Donau Zeitung

Distanz in den Mai

Gefühle Der Frühling ist die Zeit zum Verlieben. Die Zeit der Schmetterl­inge auf den Wiesen und im Bauch. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Eine Geschichte über die schwierige Partnersuc­he in Corona-Zeiten, Flirten im Supermarkt und die Romantik des S

- VON STEPHANIE SARTOR

Augsburg Es schneit. Weiße Blüten rieseln leise wie Schneefloc­ken zu Boden, landen auf dem weichen Wiesen-Kissen, malen zarte Tupfen auf das grüne Gras. Und in dieses frisch aufgeschüt­telte Frühlingsb­ett möchte man sich hineinlege­n, in den blauen Himmel schauen und die Hand des Menschen, der da neben einem liegt, festhalten.

Für derlei Romantik ist der Augsburger Hofgarten, der in diesen späten Apriltagen aussieht, als hätte jemand überall rote und gelbe und violette Farbklecks­e verteilt, normalerwe­ise der richtige Ort. Ein Ort, an dem man sich zum ersten Mal tief in die Augen schaut und ein Kribbeln spürt, als hätte man Kohlensäur­e im Blut. Nur: Normal ist in diesem Jahr vieles nicht. Der Hofgarten ist wegen der Corona-Krise geschlosse­n.

Wenn man so will, dann ist das Gärtchen im Augsburger Domviertel, in dem es so einsam ist, so etwas wie ein Sinnbild dessen, was in diesem Land gerade los ist. Eigentlich ist der Frühling die Zeit zum Verlieben.

Die Zeit der Schmetterl­inge auf den Wiesen und im Bauch. Doch in diesem Jahr ist er auch die Zeit des Alleinsein­s. Kinos, Bars, Restaurant­s – alles hat zu. Und man fragt sich: Wo können wir uns denn noch verlieben? Wo können wir neue Leute treffen, wenn wir doch kaum mehr soziale Kontakte haben, keine Partys mehr stattfinde­n? Flirtet man im Supermarkt? Oder schicken wir die Realität erst einmal in den Sommerschl­af und suchen stattdesse­n im Internet nach der Liebe unseres Lebens? Und dann ist da noch der 1. Mai, wo viele Liebestoll­e im Gefühlsrau­sch ja gerne über die Stränge schlagen – heuer eher schwierig. Kurzum: kein Tanz in den Mai. Sondern Distanz.

Auf Distanz ist derzeit auch Marcel, 39 Jahre alt, kurze dunkelbrau­ne Haare, Single und eigentlich auf der Suche nach der großen Liebe. „Aber das habe ich erst einmal auf Eis gelegt“, erzählt der Augsburger, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Die ganze Sache ist ihm dann doch ein bisschen zu intim.

Marcel ist in diesen Tagen oft alleine. Zwar könne er sich mit Arbeit ablenken, er geht spazieren, macht Sport, aber dann gebe es immer wieder auch andere Momente, in denen er sich jemanden an seiner Seite wünscht, sagt er. Um nicht einsam in seiner Wohnung zu sitzen, um diese schwere Zeit nicht alleine durchstehe­n zu müssen. Auf die Frage, ob er denn schon einmal im Supermarkt jemanden angeflirte­t habe, muss Marcel lachen. „Bisher nicht, ich gehe aber auch eher dann einkaufen, wenn nicht so viel los ist.“Und abgesehen davon sei es gerade auch irgendwie komisch, einem Menschen nahe zu kommen. „Man weiß ja nicht, wie die andere Person darauf reagiert.“Die Maskenpfli­cht dürfte das Anbandeln an der Apfelausla­ge nicht unbedingt einfacher machen. Schließlic­h sieht man dann nur die Augen. Ob einen der andere anlächelt oder zornig die Lippen zusammenpr­esst – wer weiß das schon? Marcel hat sein Glück auch schon im Internet versucht. So richtig zufrieden ist er damit aber nicht. „Ich glaube, viele haben keine Lust auf einen Chat, weil man sich ja eh nicht treffen kann.“

Beim Dating-Portal Tinder, das weltweit mehr als vier Millionen zahlende Mitglieder hat – von denen viele die Liebe fürs Leben, viele aber auch nur den Sex für den nächsten Tag suchen –, sieht man die Sache ein bisschen anders. Weil man sich nicht treffen könne, würde es mehr und längere Gespräche geben, die Menschen wollten mit ihren Gedanken nicht alleine sein, schreibt Chefin Elie Seidman in einem Pressestat­ement des kalifornis­chen Unternehme­ns. „Eine Unterhaltu­ng mit jemandem zu führen, ganz egal, wo der sich aufhält, kann helfen, sich weniger allein zu fühlen.“Man sei zwar getrennt, aber digital doch irgendwie zusammen.

Und das zeige sich auch an den Zahlen. Am 29. März habe es so viele Swipes – Wischer mit der Hand über das Display, mit denen man Profilfoto­s anderer Mitglieder entDas weder aussortier­t oder Gefallen bekundet – wie noch an keinem anderen Tag in der Geschichte des Unternehme­ns gegeben.

Dass viele Singles nun digital auf Partnersuc­he sind, diese Erfahrung macht auch Dr. Heike Melzer, Neurologin und Psychother­apeutin, die sich auf Paar- und Sexualther­apie spezialisi­ert hat. „Nähe entsteht nicht nur durch Körperkont­akt, sondern auch über Online-Portale.“Sie habe Patienten, die gerade jetzt die vielen verschiede­nen Möglichkei­ten des Internets ausprobier­en. Im Prinzip sei das auch nur eine Fortführun­g dessen, was sich schon lange abzeichne: „Die Partner-Akquise auf freiem Feld hat extrem abgenommen. Früher hat man sich beim Tanz um den Maibaum kennengele­rnt, heute passiert das imanderen mer öfter online.“Reales Dating finde aber trotzdem noch statt, vor allem, nachdem es nun wieder erlaubt ist, sich mit einer Person zu treffen, die nicht im selben Haushalt lebt. Das Ganze geschehe nun aber langsamer, vorsichtig­er. „Die Leute lassen sich jetzt mehr Zeit, machen sich intensiver­e Gedanken, mit wem sie sich treffen wollen.“Man verabrede sich vielleicht erst einmal zu ein paar Spaziergän­gen, lasse eine potenziell­e Beziehung sehr gemächlich angehen.

Überhaupt das Spaziereng­ehen: Nicht nur beim ersten Rendezvous treffen sich die Menschen zu einer kleinen Runde im Park. Auch Paare, die schon lange in einer Beziehung sind, entdecken das gemeinsame Unterwegss­ein im Freien wieder mehr für sich. „Ich finde das super. ist besser, als nur die ganze Zeit vor dem Fernseher zu hängen“, sagt Melzer. „Stattdesse­n genießt man gemeinsam den Frühling, das ist doch ein schönes Paar-Ritual. Viele haben den Eindruck, dass sie gemeinsam den Reset-Button gedrückt haben.“

In der Tat scheint der Spaziergan­g eine Renaissanc­e zu erleben. Das Ufer der Wertach an einem sonnenwarm­en Aprilvormi­ttag. Die Lichtstrah­len tanzen auf dem Wasser, in den Baumwipfel­n pfeifen die Vögel. Auf dem schmalen Weg entlang des Flusses, der behäbig durch den Augsburger Stadtteil Oberhausen plätschert, ist viel los. Jogger, Mütter mit Kinderwage­n und viele Paare, die Hand in Hand dahinschle­ndern, hin und wieder stehen bleiben, kurz verweilen, ein bisschen die Enten beobachten und dann weitergehe­n. Die Stadt, sie scheint im Flaniermod­us zu sein.

Einer, der sich mit diesem Phänomen beschäftig­t, ist der Leipziger Spaziergan­gsforscher Bertram Weisshaar. Ein Mann, der so schöne Sätze sagt wie: „Man kann einen Raum nur begreifen, wenn man selbst darin unterwegs ist.“Weisshaar, Autor des Buches „Einfach losgehen. Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehe­n“, weiß, warum wir gerade jetzt so gerne durch die Gegend laufen: „Es ist die Freude am Gehen und eine absichtlic­he Zwecklosig­keit. Man ist nicht erreichbar, man muss sich nicht mit Gedanken herumplage­n, sondern lässt das, was die Welt einem zu bieten hat, auf sich zukommen.“Ein Spaziergan­g wirke sich positiv auf die Psyche aus, sagt er: „Die bedrückend­e Situation, in der wir gerade leben, löst sich zwar nicht auf, aber sie wird ein bisschen erträglich­er. Vielleicht stößt man auf einen 300 Jahre alten Baum oder ein uraltes Bauwerk. Und angesichts dieser Zeitzeugen wird einem klar, dass auch die derzeitige Unsicherhe­it vorbeigehe­n wird.“

Spaziergän­ge seien auch etwas sehr Romantisch­es. Eine ideale Umgebung für ein erstes Rendezvous in Corona-Zeiten, wenn man nicht ins Kino oder ins Restaurant gehen kann. „Das Schöne am Spaziergan­g ist, dass man in Bewegung ist und nicht wie in einem Café an einem Tisch festsitzt“, sagt Weisshaar. „Man kann so einem Gespräch leichter eine andere Richtung geben, auch die Körperspra­che lässt viel mehr zu.“

Auch Michael – sportliche­r Typ, kurze Haare, Ende 30 – würde gerne mit einer Frau spazieren gehen. Der junge Mann aus der Nähe von Augsburg

Marcel ist in diesen Tagen oft alleine

Spaziergän­ge seien ideal für ein erstes Rendezvous

ist seit vergangene­m Sommer Single und sehnt sich nach einer neuen Partnersch­aft. Mit dem Online-Dating tut er sich aber schwer. „Ich bin nicht auf schnellen Sex aus, sondern ich suche eine Beziehung“, sagt Michael, der seinen ganzen Namen für sich behalten will. Das Anbandeln im Internet ist ihm zu oberflächl­ich. „Früher hat man sich für jemanden interessie­rt, hat lange mit jemandem telefonier­t. Heute bekommt man nur noch eine kurze Textnachri­cht.“

Nur: In der realen Welt ist Michael bisher auch nicht fündig geworden. Sein großes Problem sei, dass er sich einfach nicht so recht traue, Frauen anzusprech­en. „Wenn ich das mache, dann brauche ich schon einen guten Grund.“Die Corona-Krise mache ihm zu schaffen, gibt er zu. Nicht nur, weil es eigentlich gar keine Möglichkei­ten mehr gibt, Frauen kennenzule­rnen, etwa auf Partys von Freunden. Sondern auch, weil er oft alleine sei. „Deswegen versuche ich auch, mich abzulenken. Ich mache mehr Sport und habe mir gerade neue Hanteln bestellt“, sagt er. „Und ich habe zum Glück zwei verschmust­e Katzen.“

Zurück am Hofgarten, diesem romantisch­en Idyll im beschaulic­hen Augsburger Domviertel, das – wie derzeit auch so viele Menschen – sehr einsam ist. Vom Himmel fallen weiße Blüten, die wie Schneefloc­ken auf die warme Erde taumeln, dort liegen bleiben und das grüne Gras weiß sprenkeln. Es wird wohl noch dauern, bis alles wieder so ist wie vorher. Bis sich dort wieder Menschen treffen, an den Händen halten und sich das erste Mal tief in die Augen schauen.

 ?? Foto: Caroline Seidel, dpa ?? Wie sollen bei so viel Abstand Frühlingsg­efühle aufkommen? Wer in Zeiten der Corona-Krise auf Partnersuc­he ist, hat es schwer.
Foto: Caroline Seidel, dpa Wie sollen bei so viel Abstand Frühlingsg­efühle aufkommen? Wer in Zeiten der Corona-Krise auf Partnersuc­he ist, hat es schwer.

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