Gustave Flaubert: Frau Bovary (70)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Emma hatte eine Menge Schuhzeug in ihrem Schranke, sie trieb damit eine wahre Verschwendung, aber Karl wagte nicht den geringsten Einwand dagegen.
So gab er auch dreihundert Franken für ein hölzernes Bein aus, das Hippolyt ihrer Ansicht nach geschenkt bekommen müsse. Die Fläche, mit der es anlag, war mit Kork überzogen. Es hatte Kugelgelenke und eine komplizierte Mechanik. Hose und Schuh verdeckten es vollkommen. Hippolyt wagte es indessen nicht in den Alltagsgebrauch zu nehmen und bat Frau Bovary, ihm noch ein anderes, einfacheres zu besorgen. Wohl oder übel mußte der Arzt auch diese Ausgabe tragen. Nun konnte der Hausknecht von neuem seinem Berufe nachgehen. Wie ehedem sah man ihn wieder durch den Ort humpeln. Wenn Karl von weitem den harten Anschlag des Stelzfußes auf dem Pflaster vernahm, schlug er schnell einen anderen Weg ein.
Lheureux, der Modewarenhändler,
hatte das Holzbein besorgt. Das gab ihm Gelegenheit, Emma häufig aufzusuchen. Er plauderte mit ihr über die neuesten Pariser Moden und über tausend Dinge, die Frauen interessieren. Dabei war er immer äußerst gefällig und forderte niemals bare Bezahlung. Alle Launen und Einfälle Emmas wurden im Handumdrehen befriedigt. Einmal wollte sie Rudolf einen sehr schönen Reitstock schenken, den sie in Rouen in einem Schirmgeschäft gesehen hatte. Eine Woche später legte Lheureux ihn ihr auf den Tisch. Am folgenden Tage aber überreichte er ihr eine Rechnung im Gesamtbetrage von zweihundertundsiebzig Franken und so und soviel Centimes. Emma war in der gröbsten Verlegenheit. Die Kasse war leer. Lestiboudois hatte noch Lohn für vierzehn Tage zu bekommen, Felicie für acht Monate. Dazu kam noch eine Menge andrer Schulden. Bovary wartete schon mit Schmerzen auf den Eingang des Honorars von Herrn Derozerays, das alljährlich gegen Ende Oktober einzugehen pflegte.
Ein paar Tage gelang es ihr, Lheureux zu vertrösten. Dann verlor er aber die Geduld. Man dränge auch ihn, er brauche Geld, und wenn er nicht alsbald welches von ihr bekäme, müsse er ihr alles wieder abnehmen, was er ihr geliefert habe.
„Gut!“meinte Emma. „Holen Sie sichs!“
„Ach was! Das hab ich nur so gesagt!“entgegnete er. „Indessen um den Reitstock tuts mir wirklich leid! Bei Gott, den werd ich mir vom Herrn Doktor zurückgeben lassen!“„Um Gottes willen!“rief sie aus. „Warte nur! Dich hab ich!“dachte Lheureux bei sich.
Jetzt war er seiner Vermutung sicher. Indem er sich entfernte, lispelte er in seinem gewohnten Flüstertone vor sich hin:
„Na, wir werden ja sehen! Wir werden ja sehen!“
Frau Bovary grübelte gerade darüber nach, wie sie diese Geschichte in Ordnung bringen könne, da kam das Mädchen und legte eine kleine in blaues Papier verpackte Geldrolle auf den Kamin. Eine Empfehlung von Herrn Derozerays. Emma sprang auf und brach die Rolle auf. Es waren dreihundert Franken in Napoleons, das schuldige Honorar. Karls Tritte wurden draußen auf der Treppe hörbar. Sie legte das Gold rasch in die Schublade und steckte den Schlüssel ein.
Drei Tage darauf erschien Lheureux abermals.
„Ich möchte Ihnen einen Vergleich vorschlagen“, sagte er. „Wollen Sie mir nicht statt des baren Geldes lieber …“
„Hier haben Sie Ihr Geld!“unterbrach sie ihn und zählte ihm vierzehn Goldstücke in die Hand.
Der Kaufmann war verblüfft. Um seine Enttäuschung zu verbergen, brachte er endlose Entschuldigungen vor und bot Emma alle möglichen Dienste an, die sie allesamt ablehnte. Eine Weile stand sie dann noch nachdenklich da und klimperte mit dem Kleingeld, das sie wieder herausbekommen und in die Tasche ihrer Schürze gesteckt hatte. Sie nahm sich vor, tüchtig zu sparen, damit sie recht bald …
„Was ist da weiter dabei?“beruhigte sie sich. „Er wird nicht gleich dran denken!“
Außer dem Reitstocke mit dem vergoldeten Silbergriffe hatte Rudolf auch noch ein Petschaft von ihr geschenkt bekommen, mit dem Wahlspruch: Amor nel Cor! (Liebe im Herzen!), fernerhin ein seidenes Halstuch und eine Zigarrentasche, zu der sie als Muster die Tasche genommen hatte, die Karl damals auf der Landstraße gefunden hatte, als sie vom Schlosse Vaubyessard heimfuhren. Emma hatte sie sorglich aufbewahrt. Rudolf nahm diese Geschenke erst nach langem Sträuben. Sie waren ihm peinlich. Aber Emma drang in ihn, und so mußte er sich schließlich fügen. Er fand das aufdringlich und höchst rücksichtslos. Sie hatte wunderliche Einfälle. „Wenn es Mitternacht schlägt,“bat sie ihn einmal, „mußt du an mich denken!“
Als er hinterher gestand, er habe es vergessen, bekam er endlose Vorwürfe zu hören, die alle in die Worte ausklangen:
„Du liebst mich nicht mehr!“„Ich dich nicht mehr lieben?“„Über alles?“„Natürlich!“
„Hast du auch vor mir nie eine andre geliebt, sag?“
„Glaubst du, ich hätte meine Unschuld bei dir verloren?“brach er lachend aus.
Sie fing an zu weinen, und Rudolf vermochte sie nur mit viel Mühe zu beruhigen, indem er seine Worte durch allerlei Scherze zu mildern suchte.
„Ach, du weißt gar nicht, wie ich dich liebe!“begann sie von neuem. „Ich liebe dich so sehr, daß ich nicht von dir lassen kann! Verstehst du das? Manchmal habe ich solche Sehnsucht, dich zu sehen, und dann springt mir beinahe das Herz vor lauter Liebe! Ich frage mich: wo ist er? Vielleicht spricht er mit andern Frauen? Sie lächeln ihm zu. Er macht ihnen den Hof… Ach nein; nicht wahr, es gefällt dir keine? Es gibt ja schönere als ich, aber keine kann dich so lieben wie ich! Ich bin deine Magd, deine Liebste! Und du bist mein Herr, mein Gott! Du bist so gut! So schön! So klug und stark!“
Dergleichen hatte er in seinem Leben schon so oft gehört, daß es ihm ganz und gar nichts Neues mehr war. Emma war darin nicht anders als alle seine früheren Geliebten, und der Reiz der Neuheit fiel Stück um Stück von ihr ab wie ein Gewand, und das ewige Einerlei der sinnlichen Leidenschaft trat nackt zutage, die immer dieselbe Gestalt, immer dieselbe Sprache hat. Er war ein vielerfahrener Mann, aber er ahnte nicht, daß unter den nämlichen Ausdrucksformen himmelweit voneinander verschiedene Gefühlsarten existieren können. Weil ihm die Lippen liederlicher oder käuflicher Frauenzimmer schon die gleichen Phrasen zugeflüstert hatten, war sein Glaube an die Aufrichtigkeit einer Frau wie dieser nur schwach.
„Man darf die überschwenglichen Worte nicht gelten lassen,“sagte er sich, „sie sind nur ein Mäntelchen für Alltagsempfindungen.“