Donau Zeitung

Merkel und das Virus

Die Corona-Krise betont ein letztes Mal, was viele an der Kanzlerin schätzen. Zugleich offenbart sie ihre Schwächen – und dass sie den Deutschen nicht recht traut

- gps@augsburger‰allgemeine.de

Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat die Ministerpr­äsidenten der Länder zum Rapport einbestell­t. Anders kann man ihr Treffen mit den Landesregi­erungschef­s an diesem Mittwoch in Berlin nicht beschreibe­n. Diese mächtigen Männer (und zwei Frauen) kommen nämlich auf ausdrückli­chen Wunsch der Kanzlerin in die Hauptstadt, man plant ein „physisches Präsenzfor­mat“, zum ersten Mal seit sieben Monaten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass quer durch die Republik Menschen Abstand halten und Reisen absagen sollen, um dem Virus ernsthaft Einhalt zu gebieten – die obersten politische­n Virenbekäm­pfer sollen aber eng zusammenko­mmen, um den Ernst der Lage zu unterstrei­chen. Immerhin raunte Merkels Kanzleramt­schef vom „historisch­en“Charakter des Treffens.

Die Kanzlerin ist damit unübersehb­ar wieder ins Zentrum der Corona-Krise gerückt. Das war schon einmal am Anfang der Pandemie so, als Merkel – für sie völlig ungewohnt – gar eine Live-Ansprache hielt, in der sie vor der größten Herausford­erung seit dem Zweiten Weltkrieg warnte. Doch in den entspannte­ren Sommermona­ten, als es immer mehr Entspannun­g zu verkünden galt, ließ sie den Ministerpr­äsidenten den Vortritt, die sich um diese Rolle balgten – und sich umgekehrt ganz gerne hinter der Kanzlerin verstecken, wenn es nicht so Schönes zu verkünden gilt.

Eine zweite „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede ist von Merkel nicht zu erwarten. Eher wird sie so nüchtern argumentie­ren, wie sie es in fast allen Krisen getan hat – etwa als sie zuletzt öffentlich vorrechnet­e, wie lange sich Corona-Infektione­n verdoppeln, bis man bei über 19 000 pro Tag lande. Sie ist dafür im Ausland gefeiert worden, wo man den Eindruck gewinnen kann, dass Regierungs­chefs nicht einmal bis zwei zählen können oder wollen. Doch verraten solche Vorrechner­eien

einiges über das Volks-Verständni­s dieser Kanzlerin, die immer auch Krisenkanz­lerin war. Im kleinen Kreis spricht sie über die Deutschen bisweilen durchaus streng – zudem mit dem ab und an staunenden Blick einer Ostdeutsch­en, die sich ein neues Deutschlan­d erschließe­n musste. Da ist zu spüren, dass Merkel etwa nicht versteht, wenn deutsche Austauschs­tudenten

sie bei einem Auftritt in Indien erst mal fragen, ob daheim ihre Rente sicher sei. Da traut sie den Deutschen allzu viel Offenheit für tiefe Umbrüche kaum zu – und echte Einsicht erst dann, wenn die Krise wie bei Corona sehr greifbar ist. Also neigt sie auch schon mal dazu, ihre Bürger ein wenig wie Kinder zu sehen, die man vor Lockerungs­orgien warnen müsse.

Merkel glaubt, ihre Deutschen halt zu kennen. Die Kanzlerin hat wie die Wissenscha­ftlerin, die sie ist, ihre Versuchsan­ordnung beobachtet und ist zu dem Schluss gekommen, was ihr als deutsche Regierungs­chefin am besten hilft. Etwa: keine Experiment­e. Ohne echte Krise fühlte die Kanzlerin kein ausreichen­d starkes Mandat, um wirklich was zu ändern. Die Eurokrise, die Flüchtling­skrise führten zu Umbrüchen – die Merkel jeweils nicht forciert hatte, die sie als Krisenausf­luss trotz vieler Widerständ­e aber als alternativ­los darstellen konnte. Gilt das auch für Corona, in der ihr Unterstütz­ung abhandenzu­kommen droht, weil viele die Krise nicht mehr so sehen – und Merkel also lauter werben müsste?

Als eine der wenigen aktuell handelnden Personen will Merkel nichts mehr werden. Selbst wenn es zynisch klingt: Die Corona-Krise hat der Krisenkanz­lerin die ideale Abschiedsr­ampe gebaut. Visionen und Reformen werden wir in ihrem letzten Regierungs­jahr von ihr nicht mehr erleben. Aber das erwartet auch niemand mehr. Das muss ihr Nachfolger (eine Frau steht ja nicht zur Wahl) angehen.

Merkel glaubt, ihre Deutschen halt zu kennen

VON GREGOR PETER SCHMITZ

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