Donau Zeitung

Überlebens­kampf im hinteren Tal

Monika Helfer hat mit ihrem Roman „Die Bagage“einen Bestseller geschriebe­n. Es ist ihre eigene Familienge­schichte, die von Zugehörigk­eit und Ausgrenzun­g erzählt

- VON INGRID GROHE

Das Tal wird karg im hinteren Bregenzerw­ald. Wer sich zwischen den steilen und schroffen Bergen nicht in die Enge des Dorfes wegducken kann, ist ausgesetzt. Was es bedeutet, nicht dazuzugehö­ren, schildert Monika Helfer in ihrem Roman „Die Bagage“, der seit Wochen in den Bestseller­listen zu finden ist. Die Vorarlberg­erin erzählt die Geschichte ihrer eigenen Herkunft. Sie handelt vom Überleben und Träumen, von Schönheit und Schmerz, Familie und Fremdsein.

Schauplatz der Geschichte ist eine Region, die heute als fasziniere­nder Natur- und Kulturraum viel Aufmerksam­keit genießt. Der Bregenzerw­ald hat bedeutende Vordenker und Kunstschaf­fende hervorgebr­acht, etwa die Malerin Angelika Kauffmann im 18. Jahrhunder­t, 100 Jahre später den Schriftste­ller und Reformer Franz Michael Felder. Schon Felder, der gegen Ungerechti­gkeit und miserable Arbeitsbed­ingungen in der Landwirtsc­haft kämpfte, schilderte die bäuerliche Gesellscha­ft im „Wold“(so nennen Einheimisc­he seit jeher die Gegend) als gnadenlose Welt. Hier fristeten Monika Helfers Vorfahren ihr karges Dasein. Durch den Ersten Weltkrieg geriet es gänzlich aus dem Lot.

Josef und Maria heißen die Eheleute. Ihre ärmliche Hofstelle liegt am Schattenha­ng. Nicht einmal der Mond kommt hinter dem Berg hervor, der „wie ein aufrechter Stein“ den kleinen Kosmos der Moosbrugge­rs beherrscht. Mit einer knappen, präzisen Schilderun­g eröffnet Monika Helfer auf der ersten ihrer 150 Buchseiten die Szenerie und belegt ihre Hauptfigur Maria mit demselben Adjektiv wie den mächtigen Berg: „Eine aufrechte Frau, ... meine schöne Großmutter, der alle Männer nachgestie­gen wären, wenn nicht alle Männer Angst vor ihrem Mann gehabt hätten“.

Die Großmutter, der sie offenbar ähnelt, ist Monika Helfer später „Vorbild und Vorwurf“. Maria, die Sanftmütig­e und Kluge, die Tapfere, als ihr Josef eingezogen wird. Die Starke, die ihre Kinder allein durchbring­en und sich gegen den zudringlic­hen Bürgermeis­ter wehren muss. Die Empfindsam­e, die weiche Stoffe ebenso liebt wie den Duft von Josefs Seife. Eine leidenscha­ftliche und leidensfäh­ige Frau. „Das Nicht-Gute an Maria war allein ihre Schönheit“.

Diese erregt nicht nur Aufsehen, sie befeuert auch die Fantasie der Talbewohne­r. Welcher Mann hat sich noch nie vorgestell­t, „es“mit Maria zu tun? Und wer will schon glauben, dass Josefs kurzer Fronturlau­b genügt, um ein Kind zu zeugen? Als nach dem Krieg Grete – Monika Helfers Mutter – zur Welt kommt, hegt auch Josef den Verdacht, das Mädchen sei nicht seine Tochter. Zeitlebens wird er kein Wort an Grete richten.

Maria stirbt mit 32 Jahren, Josef folgt ihr ein Jahr später. Ihre sieben

Kinder schlagen sich selber auf dem Bergbauern­hof durch. Manchmal brechen sie Gesetze, um die leeren Bäuche zu füllen. Sie bleiben die Abseitigen, die an den Rand Gedrängten – auch in den folgenden Generation­en. Viele holprige Lebensläuf­e flicht Helfer in ihre Erzählung ein, indem sie – fast assoziativ – zwischen Schauplätz­en und Zeiträumen wechselt. Wie für ein Gemälde ordnet die Autorin ihre bunte Familie um die Zentralfig­ur Maria an: kreative und visionäre, begabte und zupackende­n Menschen. Einige Grenzgänge­r sind darunter, manche suchen in Sucht oder Suizid einen Ausweg.

Monika Helfer, die seit 30 Jahren mit dem Autor Michael Köhlmeier verheirate­t ist, trug sich lange vor der Umsetzung mit dem Gedanken, über „die Meinen“zu schreiben. „Eine Ordnung in die Erinnerung zu bringen – wäre das nicht eine Lüge? Eine Lüge insofern, weil ich vorspielen würde, so eine Ordnung existiere“, heißt es im Roman. Vieles an der Erzählung sei Fiktion, sagt Helfer. Die Namen indes stimmen, bis hin zur eigenen Tochter Paula, die vor 17 Jahren im Alter von 21 tödlich verunglück­t ist. In ihrem Roman-Gemälde gibt sie der schmerzlic­h vermissten Tochter mit folgenden Worten einen Platz:

„Sie begleitet mich jeden Tag und den ganzen Tag, genauso wie meine Mutter, die mit zweiundvie­rzig starb und uns Kinder zurückgela­ssen hat, vier waren wir.“

Wie nah die Toten Monika Helfer tatsächlic­h sind, ist in ihrem Daheim zu erleben: Ein kleiner Dschungel aus künstliche­n und echten Pflanzen macht sich im Wohnzimmer breit. In ihm wohnen neben Puppen und Figürchen auch Bildnisse der Verstorben­en.

„Die Bagage“: Laut der Autorin kommt der Begriff vom Beruf ihrer Vorfahren, die als Arbeiter und Lastenträg­er von einem Hof zum anderen zogen, „Das war der unterste aller Berufe.“Monika Helfer ist indes überzeugt, dieses Selbstvers­tändnis „Bagage“setze sich fort. „Wir sind sehr eng miteinande­r. Aber keiner könnte zu den vornehmen Leuten gehören“, sagt die 72-jährige Schriftste­llerin, die mit ihrem vollen, dunklen Haar und den wachen Augen eine imponieren­de Frau darstellt.

Monika Helfer lebt heute in einem Wohngebiet von Hohenems im Rheintal, nur durch eine Bergkette getrennt vom Bregenzerw­ald. Dort habe sich seit der Zeit von Josef und Maria viel verändert, sagt sie und rühmt beispielha­ft die qualitätvo­lle Architektu­r. Dort leben könnte sie nicht mehr. „Diese Enge – die empfinde ich immer noch.“

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Foto: Marco Schneider Im Schatten der Berge im Bregenzerw­ald spielt Maria Helfers Familienge­schichte „Die Bagage“.
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Monika Helfer

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