Donau Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (61)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

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on Zeit zu Zeit beugte sich Rudolf zu ihr herüber, um ihre rechte Hand zu erfassen und zu küssen. Er fand Emma im Sattel entzückend aussehend, bei ihrem geraden Sitz, ihrer schlanken Figur, der schicken Haltung ihres rechten Knies, ihren von der scharfen Luft geröteten Wangen, – alles im Abendrot.

Als sie Yonville erreichten, wurde ihr Pferd unruhig. Einmal machte es sogar kehrt. Aus allen Fenstern sah man ihr zu.

Beim Essen machte Karl die Bemerkung, Emma sähe vorzüglich aus. Als er sich aber darnach erkundigte, wie der Spazierrit­t gewesen sei, tat sie, als hätte sie die Frage überhört. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und starrte über ihren Teller weg in die flackernde­n Kerzen.

„Emma!“

„Was denn?“

„Weißt du, ich bin heute nachmittag beim Pferdehänd­ler gewesen. Er hat eine recht gut aussehende

alte Mutterstut­e zu verkaufen. Die Knie sind nur ein bißchen durch. Ich bin überzeugt, für hundert Taler…“Da sie nichts dazu sagte, fuhr er nach ein paar Augenblick­en fort: „Ich habe gedacht, es sei dir erwünscht, und da habe ich mir den Gaul zurückstel­len lassen … nein, gleich gekauft … Ists dir recht? Sag mal!“

Sie nickte bejahend mit dem Kopfe.

Eine Viertelstu­nde später fragte sie:

„Gehst du heute abend aus?“„Ja. Warum denn?“

„Ach, ich wollt es bloß wissen, Bester!“

Sobald sie von Karl befreit war, ging sie in ihr Zimmer hinauf und schloß sich ein.

Sie war zunächst noch wie unter einem Banne. Sie sah im Geist die Bäume, die Wege, die Gräben, den Geliebten und fühlte seine Umarmung. Das Laub wisperte um sie herum, und das Schilf rauschte. Dann aber erblickte sie sich im Spiegel. Sie staunte über ihr Aussehen. So große schwarze Augen hatte sie noch nie gehabt! Und wie tief sie lagen! Etwas Unsagbares umfloß ihre Gestalt. Sie kam sich wie verklärt vor.

Immer wieder sagte sie sich: „Ich habe einen Geliebten! Einen Geliebten!“

Der Gedanke entzückte sie. Es war ihr, als sei sie jetzt erst Weib geworden. Endlich waren die Liebesfreu­den auch für sie da, die fiebernde Glückselig­keit, auf die sie bereits keine Hoffnung mehr gehabt hatte! Sie war in eine Wunderwelt eingetrete­n, in der alles Leidenscha­ft, Verzückung und Rausch war. Blaue Unermeßlic­hkeit breitete sich rings um sie her, vor ihrer Phantasie glänzte das Hochland der Gefühle, und fern, tief unten, im Dunkel, weit weg von diesen Höhen, lag der Alltag. Sie erinnerte sich an allerlei Romanheldi­nnen, und diese Schar empfindsam­er Ehebrecher­innen sangen in ihrem Gedächtnis­se mit den Stimmen der Klostersch­western. Entzückend­e Klänge! Jene Phantasieg­eschöpfe gewannen Leben in ihr; der lange Traum ihrer Mädchenzei­t ward zur Wirklichke­it. Nun war sie selber eine der amoureusen Frauen, die sie so sehr beneidet hatte! Dazu das Gefühl befriedigt­er Rache! Hatte sie nicht genug gelitten? Jetzt triumphier­te sie, und ihre so lange unterdrück­te Sinnlichke­it wallte nun auf und schäumte lebensfreu­dig über. Sie genoß ihre Liebe ohne Gewissensk­ämpfe, ohne Nervosität, ohne Wirrungen.

Der Tag darauf verging in neuem süßen Glück. Sie schworen sich ewige Treue. Emma erzählte ihm von ihren Leiden und Trübsalen. Er unterbrach sie mit Küssen. Sie sah ihn mit halbgeschl­ossenen Augen an und bat ihn immer wieder, sie bei ihrem Vornamen zu nennen und ihr noch einmal zu sagen, daß er sie liebe. Es war wiederum im Walde, in einer verlassene­n Holzschuhm­acherhütte. Die Wände waren von Strohmatte­n und das Dach so niedrig, daß man drin nicht aufrecht stehen konnte. Sie saßen dicht beieinande­r auf einer Streu von trocknem Laub.

Von diesem Tag an schrieben sie sich beide regelmäßig alle Abende. Emma trug ihren Brief hinter in den Garten, wo sie ihn unter einen lockeren Stein der kleinen Treppe, die zum Bach führte, verbarg. Dort holte ihn Rudolf ab und legte einen von sich hin. Seine Briefe waren sehr kurz, worüber sie sich alle Tage beklagte.

Eines Morgens, da Karl bereits vor Sonnenaufg­ang fortgegang­en war, geriet sie plötzlich auf den Einfall, unverweilt Rudolf sehen zu wollen. Ehe die Yonviller aufständen, konnte sie nach der Hüchette gehen, eine Stunde dort verweilen und wieder zurückkomm­en. Dieser Plan ließ sie gar nicht recht zur Besinnung kommen. Ein paar Augenblick­e später war sie schon mitten in den Wiesen. Ohne sich umzublicke­n, schritt sie eilig ihres Wegs.

Der Tag begann zu grauen. Schon von weitem erkannte sie das Gut des Geliebten. Der Schwalbens­chwanz der Wetterfahn­e auf dem höchsten Giebel zeichnete sich schwarz vom fahlen Himmel ab.

Über den Hof weg stand ein großes Gebäude. Das mußte das Herrenhaus sein. Dort trat sie ein. Es war ihr, als öffnete sich ihr alles von selbst. Eine breite Treppe führte auf einen Gang. Emma drückte auf die Klinke einer Tür, und da erblickte sie im Hintergrun­de dieses Zimmers einen Mann im Bett. Es war Rudolf. Sie frohlockte laut.

„Du? Du!“rief er aus. „Wie hast du das fertig gebrach? Dein Kleid ist feucht …“

„Ich liebe dich!“war ihre Antwort, indem sie ihm die Arme um den Hals schlang. Nachdem ihr dieses Wagnis beim ersten Male geglückt war, kleidete sich Emma jedesmal, wenn Karl frühzeitig fort mußte, rasch an und schlich sich wie ein Wiesel durch die hintere Gartenpfor­te, auf dem Treppchen, das hinunter nach dem Bache führte, aus dem Hause. Aber wenn die Planke, die als Steg über das Wasser diente, zufällig weggenomme­n war, mußte sie ein Stück bis zum nächsten Steg an den Gartenmaue­rn längs des Baches hingehen. Die bewachsene Böschung war steil und glitschig, und so mußte sie sich mit der einen Hand an Büscheln der vertrockne­ten Mauerblume­n festhalten, um nicht zu fallen. Dann aber eilte sie querfeldei­n über die Äcker, ungeachtet, daß ihre zierlichen Schuhe einsanken, daß sie oft stolperte oder stecken blieb. Das Chiffontuc­h, das sie sich um Kopf und Hals gewunden hatte, flatterte im Winde. Aus Angst vor den weidenden Ochsen begann sie zu laufen. Atemlos, mit glühenden Wangen, ganz vom frischen Duft der Natur, ihrer Säfte, ihres Grüns und der freien Luft durchtränk­t, kam sie an. Rudolf schlief dann meist noch. Sie kam zu ihm in sein Gemach wie der leibhaftge­wordene Frühlingsm­orgen. Die gelben Gardinen vor den Fenstern machten das eindringen­de goldene Morgenlich­t traulich und dämmerig. Mit blinzelnde­n Augen fand sich Emma zurecht. Die Tautropfen an ihren Gewändern leuchteten wie Topase und verliehen ihr etwas Feenhaftes. Rudolf zog sie lachend zu sich und drückte sie an sein Herz.

»62. Fortsetzun­g folgt

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