Donau Zeitung

„In Dillingen brauche ich keine Uhr“

Ulrich Gutmair ist Kulturreda­kteur in Berlin und ein erfolgreic­her Buchautor. Einige tausend Mal wurde sein Erstwerk „Die ersten Tage von Berlin“internatio­nal verkauft. Geboren und aufgewachs­en ist er in der Kreisstadt

- VON SIMONE BRONNHUBER

Berlin/Dillingen Seit mehr als 20 Jahren schreibt Ulrich Gutmair für Zeitungen und Magazine. Seit 2007 ist er Redakteur bei der taz – einer deutschen, überregion­alen Tageszeitu­ng in Berlin. Er ist dort für die Berlinkult­urseite verantwort­lich, schreibt über Literatur, Sachbücher und Musik. Wer seinen Namen googelt, der stößt auch schnell auf etwas anderes: Gutmair ist Buchautor. „Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende“ist sein Erstwerk, das 2013 herausgege­ben und seither mehrere tausend Mal verkauft wurde. Jetzt, 30 Jahre nach dem Mauerfall, ist es aktueller denn je.

Das Buch steht mittlerwei­le bei vielen Menschen im Regal. Vermutlich auch bei vielen im Landkreis Dillingen. Denn selbst wenn Ulrich Gutmair sich mittlerwei­le als Berliner bezeichnen würde, so hat er seine Wurzeln in Dillingen. Dort ist er 1968 geboren. Seine Eltern leben seit jeher in der Großen Kreisstadt, der Journalist hat Verwandtsc­haft in „Frischding­a“, wie er erzählt. Immer wieder ist er auf Heimatbesu­ch und hat bei den Dillinger Kulturtage­n sein Buch bereits vorgestell­t. Im Interview verrät Gutmair nicht nur, was ihm das Buch bedeutet und wie es entstanden ist. Er verrät zudem, worauf er sich freut, wenn er „zu Hause“in Dillingen ist.

30 Jahre Deutsche Einheit. Was bedeutet das für Sie persönlich? Gutmair: Ich habe die Wiedervere­inigung, die im Grunde direkt nach dem Mauerfall begonnen hat, in Berlin miterlebt. Mich wundert,

eine Mehrheit der Ostdeutsch­en heute sagt, in der DDR sei der soziale Zusammenha­lt größer gewesen. Das ist kurios in einem Land, in dem die Ehefrau ihren Mann bespitzelt und der Staat darüber entschiede­n hat, wer Bücher schreiben und wer mit seiner Band auftreten darf.

Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Gutmair: Ich bin 1989 zum Studieren nach Westberlin gezogen. München war mir zu nah. Ich kannte ein paar Leute, die bereits in Berlin lebten. Erst habe ich bei einem Freund, der aus Heidenheim stammt, gewohnt. Später in einer WG in Neukölln und dann in der ersten eigenen Wohnung in Prenzlauer Berg, also Ost-Berlin. Sie stand leer, eine Freundin hat sie besetzt, so hat man das gemacht. Wir haben aber sofort Miete bezahlt und drei Monate später hatten wir einen Mietvertra­g. Tagsüber war ich brav studieren im Westen der Stadt. Nachts habe ich mir angeschaut, was in Ost-Berlin so los ist.

Was war da los, aus Ihrer Sicht? Gutmair: Berlin-Mitte lag 1990 noch in der DDR, und da gab es jetzt mehr Freiraum als im Westen. Leute haben Häuser besetzt, Galerien, Bars und Clubs eröffnet. Das Jahr 1990 war geprägt von ständigen Demonstrat­ionen, Technopart­ys und Kunstaktio­nen. Ich hatte das Gefühl, an einem der interessan­testen Orte überhaupt zu leben. Aber wir haben auch gesehen, wie schnell sich alles verändert hat.

Mit diesem Wandel beschäftig­en Sie sich auch in Ihrem Buch.

Gutmair: Ja. Nach fünf, sechs Jahren nach dem Mauerfall war schon vieles anders. Als Erstes kamen die bunte Zigaretten-Reklame und der grüne Kunstrasen ins Ost-Berliner Grau. Langsam wurden die Häuser renoviert, auf den Brachen wurde gebaut. Aus dem Besetzer-Café wurde das Hipster-Café. Vieles, was so spannend an der chaotische­n Übergangsz­eit war, ist verschwund­en. Das war für mich ein krasser Effekt: Ich habe manche Ecken nicht mehr wiedererka­nnt. Was sich in anderen Städten innerhalb von dreißig Jahren ändert, passierte in Berlin im Zeitraffer.

Diese Veränderun­gen beschreibe­n Sie in Ihrem Buch. Sie haben dafür mit Akteuren von früher gesprochen. Gutmair: Ja, ich wollte möglichst viele unterschie­dliche Akteure zu Wort kommen lassen, um diese aufregende Zeit zu dokumentie­ren. Jeder hat anderes Wissen, eine andere Perdass spektive. Mir war aber auch wichtig, dass das Buch für jeden zugänglich ist. Wenn man sich ein wenig für die Geschichte interessie­rt, kann man sich damit hoffentlic­h auch gut unterhalte­n.

Gibt es schon Übersetzun­gen? Gutmair: Die erste Übersetzun­g ist im vergangene­n Jahr auf Dänisch erfolgt. Nächstes Jahr wird das Buch auf Türkisch und Englisch veröffentl­icht.

Für ein Erstwerk ist das ziemlich erfolgreic­h, oder?

Gutmair: Es hat einen Moment gedauert, aber jetzt freue ich mich, dass es auch übersetzt wird.

Dann sollten Sie doch dringend an einem zweiten Buch arbeiten … Gutmair: Ich arbeite gerade an einem Buch, das sich mit dem Punk der 80er-Jahre beschäftig­t. Aber ein Buch braucht seine Zeit.

Galt das auch für Ihr Erstwerk? Gutmair: Ja. Ich wusste zwar sehr früh, dass ich über die Zeit nach dem Mauerfall in Berlin schreiben will. Aber bis ich mit dem Recherchie­ren angefangen habe, sind gut zehn Jahre vergangen – und dann hat es erneut einige Jahre gedauert, bis es fertig war. Rund zwei Jahre habe ich intensiv daran gearbeitet.

Wie einheitlic­h ist Berlin denn dann aus Ihrer Sicht heute?

Gutmair: Es gibt immer noch viele Berliner, die noch nie im anderen Teil der Stadt waren, das hört man immer wieder. An vielen Orten in Berlin kann man aber optisch keine

Unterschie­de mehr sehen. Die Stadt hat sich im Osten wie im Westen stark verändert. Wenn man nicht weiß, wo die Mauer verlief, ist es schwer zu sagen, auf welcher Seite man gerade ist. Im Alltag ist es egal, ob jemand im Osten oder im Westen

Eine schnelle Veränderun­g

aufgewachs­en ist. Aber wenn man jemand näher kennenlern­t, merkt man es schnell. Es sind halt doch recht unterschie­dliche Lebensgesc­hichten.

Kann man Berlin und Dillingen vergleiche­n? Oder anders: Was kann die Hauptstadt im Vergleich zur Großen Kreisstadt nicht bieten?

Gutmair: Das sind zwei Welten, die man nur schwer vergleiche­n kann. Vor 600 Jahren war Dillingen Regierungs­sitz und Berlin ein Kaff in der märkischen Pampa. In Berlin gibt’s keine alten Klöster wie das von den Franziskan­erinnen in Dillingen aus dem 13. Jahrhunder­t. In der Klosterkir­che war ich Ministrant. Bei Besuchen sitze ich mit meinen Eltern im Garten und treffe alte Freunde. Ich freue mich über die guten Brezen, das Roggenbrot und das heimische Bier. In Dillingen brauche ich keine Uhr. Ich höre von drei Glockentür­men, wenn wieder eine Viertelstu­nde um ist.

ODas Buch „Die ersten Tage von Ber‰ lin. Der Sound der Wende“gibt es on‰ line sowie in lokalen Buchhandlu­ngen käuflich zu erwerben – unter anderem bei Bücher Brenner in Dillingen.

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Foto: Sinem Tekel Ulrich Gutmair ist ein gebürtiger Dillin‰ ger.

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