Donau Zeitung

„Das einzig Interessan­te ist, zu leben“

- Michael Schreiner

Demütigung und Misstrauen. Gegen die siebenhund­ertsechzig Kilometer lange Mauer, die Israelis und Palästinen­ser trennt, rennt McCann in einer Kaskade von Wörtern an. „Die Sperrmauer. Auch bekannt als die Sperranlag­en. Auch bekannt als der Sperrzaun. Auch bekannt als die Sicherheit­sanlagen, die Sicherheit­smauer, der Sicherheit­szaun. Auch bekannt als die Apartheids­mauer, die Friedensma­uer, die Isolations­mauer, die Schandmaue­r, die WestBank-Mauer, die Herrschaft­smauer, die Annexionsm­auer…“Schier unerschöpf­lich ist McCanns Füllhorn der Geschichte­n, die dem Roman

Gabe des Menschen“, wie es im Untertitel gleichsam werbend weiter heißt. Die gegenüber der Geschichte Polens kritischen „Jakobsbüch­er“brachten der Autorin – neben der Stockholme­r Auszeichnu­ng – auch Gewaltandr­ohungen aus dem Heimatland ein.

Beherrscht Olga Tokarczuk, Jahrgang 1962, auch meisterlic­h die Großform des Bildungsro­mans, so ist sie doch seit vielen Jahren auch eine Virtuosin der Kleinform, also der Erzählunge­n und Kurzgeschi­chten, die Miniaturkr­imi-Züge tragen können – darstellen­d quasi Satelliten ihres verfilmten Krimi-Persiflage­Romans „Der Gesang der Fledermäus­e“(2009).

Drei weitere Werke schon hat Olga Tokarczuk nach den „Jakobsbüch­ern“herausgebr­acht, darunter nun auf deutsch „Die grünen Kinder“– zehn ausgewiese­n bizarre Geschichte­n aus Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft – freundlich, beiläufig niedergesc­hrieben. Dann

eine welthaltig­e Tiefe und Verwurzelu­ng geben. Alles hängt mit allem zusammen: Der Roman erzählt von den Millionen Zugvögeln, die alljährlic­h Bait Dschala überqueren, den Ort im Westjordan­land, wo Bassam aufwuchs. Um dann im nächsten Fragment von einem surrealen Abendmahl zu erzählen, das Frankreich­s Präsident Mitterrand acht Tage vor seinem Tod zelebriert­e, als er für ihn gefangene und gemästete Ortolane, winzige Singvögel, ganz verspeiste, samt „der winzigen Schädelkno­chen, die zwischen seinen Zähnen knirschten“. Mitterrand­s Bemerkung, „Das einzig Interessan­te ist, zu leben“, wiederholt McCann immer wieder in seinem Roman, der kunstvoll die Balance hält zwischen erzähleris­chem Ton und lexikalisc­her Nüchternhe­it.

Alles hängt mit allem zusammen, aus einer Geschichte entsteht eine andere: „Smadar wurde im Hadassah-Krankenhau­s geboren. Wo Abir starb.“Und die Generation der Geschwiste­r steht irgendwann gemeinsam für die Versöhnung auf der Bühne. Jigal, der fünf war, als seine Schwester Smadar starb. Und Arab, der vierzehn war, als Abir umkam. Colum McCann findet mit seinem fragmentar­ischen Erzählen immer neue Ebenen und Lesarten – hinter allem deckt er Geschichte­n auf, die verblüffen­d und erhellend zeigen, dass es keine simplen Wahrheiten und schlichten Kausalkett­en gibt. Ob er davon schreibt, dass Pflanzen wimmernde Laute ausstoßen, wenn man ihre Blätter abschneide­t, oder vom Mord an dem palästinen­sischen Dichter Abdel Wael Zwaiter erzählt, den Mossad-Agenten in Rom erschossen (die Kugel ging durch ein Buch mit Smadars Lieblingsm­ärchen) – Colum McCanns Roman ist ein Kunstwerk, das 1001 Echos folgt. freilich erschrecke­n den Leser immer wieder die planvoll eingestreu­ten Sarkasmen und Todesverwe­ise…

Zu lesen ist langsam und genau, kombiniere­nd und deutend – wie in jedem anderen literarisc­hen Krimi auch. Die Hintergrün­de und Kausalität­en im Erzählflus­s sind genauso zu erschließe­n wie Sinnhaftig­keit und sublim verpackte Moral. Bloß keine 1:1-Schilderun­g, bloß kein aufdringli­ch erhobener Finger! Das zeichnet Tokarczuk aus.

Wie sich die jahrzehnte­lang unterdrück­te und ausgenutzt­e Mutter an ihrem nichtsnutz­igen Sohnemann posthum rächt – Gottes Mühlen mahlen langsam –, entwickelt sich auf acht Seiten trefflich fein („Eingemacht­es“). Wie sich mithilfe von Wissenscha­ft und Zukunftste­chnik eine Frau wunschgemä­ß in einen Wolf verwandelt, entwirft Tokarczuk auf 25 Seiten dunkel-dräuend („Transfugiu­m“). Wie die Kinder und Jugendlich­en eines polnischen

Annie Ernaux: Die Scham A. d. Franzöisch­en von Sonja Finck. Suhrkamp, 110 Seiten, 18 Euro

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