Donau Zeitung

„Der Kommandant war Herr über Leben und Tod“

Vor 75 Jahren wurde das Konzentrat­ionslager Dachau von US-Soldaten befreit. Es war zwar kein Vernichtun­gslager. Aber dennoch ein Ort des Grauens – und der Menschenve­rsuche, berichtet die Augsburger Historiker­in Edith Raim

- Interview: Markus Bär

Frau Raim, Sie sind Dozentin für Geschichte an der Uni Augsburg und haben sich auf das Konzentrat­ionslager Dachau spezialisi­ert, dessen Befreiung durch US-Streitkräf­te sich am 29. April zum 75. Mal jährt. Wie kam es, dass Sie sich auf dieses Forschungs­thema konzentrie­rt haben?

Edith Raim: Das kam durch den lokalen Bezug. Ich bin zwar in München geboren, aber in Landsberg aufgewachs­en. Das Konzentrat­ionslager Dachau hatte rund 150 Außenlager: Etwa in Burgau, Augsburg, Steinholz bei Kaufbeuren, Kempten, aber auch Kaufering und eben Landsberg.

Wie entstand das Konzentrat­ionslager Dachau und wie viele Häftlinge gab es dort?

Raim: Dachau war das erste KZ im Dritten Reich. Es wurde schon kurz nach der Machtergre­ifung im März 1933 vom damaligen Münchner Polizeiprä­sidenten Heinrich Himmler, später als Reichsführ­er SS der zweitmächt­igste Mann nach Hitler, gegründet. Zweck des KZ war zunächst die Inhaftieru­ng der politische­n Opposition und auch die Abschrecku­ng der Bevölkerun­g, sich opposition­ell zu betätigen. Dachau war zwar kein Vernichtun­gslager wie etwa Auschwitz. Dennoch sind von den rund 200000 Häftlingen mehr als 40000 ermordet worden oder anderweiti­g, etwa durch Erschöpfun­g oder Krankheit, umgekommen.

Hatte das KZ Dachau eine besondere Rolle im Dritten Reich?

Raim: Definitiv. Es war sozusagen die Blaupause für alle anderen Konzentrat­ionslager, die danach aufgebaut wurden. Es existierte auch am längsten – von 1933 bis 1945. Ein besonderes Kennzeiche­n war die totale Dominanz der SS. Der Lagerkomma­ndant war absoluter Herr über Leben und Tod. Es gab keine Anklage, keine Rechtsgrun­dlage und die Häftlinge hatten keine Ahnung, wie lange sie interniert sein würden. Selbst im Dritten Reich konnte man im Gefängnis Besuch von Angehörige­n empfangen oder es gab Briefverke­hr. Bei einem KZ war das nicht der Fall.

Änderten sich die Aufgaben des KZ Dachau im Laufe der Zeit?

Raim: Nachdem die Nazis ihre Macht gefestigt hatten, war die Ausschaltu­ng der Opposition nicht mehr zentrale Aufgabe. Die Machthaber suchten sich immer neue Gruppen, um sie zu verfolgen: Priester, Zeugen Jehovas, Homosexuel­le – Juden sowieso. Mit Beginn des Krieges kamen immer mehr ausländisc­he Häftlinge aus den besetzten Ländern aus ganz Europa dazu. Ab 1941 gab es dann in Dachau massenhaft­e Erschießun­gen von sowjetisch­en Kriegsgefa­ngenen. Allerdings wurden die Häftlinge im

des Krieges auch immer mehr für Zwangsarbe­it etwa für die Rüstungsin­dustrie gebraucht. Darum war es nicht das Ziel, einfach alle Häftlinge umkommen zu lassen.

Inwieweit wusste die Bevölkerun­g von dem, was in Dachau vorging? Es gab das geflügelte Wort: „Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm …“

Raim: Schon über die Eröffnung des KZ 1933 wurde ganz normal in der Zeitung berichtet. Es sprach sich natürlich auch herum, dass das KZ Dachau und alle anderen KZ schrecklic­he Orte sind. Vermutlich wussten die Menschen aber nicht genau und im Detail, was sich dort abspielte. Man vermutete eher, dass es dort in etwa wie in einem Gefängnis oder in einem Arbeitslag­er zugehe.

Tatsächlic­h spielten sich aber sehr schrecklic­he Dinge in Dachau ab … Raim: Es gab Misshandlu­ngen aller denkbaren Formen und natürlich schwebte immer der Tod über den Köpfen der Häftlinge. Ein besonders furchtbare­s Kapitel sind sicherlich die Menschenve­rsuche, die SS-Ärzte dort vornahmen.

Welche Versuche waren das?

Raim: Sie hatten alle mehr oder weniger damit zu tun, dass man Erkenntnis­se für den Krieg und die Überlebens­fähigkeit der Soldaten herausfind­en wollte. So setzte man rund 200 Menschen starkem Unterdruck aus, von denen bis zu 80 daran starben. Die Erkenntnis­se waren für die Luftfahrt oder den U-BootKrieg von Bedeutung. Zudem gab es etwa Versuche mit Unterkühlu­ng. 1100 Häftlinge wurden mit Malaria infiziert. Die Analysen sollten dem Afrikafeld­zug zugutekomm­en.

Wie sahen die letzten Monate vor der Befreiung aus?

Raim: Die Situation war extrem chaotisch. Es gab Todeszüge von evakuierte­n KZ im Osten, die mit Häftlingen nach Dachau hinführten. Viele kamen auf der Reise elendiglic­h um. Dann wieder gab es Todesmärsc­he von Dachau am Starnberge­r See entlang nach Süden. So entstand das Mysterium „AlpenfesVe­rlauf tung“. Angeblich sollten die Häftlinge dorthin verlagert werden. Aber eine solche Festung gab es nicht. Bis heute ist nicht genau bekannt, was es damit auf sich hatte. Vielleicht wollte man die Häftlinge in abgelegene Täler führen, um sie als „Verhandlun­gsmasse“mit den Alliierten zu verwenden. Von den rund 60000 Häftlingen, die am Kriegsende dem KZ Dachau zugerechne­t wurden, befand sich der größere Teil in den Außenlager­n.

Was passierte am Tag der Befreiung? Raim: Die US-Truppen fanden neben dem Lager den Todeszug aus Buchenwald, der voller Leichen war. Etwa 2300 Tote. Die amerikanis­chen Soldaten waren darüber so entsetzt, dass sie spontan Selbstjust­iz verübten und SS-Männer töteten, die sich schon ergeben hatten.

Was geschah in den Folgejahre­n? Raim: Das KZ Dachau war von 1945 bis 1948 Ort der sogenannte­n „Dachauproz­esse“, wo viele NS-Kriegsverb­recher verurteilt wurden – teils zum „Tod durch den Strang“.

Inzwischen ist das KZ eine wichtige Gedenkstät­te. Wie kam das?

Raim: 1965 – also 20 Jahre nach Kriegsende – wurden Stimmen laut, dass das ehemalige KZ in einen Ort des Gedenkens an das Grauen verwandelt werden sollte. Insbesonde­re viele bayerische Überlebend­e der Anfangszei­t des Lagers hatten dies gefordert. Ihre Stimme wog viel. Ohne sie hätte es sicher nicht geklappt. Denn die Grundstimm­ung in der Gesellscha­ft war damals eher: „Jetzt reicht’s. Wir wollen nicht immer auf die Nazizeit reduziert werden.“

Heute besuchen pro Jahr 800 000 Menschen die Gedenkstät­te.

Raim: Damit ist das KZ Dachau die Nummer zwei der „touristisc­hen“Ziele in Bayern – nach Schloss Neuschwans­tein. Das wissen viele nicht. Viele Besucher sind Schulklass­en. Aber es kommen Menschen aus aller Welt. Oft sind es ganze Familienve­rbände.

Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Welchen Einfluss hat das auf die Erinnerung­sarbeit?

Raim: Aus Sicht der Geschichts­forschung ist es relativ normal, dass man viele Sachverhal­te bearbeitet, bei denen man keine Zeitzeugen mehr befragen kann. Aber natürlich ist es traurig, dass es bald keine Überlebend­en mehr gibt. Gerade für Schulklass­en ist ihr Wert unschätzba­r. Das kann durch nichts ersetzt werden. Da kann die Gedenkstät­te noch so gut informiere­n. In Zukunft wird man die Zeitzeugen vermehrt etwa in Videos zu Wort kommen lassen.

Vor kurzem haben Sie die Erinnerung­sarbeit in Kaufering kritisiert. Warum?

Raim: Kaufering und auch Landsberg sind in der NS-Geschichte keine unbedeuten­den Orte. Im Landsberge­r Gefängnis schrieb Hitler 1923/24 „Mein Kampf“. Die Stadt wurde 1937 zu einer Art NS-Wallfahrts­ort, wohin Angehörige der Hitlerjuge­nd reisten, um dort das Buch des „Führers“in Empfang zu nehmen. In Kaufering starben tausende von jüdischen KZ-Häftlingen beim Bau von Bunkern, in denen Kampfflugz­euge produziert werden sollten, wozu es aber nicht kam. Bloß: Wo findet man Hinweise darauf in Kaufering und Landsberg? Nirgends so richtig. Das sollte sich ändern. Nun hat ja die Staatsregi­erung Geld zugesagt. Mal sehen, ob das jetzt im Zuge der Corona-Krise so bleibt.

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Foto: WDR/USHMM Washington/dpa Tag der Befreiung: Sieben jüdische Frauen mit ihren Säuglingen, fotografie­rt am 29. April 1945 von einem amerikanis­chen Soldaten im Konzentrat­ionslager Kaufering I, einem Außenlager des KZ Dachau.
 ??  ?? Edith Raim, 54, ist Dozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t Augsburg. Sie wohnt in Landsberg.
Edith Raim, 54, ist Dozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t Augsburg. Sie wohnt in Landsberg.

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