„Das einzig Interessante ist, zu leben“
Demütigung und Misstrauen. Gegen die siebenhundertsechzig Kilometer lange Mauer, die Israelis und Palästinenser trennt, rennt McCann in einer Kaskade von Wörtern an. „Die Sperrmauer. Auch bekannt als die Sperranlagen. Auch bekannt als der Sperrzaun. Auch bekannt als die Sicherheitsanlagen, die Sicherheitsmauer, der Sicherheitszaun. Auch bekannt als die Apartheidsmauer, die Friedensmauer, die Isolationsmauer, die Schandmauer, die WestBank-Mauer, die Herrschaftsmauer, die Annexionsmauer…“Schier unerschöpflich ist McCanns Füllhorn der Geschichten, die dem Roman
Gabe des Menschen“, wie es im Untertitel gleichsam werbend weiter heißt. Die gegenüber der Geschichte Polens kritischen „Jakobsbücher“brachten der Autorin – neben der Stockholmer Auszeichnung – auch Gewaltandrohungen aus dem Heimatland ein.
Beherrscht Olga Tokarczuk, Jahrgang 1962, auch meisterlich die Großform des Bildungsromans, so ist sie doch seit vielen Jahren auch eine Virtuosin der Kleinform, also der Erzählungen und Kurzgeschichten, die Miniaturkrimi-Züge tragen können – darstellend quasi Satelliten ihres verfilmten Krimi-PersiflageRomans „Der Gesang der Fledermäuse“(2009).
Drei weitere Werke schon hat Olga Tokarczuk nach den „Jakobsbüchern“herausgebracht, darunter nun auf deutsch „Die grünen Kinder“– zehn ausgewiesen bizarre Geschichten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – freundlich, beiläufig niedergeschrieben. Dann
eine welthaltige Tiefe und Verwurzelung geben. Alles hängt mit allem zusammen: Der Roman erzählt von den Millionen Zugvögeln, die alljährlich Bait Dschala überqueren, den Ort im Westjordanland, wo Bassam aufwuchs. Um dann im nächsten Fragment von einem surrealen Abendmahl zu erzählen, das Frankreichs Präsident Mitterrand acht Tage vor seinem Tod zelebrierte, als er für ihn gefangene und gemästete Ortolane, winzige Singvögel, ganz verspeiste, samt „der winzigen Schädelknochen, die zwischen seinen Zähnen knirschten“. Mitterrands Bemerkung, „Das einzig Interessante ist, zu leben“, wiederholt McCann immer wieder in seinem Roman, der kunstvoll die Balance hält zwischen erzählerischem Ton und lexikalischer Nüchternheit.
Alles hängt mit allem zusammen, aus einer Geschichte entsteht eine andere: „Smadar wurde im Hadassah-Krankenhaus geboren. Wo Abir starb.“Und die Generation der Geschwister steht irgendwann gemeinsam für die Versöhnung auf der Bühne. Jigal, der fünf war, als seine Schwester Smadar starb. Und Arab, der vierzehn war, als Abir umkam. Colum McCann findet mit seinem fragmentarischen Erzählen immer neue Ebenen und Lesarten – hinter allem deckt er Geschichten auf, die verblüffend und erhellend zeigen, dass es keine simplen Wahrheiten und schlichten Kausalketten gibt. Ob er davon schreibt, dass Pflanzen wimmernde Laute ausstoßen, wenn man ihre Blätter abschneidet, oder vom Mord an dem palästinensischen Dichter Abdel Wael Zwaiter erzählt, den Mossad-Agenten in Rom erschossen (die Kugel ging durch ein Buch mit Smadars Lieblingsmärchen) – Colum McCanns Roman ist ein Kunstwerk, das 1001 Echos folgt. freilich erschrecken den Leser immer wieder die planvoll eingestreuten Sarkasmen und Todesverweise…
Zu lesen ist langsam und genau, kombinierend und deutend – wie in jedem anderen literarischen Krimi auch. Die Hintergründe und Kausalitäten im Erzählfluss sind genauso zu erschließen wie Sinnhaftigkeit und sublim verpackte Moral. Bloß keine 1:1-Schilderung, bloß kein aufdringlich erhobener Finger! Das zeichnet Tokarczuk aus.
Wie sich die jahrzehntelang unterdrückte und ausgenutzte Mutter an ihrem nichtsnutzigen Sohnemann posthum rächt – Gottes Mühlen mahlen langsam –, entwickelt sich auf acht Seiten trefflich fein („Eingemachtes“). Wie sich mithilfe von Wissenschaft und Zukunftstechnik eine Frau wunschgemäß in einen Wolf verwandelt, entwirft Tokarczuk auf 25 Seiten dunkel-dräuend („Transfugium“). Wie die Kinder und Jugendlichen eines polnischen
Annie Ernaux: Die Scham A. d. Franzöischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 110 Seiten, 18 Euro