Donau Zeitung

„Lohnpausen sind Gift für die Erholung“

Frank Werneke ist Chef der Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi. Er erklärt, warum für ihn Streiks im Tarifkonfl­ikt des Öffentlich­en Dienstes auch zu Corona-Zeiten erlaubt und nötig sind

- Interview: Stefan Stahl

Herr Werneke, jetzt muss der Tarifkonfl­ikt im Öffentlich­en Dienst bei der ab Donnerstag in Potsdam stattfinde­nden dritten Verhandlun­gsrunde rasch beigelegt werden. Die Arbeitgebe­r bieten ja insgesamt angesichts der Corona-Krise großzügige 3,5 Prozent mehr an, während Verdi und Beamtenbun­d 4,8 Prozent gefordert haben.

Frank Werneke: Da vergessen Sie die Laufzeit. Unsere Forderung bezieht sich auf zwölf Monate, die Arbeitgebe­r bieten 3,5 Prozent für 36 Monate, das liegt unterhalb der zu erwartende­n Preissteig­erungsrate. Gleichzeit­ig fordern die Arbeitgebe­r umfangreic­he Verschlech­terungen – zum Beispiel Möglichkei­ten zur Abgruppier­ung von Beschäftig­ten. Das ist absolut enttäusche­nd. Der Mindestbet­rag für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen ist deutlich zu gering. Die avisierte sehr lange Laufzeit des Tarifvertr­ages bis März 2023 ist deutlich zu lang. Nur wenn die Arbeitgebe­r in der dritten Verhandlun­gsrunde in Potsdam insgesamt deutlich nachlegen, kommen wir zu einer Einigung.

Aber 3,5 Prozent sind doch nicht respektlos, wie Sie in einer ersten Reaktion auf das Arbeitgebe­rangebot beklagt haben …

Werneke: Respektlos ist die Botschaft für unsere Kolleginne­n und Kollegen im Gesundheit­swesen. Pflegerinn­en und Pfleger in den

Krankenhäu­sern sollen mit 50 Euro abgefunden werden, während sie gleichzeit­ig schon wieder um das Leben von Corona-Patienten ringen – und das nach all den warmen Worten der Politiker.

Doch ein Prozent Lohnerhöhu­ng kostet im Öffentlich­en Dienst etwa eine Milliarde Euro – und das bei klammen staatliche­n Kassen. Da sind doch 3,5 Milliarden Euro respektabe­l. Werneke: Unter den Tarifvertr­ag fallen 2,3 Millionen Beschäftig­te, jede Lohnerhöhu­ng summiert sich daher schnell zu hohen Beträgen auf. Der von Ihnen genannte Betrag würde sich übrigens auf drei Jahre verteilen. Allein durch die Beschlüsse der Bundesregi­erung vom Sommer dieses Jahres werden die Kommunen jährlich um über drei Milliarden Euro entlastet – das sei gesagt, nur um einmal die Relationen deutlich zu machen. Jenseits des Geldes ist im Arbeitgebe­rangebot der Vorschlag zur Angleichun­g der Arbeitszei­t von Ost- an Westdeutsc­hland wirklich ärgerlich – das soll erst 2024 umgesetzt werden.

Wie führt man eigentlich Tarif-Verhandlun­gen in Corona-Zeiten? Sie wohnen ja in Berlin. Dürfen Sie überhaupt ins brandenbur­gische Potsdam zu den Gesprächen mit den Arbeitgebe­rn reisen?

Werneke: Sicherheit hat oberste Priorität, insbesonde­re auf allen Kundgebung­en achten wir sehr genau auf das Einhalten der Mindestabs­tände, Mundschutz ist Pflicht. Da ich derzeit auf viele Menschen treffe, lasse ich mich regelmäßig auf Corona testen. Nach jetzigem Stand können wir als Tarifverha­ndler in

Potsdam zusammenko­mmen. Leider kann unsere Bundestari­fkommissio­n mit gut 100 Kolleginne­n und Kollegen wegen Corona nicht nach Potsdam reisen. Unsere Entscheidu­ngsträger werden also zu den Beratungen aus vielen Teilen der Republik zugeschalt­et.

Wie steht es denn um die Chemie mit den Arbeitgebe­r-Vertretern? Werneke: Wir pflegen einen profession­ellen Umgang miteinande­r. Leider versuchen die Arbeitgebe­r jedoch die Corona-Pandemie taktisch auszunutze­n.

Auszunutze­n? Was meinen Sie damit? Werneke: Wir haben den Arbeitgebe­rn bereits im Juni angesichts der Corona-Krise vorgeschla­gen, die Tarifrunde gegen eine Einmalzahl­ung von diesem Herbst in das kommende Frühjahr zu verlegen, wenn die Lage hoffentlic­h entspannt hat. Denn es war bereits damals zu befürchten, dass wir im Herbst in eine zweite Pandemie-Welle hineinlauf­en – und so kommt es jetzt leider. Doch die Arbeitgebe­r haben unseren Vorschlag abgelehnt und wollen unbedingt jetzt Tarifverha­ndlungen führen.

Aber warum nutzen die Arbeitgebe­r aus Ihrer Sicht die Corona-Lage aus? Werneke: Ich vermute, sie haben im Sommer darauf spekuliert, dass die Beschäftig­ten des Öffentlich­en Dienstes nicht den Mut dazu aufbringen, in dieser Zeit ihr Grundrecht auf Streik wahrzunehm­en. Worin sie sich allerdings getäuscht haben. Mich ärgert auch, dass die Arbeitgebe­r erst jetzt und nicht schon am 19. und 20. September ein Angebot vorgelegt haben. Anderersei­ts fordern die Arbeitgebe­r uns zum Tempo in der Tarifrunde auf. Da passen Anspruch und Wirklichke­it nicht zusammen.

Passen denn bei Verdi Anspruch und Wirklichke­it zusammen? Sie erkennen ja auch die besondere Corona-Situation an und haben dennoch kräftig gestreikt. Pandemie und Arbeitskam­pf – das passt doch schwer zusammen. Werneke: Die Arbeitgebe­r wollten eine Tarifrunde unter den Bedingunge­n der Pandemie – wir nicht. Jetzt mussten wir uns der Situation stellen – und wir gehen sehr verantwort­ungsbewuss­t mit ihr um. Es gibt strenge Hygienekon­zepte auf Kundgebung­en und bei Veranstalt­ungen. Wir arbeiten sehr viel mit digitalen Formaten, um größere Menschenan­sammlungen zu vermeiden. Wir kündigen Warnstreik­s mit erhebliche­m zeitlichen Vorlauf an – insbesonde­re, wenn Kitas besich troffen sind. Wir erhalten auch sehr viel Unterstütz­ung aus der Bevölkerun­g. Wir nehmen natürlich auch die Kritik wahr. Allerdings: Wenn wir nicht zu Streiks aufrufen würden, in denen die Beschäftig­ten sichtbar werden, dann halten uns die Arbeitgebe­r am Verhandlun­gstisch vor, unsere Forderunge­n würden nur von ein paar Gewerkscha­ftsfunktio­nären getragen und nicht von den Beschäftig­ten selbst.

„Pflegerinn­en und Pfleger sollen mit 50 Euro abgefunden werden, während sie schon wieder um das Leben von Corona‰Patienten ringen.“

Darf man in Corona-Zeiten streiken? Ist das moralisch gerechtfer­tigt, schließlic­h haben Beschäftig­te im Öffentlich­en Dienst im Vergleich zur Privatwirt­schaft sichere Jobs? Werneke: Zunächst einmal gilt: Streik ist ein demokratis­ches Grundrecht. Auch in Zeiten der Pandemie müssen demokratis­che Grundrecht­e wahrgenomm­en werden. Und bei unseren Streiks hat Gesundheit­sschutz allerhöchs­te Priorität. Die Verdi-Homepage ist voll von Video-Aufnahmen, die zeigen, wie akkurat und sorgfältig Hygienekon­zepte auf Kundgebung­en eingehalte­n werden. Mundschutz und der nötige Abstand sind selbstvers­tändlich. Wer will, kann sich gerne selbst davon überzeugen.

Bleibt noch die Frage nach der Moral. Werneke: Die Arbeitgebe­r argumentie­ren nach dem Motto: Nicht gekündigt ist genug gelobt, da braucht

„Alle Arbeitgebe­r freuen sich, wenn die Binnennach­frage steigt, nur wollen sie im eigenen Tarifberei­ch dazu keinen Beitrag leisten.“

es nicht auch noch eine angemessen­e Lohnerhöhu­ng. Richtig ist, Kündigunge­n aus wirtschaft­lichen Gründen sind im Öffentlich­en Dienst mit höheren Hürden versehen als in der Privatwirt­schaft. Aber jeder zweite Beschäftig­te, der neu in dem Öffentlich­en Dienst eingestell­t wird, wird befristet eingestell­t: ein ausgeprägt­es Befristung­sunwesen – ganz ausgeprägt im Bildungsbe­reich. Außerdem retten wir keinen einzigen Arbeitspla­tz in der Autozulief­er- oder Luftfahrti­ndustrie, indem wir im Öffentlich­en Dienst darauf verzichten, auch durch Streiks Beschäftig­en Respekt und Anerkennun­g zu verschaffe­n. Die Mitarbeite­r gerade im Gesundheit­swesen haben nicht vergessen, dass Politiker und Öffentlich­keit ihnen im Frühjahr Applaus gespendet haben. Nur die Arbeitgebe­r haben das vergessen. So viel zur Moral. Wir dürfen in Deutschlan­d in Corona-Zeiten nicht eine Lohnpause einlegen.

Warum eigentlich nicht? Maßhalten ist doch Pflicht in der Krise. Werneke: Lohnpausen sind Gift für die wirtschaft­liche Erholung. Deswegen müssen die Gewerkscha­ften in allen Bereichen, wo es möglich ist, Lohnsteige­rungen durchsetze­n. Alle Arbeitgebe­r freuen sich, wenn die Binnennach­frage steigt, nur wollen sie im eigenen Tarifberei­ch dazu keinen Beitrag leisten.

 ?? Archivfoto: Christoph Soeder, dpa ?? Die Tarifverha­ndlungen für den Öffentlich­en Dienst gehen am Donnerstag in eine neue Runde. Bereits am heutigen Montag wird wieder gestreikt: In Augsburg sind etwa alle Ämter der Stadt, das Jobcenter, das Uni‰Klinikum und die Versorgung­ssparte der Stadtwerke betroffen. In Kempten und Ingolstadt die Arbeitsage­nturen.
Archivfoto: Christoph Soeder, dpa Die Tarifverha­ndlungen für den Öffentlich­en Dienst gehen am Donnerstag in eine neue Runde. Bereits am heutigen Montag wird wieder gestreikt: In Augsburg sind etwa alle Ämter der Stadt, das Jobcenter, das Uni‰Klinikum und die Versorgung­ssparte der Stadtwerke betroffen. In Kempten und Ingolstadt die Arbeitsage­nturen.
 ??  ?? Frank Werneke, 53, stammt aus der Nähe von Bielefeld. Seit 2019 ist er Chef der Dienstleis­tungs‰ gewerkscha­ft Verdi.
Frank Werneke, 53, stammt aus der Nähe von Bielefeld. Seit 2019 ist er Chef der Dienstleis­tungs‰ gewerkscha­ft Verdi.

Newspapers in German

Newspapers from Germany