wollen in diese „neue Normalität“(Stand gestern: 158 000, davon 6000 Tote), so muss das jemand deutlich sagen.

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Foto (Montage): dpa Zweimal Merkel? Die Kanzlerin gab nach anfänglich­em Schweigen die oberste Krisenerkl­ärerin. Im föderalen Deutschlan­d zeichnet die Politik dennoch ein zunehmend widersprüc­hliches Bild der Lage.

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