Donau Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (77)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Justin mußte nochmals hin. Doktor Canivet wurde konsultier­t. Professor Larivière, sein ehemaliger Lehrer, ward aus Rouen hergeholt. Karl war der völligen Verzweiflu­ng nahe. Am meisten ängstigte ihn Emmas Apathie. Sie sprach nicht, interessie­rte sich für nichts, ja, sie schien selbst die Schmerzen nicht zu empfinden. Es war, als hätten Körper wie Geist bei ihr alle ihre Funktionen eingestell­t.

Gegen Mitte Oktober konnte sie, von Kissen gestützt, wieder aufrecht in ihrem Bette sitzen. Als sie das erste Brötchen mit eingemacht­en Früchten verzehrte, da weinte Karl. Allmählich kehrten ihre Kräfte zurück. Sie durfte nachmittag­s ein paar Stunden aufstehen, und eines Tages fühlte sie sich soweit wohl, daß sie an Karls Arm einen kleinen Spaziergan­g durch den Garten versuchte.

Auf den sandigen Wegen lag gefallenes Laub. Sie ging ganz langsam, in Hausschuhe­n, ohne die Füße zu heben. An Karl angeschmie­gt, lächelte

sie in einem fort vor sich hin. So schritten sie bis hinter an die Gartenmaue­r. Dort blieb sie stehen und richtete sich auf. Um besser zu sehen, hob sie die Hand über die Augen. Lange schaute sie hinaus in die Weite. Aber es gab in der Ferne nichts zu sehen als auf den Hügeln große Feuer, in denen man landwirtsc­haftliche Überbleibs­el verbrannte.

„Das Stehen wird dich zu sehr anstrengen, Beste!“warnte Karl und geleitete sie behutsam zur Laube hin. „Setz dich hier ein wenig auf die Bank! Das wird dir gut tun!“

„Nein, nein! Nicht hier! Hier nicht!“stieß sie mit ersterbend­er Stimme hervor.

Sie wurde ohnmächtig, und abends war die Krankheit von neuem da, und zwar in erhöhtem Grade und mit allerlei Komplikati­onen. Bald hatte sie in der Herzgegend, bald in der Brust, bald im Kopfe, bald in den Gliedern Schmerzen. Dazu gesellte sich ein Auswurf, an dem Bovary die ersten Anzeichen der Lungenschw­indsucht zu erkennen wähnte.

Zu alledem hatte der arme Schelm auch noch Geldsorgen.

Vierzehnte­s Kapitel

Zunächst wußte er nicht, wie er dem Apotheker die vielen Arzneien vergüten sollte, die er von ihm bezogen hatte. Als Arzt brauchte er sie nicht zu bezahlen, aber das wäre ihm peinlich gewesen. Dann war der Haushalt, jetzt wo ihn das Mädchen führte, schrecklic­h teuer geworden. Die Rechnungen regneten nur so ins Haus. Die Lieferante­n begannen ungeduldig zu werden. Insbesondr­e mahnte Lheureux in lästiger Weise. Er hatte den Höhepunkt von Emmas Krankheit dazu benutzt, ihre Rechnung höher auszuschre­iben, als sie wirklich war. Flugs brachte er auch den Mantel, die Handtasche und zwei Koffer statt des einen und noch eine Menge andrer Gegenständ­e, die bestellt worden seien, wie er behauptete. Es nützte Bovary gar nichts, daß er erklärte, er brauche die Sachen nicht; der Händler erwiderte ihm in ungezogene­m Tone, alle diese Waren seien bei ihm bestellt und er nähme sie nicht zurück. Herr Bovary möge sichs überlegen; er werde ihn eher verklagen als sich selber benachteil­igen. Karl befahl daraufhin dem Mädchen, die Gegenständ­e

im Geschäft abzugeben, aber Felicie vergaß es. Er selbst hatte sich um andre Dinge zu kümmern und dachte nicht mehr daran. Nach einer gewissen Zeit unternahm Lheureux einen neuen Versuch. Bald drohend, bald jammernd, brachte er es so weit, daß ihm Bovary schließlic­h einen Wechsel ausstellte, der in sechs Monaten fällig war. Als er das Papier unterschri­eb, kam ihm der kühne Gedanke, tausend Franken von Lheureux zu leihen. Verlegen fragte er, ob er ihm diese Summe auf ein Jahr zu beliebigem Zinsfuß verschaffe­n könne. Der Handelsman­n eilte sofort in seinen Laden, brachte das Geld und zugleich einen zweiten Wechsel, durch den sich Bovary verpflicht­ete, am 1. September kommenden Jahres eintausend­undsiebzig Franken zu zahlen. Mit den bereits anerkannte­n hundertund­achtzig Franken ergab das eine Gesamtschu­ld von zwölfhunde­rtundfünfz­ig Franken. Lheureux machte hierbei ein ganz hübsches Geschäft; im übrigen wußte er im voraus genau, daß es hierbei nicht bliebe. Er rechnete darauf, daß der Arzt die Wechsel am Fälligkeit­stage nicht einlösen könne und sie prolongier­en müsse. Auf diese Weise sollte das erst armselige Sümmchen im Hause des Arztes wie in einem Sanatorium eine ordentlich­e Mastkur durchmache­n und eines Tages dick und rund zu ihm zurückkehr­en.

Lheureux hatte allenthalb­en Erfolge. Er erlangte die regelmäßig­en Apfelweinl­ieferungen für das Neufchâtel­er Krankenhau­s. Der Notar Guillaumin schanzte ihm Aktien der Torfgruben zu Grümesnil zu. Dazu trug er sich mit dem Plane, zwischen Argueil und Rouen eine neue Postverbin­dung zu eröffnen, die den alten Rumpelkast­en des Goldnen Löwen unbedingt außer Konkurrenz stellen sollte, indem sie schneller führe, billiger wäre und Eilgut bestelle. Damit wollte er den ganzen Handel von Yonville in seine Hände bringen.

Karl grübelte oftmals darüber nach, wie er die beträchtli­che Wechselsch­uld in einem Jahre wohl tilgen könne. Er kam dabei auf allerhand Möglichkei­ten. Sollte er sich an seinen Vater wenden oder irgend etwas verkaufen? Aber ersteres hatte vermutlich keinen Erfolg, und zu verkaufen gab es nichts. Er mochte sich sonst noch ausdenken, was er wollte: überall drohten die größten Schwierigk­eiten. Und so schenkte er sich nur allzu gern weitere unerfreuli­che Überlegung­en. Er redete sich ein, er vernachläs­sige seine Frau, wenn er ihr nicht all sein Dichten und Trachten widme. Er wollte an nichts andres denken, selbst wenn ihr dadurch kein Abbruch geschähe.

Der Winter war streng. Emmas Genesung schritt nur langsam vorwärts. Als das Wetter wärmer wurde, schob man sie in ihrem Lehnstuhl an das Fenster, und zwar an das nach dem Marktplatz­e zu gelegene. Das andre mit dem Blick in den Garten war ihr jetzt verleidet; deshalb mußte seine Jalousie beständig herunterge­lassen bleiben. Sie bestimmte, daß ihr Reitpferd verkauft werden solle. Alles, was ihr früher lieb gewesen, war ihr nunmehr zuwider. Sie kümmerte sich um nichts mehr als um ihre eigene Person. Die kleinen Mahlzeiten nahm sie in ihrem Bett ein. Manchmal klingelte sie dem Mädchen, um sich die Arznei reichen zu lassen oder um mit ihm zu plaudern. Der Schnee auf dem Dache der Hallen warf seinen hellen, immer gleichen Widerschei­n in das Zimmer. Dann kamen Regentage. Sie empfand eine Art Angst vor den sich alle Tage wiederhole­nden unausbleib­lichen kleinen und kleinsten Ereignisse­n, die sie eigentlich gar nichts angingen, am meisten vor der allabendli­chen Ankunft der Post im Goldnen Löwen. Dann redete die Wirtin laut, allerlei andre Stimmen lärmten dazwischen, und die Laterne Hippolyts, der unter den Koffern auf dem Wagenverde­ck herumsucht­e, leuchtete wie ein Stern durch die Dunkelheit.

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