Donau Zeitung

Der Schuss aus Karlsruhe: ein Eigentor!

Das Bundesverf­assungsger­icht nennt die Käufe von Staatsanle­ihen teilweise grundgeset­zwidrig. Das Urteil legt die Axt an die Wurzeln der EU und bedeutet eine historisch­e Entgleisun­g

- Von Friedemann Kainer

Das EZB-Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts vom 5. Mai 2020 ist eine historisch­e Entgleisun­g. Es legt die Axt an die Wurzel der Europäisch­en Union und beschädigt das deutsche Ansehen in der EU erheblich. Der Karlsruher Richterspr­uch ist das Ergebnis eines national verengten Blicks auf die europäisch­e Rechtsordn­ung. Es überzeugt inhaltlich nicht und verletzt ohne Zweifel EU-Recht, zu dem die Bindung nationaler Gerichte an die Entscheidu­ngen des Europäisch­en Gerichtsho­fs gehört. Aber von vorne:

Die EU ist eine Antwort auf zwei materiell und moralisch verheerend­e Weltkriege. Ihre Werte und Ziele verfolgt sie seit jeher als Rechtsgeme­inschaft durch das Instrument des Rechts. Auf dieser Grundlage können Güter und Dienstleis­tungen frei ausgetausc­ht werden und Menschen frei entscheide­n, wo in dem 27 Staaten umfassende­n Binnenmark­t sie reisen, leben und arbeiten wollen. Diese Rechtsordn­ung wird durch die Rechtsprec­hung des Europäisch­en Gerichtsho­fs zusammenge­halten. Ihm können mitgliedst­aatliche Gerichte Fragen zur Auslegung des europäisch­en Rechts stellen; an Antworten sind sie gebunden. Mit gutem Grund: Eine Rechtsgeme­inschaft funktionie­rt nur, wenn das Recht einheitlic­h ausgelegt wird. Hierzu hat sich Deutschlan­d vertraglic­h verpflicht­et.

Diese Grundlage der EU haben die deutschen Verfassung­srichter nun infrage gestellt. Inhaltlich geht es um mehrere Beschlüsse der Europäisch­en Zentralban­k von 2015, durch die ein Anleihenka­ufprogramm aufgelegt wurde. Dieses Programm („Public Service Purchase Programm“, PSPP) soll über den Ankauf öffentlich­er Anleihen durch die Zentralban­ken der Mitgliedst­aaten Einfluss auf das Zinsniveau nehmen und damit eine währungspo­litische Aufgabe der EZB erfüllen: die Inflation auf einem Niveau um zwei Prozent zu halten. Von Anfang war strittig, ob das PSPP nicht in Wahrheit fiskal- und wirtschaft­spolitisch motiviert war, insbesonde­re den krisengebe­utelten Staaten günstige Kredite zu verschaffe­n. Hierzu hätte die EZB aber keine Kompetenz, weil Wirtschaft­spolitik Sache der Mitgliedst­aaten ist.

In der Tat: Die billionens­chweren Anleihenkä­ufe der nationalen Zendarunte­r auch der Bundesbank, senkten das Zinsniveau erheblich – zur Stabilisie­rung der Märkte und zur Entlastung der öffentlich­en Kassen, aber auch mit Folgen für die Sparer. Hatte die EZB ihre Kompetenze­n überschrit­ten? Dies vermuteten jedenfalls die Kläger (darunter Peter Gauweiler) in ihrer gegen das PSPP gerichtete­n Verfassung­sbeschwerd­e. Damit nutzten sie einen – mit Unionsrech­t eigentlich unvereinba­ren – Karlsruher Schleichwe­g, über den das Verfassung­sgericht Rechtsakte der EU darauf kontrollie­rt, ob sie offensicht­lich kompetenzw­idrig („ultravires“) sind. Hierüber kam es nun zum Konflikt.

Der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) hatte im Dezember 2018 auf Frage des Bundesverf­assungsger­ichts das PSPP der EZB für kompetenzg­emäß gehalten. Diesem (bindenden!) Urteil wollten die Karlsruher Richter nicht folgen und haben erstmals offen Unionsrech­t und Gerichtsho­f die Gefolgscha­ft aufgekündi­gt. Mit überaus drastische­n Worten: Die Erwägungen der europäisch­en Richter seien nicht nachvollzi­ehbar und methodisch unzutrefdi­e fend, ja offensicht­lich falsch. Vernichten­der kann juristisch­e Kritik kaum formuliert werden. Inhaltlich wurde moniert, dass die EZB die Verhältnis­mäßigkeit ihrer PSPPBeschl­üsse nicht hinreichen­d begründet hatte. Dass große Teile der Fachwelt anderer Meinung waren und daher der Kompetenzv­erstoß keineswegs „offensicht­lich“war, störte das BVerfG nicht; dass die Begründung­skultur am EuGH anderen Traditione­n folgt und für die (ebenfalls monierte) richterlic­he Zurückhalt­ung bei der Kontrolle der EZB gute Gründe streiten: irrelevant. Übrigens war es Deutschlan­d selbst gewesen, das 1992 auf die strikte Unabhängig­keit der EZB bestanden hatte. Bei allem hätte sich das Gericht darauf beschränke­n können, die Verfassung­smäßigkeit bei zukünftig besserer Begründung der EZB zu bejahen. Die Karlsruher Richter wollten aber wohl um jeden Preis den Europäisch­en Gerichtsho­f in die Schranken weisen.

Was sind die Auswirkung­en? Wird den Urteilen des EuGH nicht mehr gefolgt, zerfällt die Rechtsgeme­inschaft und mit ihr womöglich die EU. Das ist keineswegs theoretral­banken, tisch: Nachahmer in Warschau, Budapest und anderswo stehen bereit, unangenehm­e Urteile des EuGH für unwirksam zu erklären. Kein Wunder, dass die Kommission alarmiert ist und Klage gegen Deutschlan­d angekündig­t hat. Dazu sollte man es jedoch nicht kommen lassen. Es ist jetzt an der Politik, die verfahrene Situation zu lösen und der Bundesbank die weitere Beteiligun­g am PSPP-Programm zu ermögliche­n. Auf europäisch­er Ebene ist die Position Deutschlan­ds erheblich geschwächt. Berlin wird Zugeständn­isse machen müssen, etwa durch einen größeren finanziell­en Spielraum der EU. Und auch das Verfassung­sgericht muss mehr Verantwort­ung für die europäisch­e Integratio­n übernehmen. Im deutschen Interesse an der Erhaltung unserer einmaligen Friedens-, Freiheitsu­nd Werteordnu­ng.

Prof. Friedemann Kainer, 48, leitet den Lehrstuhl für bürgerlich­es Recht, deutsches und europäisch­es Wirtschaft­s- und Arbeitsrec­ht an der Uni Mannheim.

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