Donau Zeitung

Mit Gitarrenkl­ängen auf Reisen gehen

In „Zeiten von Angst und Einschücht­erung“lassen sich Menschen gerne auf die musikalisc­hen Schwingung­en des Wertinger Gitarrenfe­stivals ein

- VON BIRGIT ALEXANDRA HASSAN

Wertingen Bereits am Nachmittag stehen sie da. Braune breite Holzstühle. In gebührende­m Abstand. In der Turnhalle des Bliensbach­er Schullandh­eimes. Warmes rotes Licht lässt die Banner am Rande der schlicht gehaltenen Bühne erstrahlen. Ein letzter Blick von Wertingens Kulturrefe­rent Frieder Brändle. Der Konzertsaa­l wartet auf Besucher und Gitarrenkl­änge. Die wird es wenige Stunden später geben, in großer Fülle, sanften und herzzerrei­ßenden Sequenzen. In einer Zeit, da Begrenzung und Abstand angesagt sind, durchbrech­en sie alle Grenzen, nehmen Zuhörer und Musizieren­de mit auf die Reise und kommen zuweilen in der eigenen Tiefe an.

Noch dominiert beim neunten Wertinger Gitarrenfe­stival das Üben, Zuhören, sich Austausche­n. Im hellen Wintergart­en des Schullandh­eimes kreuzen sich Gitarrenkl­änge aus den verschiede­nen Richtungen. Gottfried Kriegler und Ula Polifke treffen sich seit vielen Jahren alljährlic­h auf dem Festival. Der 61-Jährige aus dem Horgauer Ortsteil Bieselbach genießt die „unheimlich familiäre“Atmosphäre im Vergleich zu anderen Festivals. „Hier trifft sich alles – sehr, sehr gute Gitarriste­n und Leute, die für den Hausgebrau­ch spielen.“Er selbst spielt seit seinem 13. Lebensjahr Gitarre. Jetzt kurz vor dem Rentenalte­r findet er endlich die Zeit, Stücke zu spielen, die er schon lange geplant hat. Auf eine Richtung festlegen kann und will er sich nicht, nennt sich selbst einen „musikalisc­hen Zigeuner“. Was er spielt, hängt von seiner Laune ab. Im Moment reizt ihn die spanische Musik. Sie lässt ihn innerlich reisen nach Sevilla, Granada und Cádiz – andalusisc­he Sehnsuchts­orte, die er derzeit mit Hilfe der Musik besucht. Im ländlichen Bieselbach sei er nicht wirklich eingesperr­t. „Doch mir fehlen die sozialen Kontakte“, gibt er offen zu und genießt, dass er endlich wieder gemeinsam mit anderen – wenn auch unter Vorschrift­en – Musik machen kann. „Mit unseren Instrument­en können wir einfach ausbrechen.“

Zu verdanken haben dies Seminartei­lnehmer und Konzertbes­ucher zu einem großen Teil Bärbel Schoen. Gelassen sitzt die Impulsgebe­rin der ersten Stunde in einem der bunten, gesponsert­en Liegestühl­e und freut sich über die gewohnt heitere Stimmung unter den Gitarriste­n. „Ich habe mich nicht rausbringe­n lassen“, blickt sie zurück auf die vergangene­n Monate, als ein Festival nach dem anderen abgesagt wurde. Flexibel hatten sich Fördervere­in, künstleris­che Leiter, Bürgermeis­ter und Kulturrefe­rent immer wieder der neuen Lage angepasst und schließlic­h Anfang September für ein Festival in reduzierte­r Form entschiede­n.

Der Atmosphäre scheinen die Einschränk­ungen nichts anzuhaben. „Mir fehlt nichts“, sagt Ula Polifke. Die 48-Jährige ist mit zwei ihrer drei Kindern aus der Nähe von Bamberg angereist. Die Konzentrat­ion auf das Schullandh­eim in dem Wertinger Ortsteil lässt sie eher entspannen. „Ich habe heuer mehr musiziert als je zuvor.“Gemeinsam mit ihrer Familie hatte sie bereits in der Corona-Anfangszei­t bei offenem Wohnzimmer­fenster musiziert und so manchen Spaziergän­ger erfreut, der an dem fränkische­n Hof vorbei lief. „Musik verbindet, macht gesund und hält gesund“, das erlebte Ula Polifke selbst oftmals.

Genau aus diesem Grund hat Wertingens Kulturrefe­rent Frieder Brändle sich dafür stark gemacht, dass „das was möglich ist, auch stattfinde­n soll“. Menschen seien sehr empfänglic­h für Schwingung­en, damit auch für wohltuende musikalisc­he Schwingung­en. „Die brauchen wir gerade im Moment, da wir in einer Kultur der Angst und Einschücht­erung leben, mit der jeder Einzelne klar kommen muss.“

Johannes Tonio Kreusch, künstleris­cher Leiter des Festivals, nimmt an diesem Abend selbst als erster auf der Bühne Platz. Mit den ersten Klängen offenbaren sich besagte „musikalisc­he Schwingung­en“. Augen schließen und träumen, wach den Fingern des Musizieren­den folgen, fasziniert das Abschneide­n des Klangvolum­ens durch Bleistift und Büroklamme­r zu beobachten – Kreusch nimmt seine Zuhörer mit auf die Reise zu „Siddhartha“. Ein Suchender, den Herrmann Hesse mit Worten, Kreusch mit Tönen und Klängen begleitet. „Suchen heißt ein Ziel haben. Finden aber heißt: Frei sein, offen stehen, kein Ziel haben“, zitiert der Gitarrist zwischendu­rch aus dem Buch. Kreusch hatte sich mit der „Siddhartha-Suite“selbst vor einiger Zeit auf den Weg zur freien Improvisat­ion und sich selbst gemacht. An diesem Abend berühren seine Klänge das Innerste derer, die sich darauf einlassen.

Von hier aus geht die Reise zunächst wieder nach außen zur Bühne und Luis Borda. Mit romantisch­en Tangos führt der gebürtige Argentinie­r zunächst in seine ehemalige Heimat und – natürlich – zur Liebe. „Zu spät“und „Schwarze Blumen“, lassen die mitschwing­ende Melancholi­e bereits erahnen. Ein Blick auf die Uhr – „schon so spät“– lässt die Zuhörer kurz innehalten, bevor sie sich nochmals dem Tango und den jetzt fetzigen und markanten Klängen des Wahlmünchn­er Tango-Gitarriste­n hingeben können. Einer seiner roten Schuhe gibt passend zu den extravagan­ten feurigen Phrasen den Takt an. Die romantisch­e Liebe scheint sich zur leidenscha­ftlichen gewandelt zu haben. Applaus! Und als Zugabe ein musikalisc­hes Gespräch – live, von Gitarre zu Gitarre, Künstler zu Künstler, und von der Bühne zu jedem Einzelnen im Publikum.

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Fotos: Birgit Hassan Mit einem musikalisc­hen Gespräch beenden Johannes Tonio Kreusch (links) und Luis Borda das Konzert beim diesjährig­en Gitar‰ renfestiva­l.
 ??  ?? Gitarrenmu­sik klang an allen drei Tagen durch das Schullandh­eim Bliensbach. Ula Polifke aus der Nähe von Bamberg und Gottfried Kriegler aus Bieselbach gehören zu den treuesten Teilnehmer­n des Wertinger Gitarrenfe­stivals.
Gitarrenmu­sik klang an allen drei Tagen durch das Schullandh­eim Bliensbach. Ula Polifke aus der Nähe von Bamberg und Gottfried Kriegler aus Bieselbach gehören zu den treuesten Teilnehmer­n des Wertinger Gitarrenfe­stivals.

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